26. Tage der deutschsprachigen Literatur

Eine Veranstaltung der Landeshauptstadt Klagenfurt und des ORF Landesstudios Kärnten in Zusammenarbeit mit 3sat und freundlicher Unterstützung der Telekom Austria.

Tage der deutschsprachigen Literatur 2002 - die aktuellen Informationen

Helga GlantschnigText

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Verschollen

Sie spuckte in die Tiefe. Sie stand auf dem von dem Gestänge begrenzten Viereck, die Hände umklammerten die schmale Eisenstange, sie stand wie festgeschraubt, mit vorgeschobenem Kopf starrte sie auf den mehrere Stockwerke in die Tiefe fallenden Innenhof hinunter; zwischen Pfosten gespannte, unbehängte Wäscheleinen, eine Reihe von Müllcontainern, diverser Unrat, in der Mitte ein freies betoniertes Feld.
Sie war vom Arbeitsplatz in die Wohnung heimgekehrt, hatte sich die Ansichtskarte, die sich im Postfach befunden hatte, besehen; sinnlos, war es ihr durch den Kopf geschossen; nach dem Verstauen der Karte hatte sie unverzüglich die Schritte zum nahegelegenen Altbau mit der Dachkammer gelenkt, die sie während ihrer Streifzüge aufgespürt hatte. Der Zeitpunkt ließ sich nicht mehr verschieben, seit Wochen quälte sie derselbe Gedanke. Das Ende der Frist war erreicht, unaufhaltsam. Das Wochenende stand bevor. Sie mußte das Ziel, den nächsten Arbeitstag nicht zu erleben, definitiv verfolgen. Höchstens drei Tage Zeit für die Vollstreckung.
Es gab niemanden, dem das Verschwinden unmittelbar auffallen würde. Erst am Abend, am nächsten Morgen, wenn sie, nach mehrmaligen Anrufen das Telefon nicht abhöbe, würde man ihre Abwesenheit wahrnehmen und Verdacht schöpfen; unbedingtes Stillschweigen bewahrt, keiner Person die Absicht verraten, wiewohl ihre Krise bekannt war; niemand in der Umgebung könnte die Gefährdung einschätzen.
Sie bereitete, als sie unverrichteter Dinge in die Kammer zurückgetreten war, inmmitten des Gerümpels ein Lager, indem sie die vorhandenen Kartons auf den Boden legte. Umgeben von bleierner Stille, kauerte sie, mit Hose, Pullover und Lederjacke bekleidet, auf der Pappe, den Kopf auf die großformatige Tasche gebettet, die als Unterlage diente. Sie sagte sich nach einiger Zeit vor, daß sie aufstehen müsse. Sie zögerte es hinaus, wollte sich nicht wegrühren; sie lag zusammengekrümmt, zu einem Klumpen geballt; sie war untergetaucht, von der inneren in die äußere Verschollenheit übergewechselt.
Als die Dämmerung hereinbrach, schaute sie auf die Armbanduhr, setzte sich eine Frist bis zur nächsten vollen Stunde. Zum anstehenden Zeitpunkt erhob sie sich. Die Tasche bleibt zurück, dachte sie, die Tasche bleibt zurück. Sie öffnete die mit einer Glasscheibe versehene Tür, begab sich nach draußen; sie blickte wie blind vor sich hin, sie blickte auf nackte Brandmauern, trübe Fensterluken, auf die Rückseiten von Wohnungen, die etwas tiefer lagen. Die Stelle, an der sie stand, nicht einsehbar.
Sie klammerte die Finger der linken Hand um das Gestänge, hob ein Bein, stellte es auf der anderen Seite nieder, positionierte die rechte Hand, stieg mit dem zweiten Bein darüber; sie stand auf dem schmalen Rand des Mauervorsprungs, auf dem die Füße leicht schräggestellt Platz hatten; sie stand auf einem Grat; das Gesicht zum Geländer gewandt, schaute sie zwischen den Beinen hinunter in den Schacht. Sie schob mit der Schuhspitze einen kleinen Stein in die Tiefe, vom Geräusch des Falls glaubte sie das Echo zu hören. Danach vernahm sie nichts, nichts über ihr, nichts unter ihr, sie spürte nichts, nicht den Körper, nicht die Beine, nichts zog sie nach unten, nichts hielt sie fest.
Sie stieg zurück, nistete sich ein, mit dem Vorsatz, in einer Stunde wieder an die Rampe zu treten. Sie stellte sich den Sprung vor, einen Sturz in die Dunkelheit, unendlich langsam vornüberfallend, der Länge nach auf dem Boden aufprallend, mit einem Schrei, der durch alle Wände, Decken und Fußböden dränge. Sie sah sich fallen, sah sich immer wieder von neuem fallen, einen Bewegungsablauf im Zeitlupentempo, als wäre der Erdboden unendlich weit fort, als würde die Bewegung nie zum Abschluß kommen oder als hätte der Hof nicht genügend Tiefe, um sie aufzunehmen, sie sah sich fallen, als ließe sie Teile von sich zurück, sie dachte, daß sie vornüberfallen müsse, kopfabwärts, mit dem Kopf voraus, vorausstürzen, daß der Schädel zerschmettere, sie dachte, sie müßte mit Schwung den Körper hochreißen und kopfüber hinabschnellen, wie von einem Sprungbrett in ein Schwimmbecken. Der Sprung im Verstand, der nötig ist.
Das Aufschlagen auf dem Beton, das Aufplatzen, Ausbluten, das dunkle, warme Blut, das aus dem Mund quillt. Sie stellte sich vor, wie sie sich lebend vorfände, ehe der Schmerz einsetzt, unter dem der Körper sich krümmt, noch ehe er ihn fühlt. Der winzige Bruch, der momentane Schrecken ohne Wahrnehmung, bevor sich alles vermischt. Sie sah sich liegen, mit gelähmten Gliedern, verstümmelt oder äußerlich unversehrt, nur ein wenig Blut um die Nase. Sie dachte, daß die Aktion, wenn sie nicht mit dem Kopf vorausspringe, mißlingen würde. Angst vor Todeszuckungen, vor dem Todeskampf, vor lebenslangem Krüppeldasein.
Entschlossen, zu ihrer eigenen Mörderin zu werden, fragte sie sich, wie die Welt nach ihrer Tat aussehen würde. Man würde sie sofort finden, vermutlich. Die Leiche, wie versteinert in der Haltung verharrend, in der der Körper vom Tod ereilt worden war. Sie glaubte nicht an den Schimmer heiterer Reinheit, den die Gesichter angeblich nach dem Tod annehmen, friedlich, enthoben, nicht ihr Gesicht.
Kein Schutzengel wollte sie mit seinem Mantel vor der Gefahr abschirmen, wie sie sich ihn als Kind als Schattengefährten an der Seite vorgestellt hatte, wenn sie über die wackelige Brücke einer Schlucht ging, bedacht, den Fuß nicht zwischen die Holzsprossen zu setzen, der unter den Füßen drohende Abgrund, die schlagartige Erleichterung, wieder festen Boden zu spüren. In ihrer Kindersicht konnten die Toten vom Himmel aus die Vorgänge auf der Erde verfolgen.
Der abgelebte Name auf dem Zettel mit dem Trauerrand, der unbestattbare Name auf den Trauerschleifen, Trauerflor. Das Kleid, mit dem man sie in den Sarg betten würde, das Kleid nicht verrückt. Das Eingesenktwerden in die Erde, das Knirschen der Seile, das Aufstoßen auf dem Boden, die erste Schaufel Erde, die kurzen Geräusche der auf das Holz prasselnden Erdschollen. Das Suchen der Begräbnisgänger nach den passenden Worten, die das Beileid ausdrücken. Kein Abschiedsbrief würde ein konkretes Motiv liefern.
Sie lag mit geschlossenen Lidern auf dem Karton, verankert in einem Sperrungszustand, etwas hielt sie gefangen, das sie in keine Bewegung, in keinen Gedanken umsetzen konnte. Sie schob die Stunde von Stunde zu Stunde auf, verharrte in der zusammengekrümmten Position. Sie bestand nur aus Warten vor der nächsten Stunde und dann der nächsten und dann der nächsten. Sie hörte den Wind an den Dächern zerren, es hatte zu regnen begonnen. Die Kräfte entwichen, als bestünde an ihrer Stelle nur noch eine leere Hülle, neben der sie von Stunde zu Stunde auftauchte, um sogleich wieder abzusinken, eingeschlossen in einem halben Grab. Die Körpersäfte vermindert, Zungentrockenheit, trockene Augen, kein Schluchzer stieg auf, Träne, der Magen ausgehöhlt, die Beine hölzernkalt, die Arme festgewachsen in Schlingen.
Eine Anstrengung, eine gewaltige Anstrengung. Sie entzifferte die Uhrzeit, richtete sich, weit nach Mitternacht, auf, blieb vor der Tür ins Freie stehen, drückte die Hände auf die schmutzige Scheibe, der Himmel vom Widerschein der Lichter schwach erhellt. Sie stand wie angewurzelt, dann öffnete sie die Tür. Der Wind fuhr ihr ins Gesicht, der Regen hatte aufgehört. Sie blickte in Richtung Zinshaus, in dem sich ihre Wohnung befand. Mit ein paar Schritten hatte sie die Entfernung durchmessen. Sie stützte sich am Geländer ab; sie spürte den Drang im Kreuz, im Genick, in den Kniekehlen, er stachelte sie an, forderte sein Recht; sie hob das linke Bein über das Geländer, plazierte den Fuß, um mit dem anderen zu folgen; sie stand zuerst mit dem Rücken zur gegenüberliegenden Wand, drehte sich vorsichtig um, wobei sie eine Hand kurz lösen mußte; sie hielt den Körper hinaus ins Leere, die Finger um die Eisenstange gekrampft, hing sie über dem Hof, an einem Faden, das Körpergewicht lagerte in den Handgelenken. Die Tiefe schaute sie unverwandt an. Die Schwelle zum Tod.
Sie machte kehrt, verrammelte sich, deckte die Beine mit Kartonstücken zu, rollte sich so klein wie möglich zusammen. Ein unbezwingbares Gewicht auf ihr. Der Zustand mit keinem Verlassenheitsgefühl zu vergleichen. Alles hatte sich in einen Hintergrund zurückgezogen, in dem die Bilder ausgelöscht und die Bedeutungen vernichtet waren. Das Leben nicht zu Ende, der Tod nicht da. Das Pochen des Nichts. Sie hielt sich den Augenblick vom Leib, in dem sie sich hätte den Anstoß geben müssen, unfähig, sich zu regen. Die Stille umgab sie wie ein Todesstreifen.
Von irgendwoher war Bewegung gekommen. Steif erwachte sie, Helligkeit bohrte sich in die Augen. Noch ehe sie sich orientiert hatte, hörte sie näherkommende Schritte, dann das Öffnen der Tür. In Sekundenschnelle war sie auf den Beinen, während sie die Tasche ergriff, wurde sie von der schimpfend gestikulierenden Frau, die glaubte, eine Obdachlose aufgestört zu haben, verscheucht. Sie eilte treppab, schaute sich nach dem Verlassen des Hauses nach allen Seiten um, mit dem Gefühl, einer Falle entronnen zu sein, jäh ins Bekannte gestürzt. Das Herausgerissenwerden hatte ihr einen leichten Impuls versetzt, ein Anflug von Erleichterung durchzuckte sie.
Die Wochenendruhe schützte ihre Schritte durch die Gasse. Sie schlüpfte in eine Telefonzelle, um Luft zu holen, zu überlegen, wie weiter. Sie vermutete, daß man ihr Verschwinden bereits registriert hatte, ihr Sich-nicht-Melden am Telefon. Sie richtete die Haare, nahm den Taschenspiegel zur Hand, kontrollierte das Aussehen, als hätte etwas Auffallendes an ihr bemerkbar sein können, die Todesabsicht am Gesicht ablesbar. Den Eindruck einer Verwirrten machte sie nicht. Aber das Aufblitzen von Lebendigkeit verflogen. Sie mußte die Wiederholung suchen. Vorhanden, nicht vorhanden, sie zählte sich schon mehr zu den Nicht-Vorhandenen. Ihr wurde klar, daß sie nicht in dasselbe Haus zurückkehren konnte, abgesehen davon, daß sich das Tor am Wochenende nicht durch Drücken der Kingeltaste der Arztpraxis öffnen ließ.
Da sie nicht die geringste Ahnung hatte, wohin, irrte sie auf den Gehsteigen des Viertels herum. Während des Vormittags belebte sich die Hauptstraße. Sie ging eine Weile stadtauswärts, kehrte um, fragte sich, wo sie eintreten könne, um ein wenig zu rasten. Sie zog ein chinesisches Restaurant in Erwägung. Die Möglichkeit einer zufälligen Begegnung mit einem bekannten Gesicht erschreckte sie, die Furcht, angesprochen zu werden. Das Mittagsgeschäft noch nicht im Gang, die Tische unbesetzt. Sie bestellte Mineralwasser und eine Frühlingsrolle. Nach dem Zahlen suchte sie die Toilette auf, verzichtete auf das Händewaschen.
Sie verbrachte den Spätoktobernachmittag in einem Park, man konnte sich noch auf Bänken aufhalten. Sie wechselte öfters den Platz, spähte um sich, betäubt von der Anspannung, der Frage, wie weiter. Der Druck wuchs, die Frist um einen Tag geschrumpft. Ihr kam der Gedanke, daß sie die Nacht in der Wohnung überdauern könnte, am darauffolgenden Morgen hätte sie noch einen Tag, eine Nacht.
Stundenlang strich sie am Abend an den Fassaden entlang, bevor sie sich dem Zinshaus näherte. Sie umkreiste mehrmals den Häuserblock, blieb nach jeder Runde in einem toten Winkel, der sie vor dem direkten Einfall der Straßenbeleuchtung verbarg, stehen; sie wandte die Augen zu den dunklen Fenstern hinauf, wagte nicht, das Haustor aufzusperren; jemand könnte die Polizei alarmiert und sich Zutritt zur Wohnung verschafft haben. Sie unternahm eine zusätzliche Runde. Die Zimmer blieben unbeleuchtet, so daß sie beschloß, hinaufzugehen. Nichts Auffälliges, sie fand alles in dem Zustand vor, wie sie die Wohnung verlassen hatte. Sie ging aufs Klo, einen Moment überlegte sie, ob sie die Unterhose wechseln sollte; sie schaute flüchtig in den Garderobenspiegel, fühlte sich wie die Zuschauerin ihrer selbst, in einem unrechtmäßig eingenommenen Körper. Angezogen legte sie sich aufs Bett, ohne sich der Schuhe zu entledigen. Alsbald schrillte das Telefon, es schrillte, schrillte, schrillte; sie rührte sich nicht, wartete in der Dunkelheit, bis das Läuten verstummte. Nach einer Weile gellte es wieder. Mit Insistenz versuchte man sie zu erreichen, sie stopfte die Polsterzipfel in die Ohren, die Anrufe hörten auf. Sie mußte die nächsten Stunden totschlagen, beabsichtigte, die Nacht im Wachzustand zu verbringen. Unentwegt überlegte sie, wie sie am nächsten Tag in geeignete Häuser eindringen könnte. Ab und zu würde man ihr auf den Vorwand hin, den Schlüssel vergessen zu haben, öffnen, dieser Gedanke beruhigte sie vorübergehend, dann wieder die Anstrengung, nicht einzuschlafen, der quälende Sog.
Das Schellen des Telefons riß sie aus dem Schlaf, es dämmerte ihr, daß sie sich davonmachen mußte. Sie zog die Bettdecke gerade, um die Spuren zu verwischen, schlich sich aus der Wohnung, gepeinigt vom Gedanken, endgültig verschwinden zu müssen, endgültig. Mit unsicheren Schritten ging sie bis zur ersten größeren Straße. Sie spürte die Müdigkeit nicht, oder vielmehr war sie seit Wochen ein Teil von ihr, daß sie sie nicht wahrnahm, ebensowenig wie sie Hunger oder Durst verspürte. Über den Dächern hing der Herbsthimmel, bleich und zäh.
Sie betrat eine Konditorei, die sie von außen kannte. Die Bestellung gelang wie beiläufig. Ihr fiel auf, daß sie gesprochen hatte. Sie rührte mit dem Löffel im Kaffee, blätterte in Illustrierten, in einem fort bemüht, Entspannung vorzutäuschen. Sie begriff, daß der Körper alle möglichen Tricks hatte, die ihn im entscheidenden Moment zurückhielten; sie mußte den Körper mit dem Rest des Verstandes hintergehen; sie hatte eine allerletzte Frist, ein Ultimatum: der Beginn der Arbeitswoche. Wenn sie unentschuldigt nicht erschiene, würde ihr Vermißtsein öffentlich werden. Unumkehrbares Eingeständnis der Unbrauchbarkeit.
Auf der Hauptstraße flanierten die Sonntagsspaziergänger. Einmal glaubte sie, ihren Namen gehört zu haben, als hätte sie ein Gerufenwerden erwartet. Sie ging und ging und kam kaum vorwärts; sie bewegte sich wie auf blanken Eisschollen, schwankend von einer zur anderen, während sie unter ihr wegsprangen; sie konnte nirgendwohingehen, höchstens immer weitergehen, ein Beinahe-Mensch, ein Gerade-noch-Mensch, eine Scheinlebendige.
Sie begab sich in die Halle des Umsteigebahnhofs, streunte durch die Seitengänge des verzweigten Gebäudekomplexes. Der niedrige Schlauch von Imbißständen und Buden flankiert, vor dem Blumenladen wurde schon der Grabschmuck offeriert. Bratwurstrauch, Bierdunst, Zigarettenqualm, alles denkbar normal, zugleich stand alles unter Überwachung. Um die Polizisten machte sie einen weiten Bogen. Sie hielt sich im Umfeld jener auf, die den Abfall aus den Mülltonen gabeln, das angefaulte Obst und Gemüse von den Marktständen essen; sie gehörte weder zu den Passanten noch zu den Randexistenzen, noch zu den Wartenden, die in einem Seitengang zwischen ihrem Gepäck auf- und abgingen. Sie hockte sich auf das Drehgestell hinter dem halblangen Vorhang der Fotoautomatenkabine, vor jeglichen Blicken geschützt, die Arme über den angezogenen Knien verschränkt, gönnte sie sich eine Pause.
Als es sie wieder durch die Gassen trieb, schaute sie die Häuser empor, drückte mehrmals an Klingelknopftasten. Wenn sich jemand meldete, vermochte sie nichts zu sagen. Einmal wurde Einlaß gewährt, ohne daß man durch die Sprechanlage nachfragte. Sie verschanzte sich zunächst in einer Nische auf der Kellertreppe, stieg dann die Stufen hoch, bis zum letzten Absatz. Die Tür zum Dachboden versperrt. Aus einer der Wohnungen vernahm sie eine Familie, die beim Nachtmahl saß, durcheinanderredende Kinderstimmen, kurz ließ sie sich an der Geländergrenze nieder.
Die Flucht, die sie schlug, war eine Flucht im Kreis. Am fortgeschrittenen Abend nahm sie im Nebenraum eines Studentenlokals Zuflucht, bestellte eine Kleinigkeit, von der sie keinen Bissen bewältigte. Sie wußte nicht, was tun. Ihr kam in den Sinn, daß sie am nächsten Morgen in das Eckhaus hinein könnte, in dem sie im Verlauf ihrer Streifzüge eine weitere Rampe ausfindig gemacht hatte. Sie saß im verrauchten Lokal, umzäunt von Schweigen, einem Schweigen, das nichts zu erschüttern vermochte, die Geräusche zu wortlosem Rauschen verbunden, die anderen wie hinter Gitterstäben, getrennt durch einen unüberwindbaren Graben. Als sie jemand um eine Zigarette fragte, schüttelte sie den Kopf. Auf dem Ziffernblatt der Uhr spielte sich die Vernichtung der noch verbleibenden, dem Ende entgegenhämmernden Zeit ab, wuchernde Ausweglosigkeit.
Gegen Mitternacht brach sie auf. Unweit ihrer Wohnung entdeckte sie einen verschalten Nebeneingang, der mit Holzläden zu verschließen war, einen Schlupfwinkel, in dem sie sich für den Rest der Nacht verstecken konnte. Sie zwängte sich an die Mauer, zog die Läden zu, die Tasche unter dem Gesäß, kauerte sie eingekeilt. In dieser Haltung hockte sie einige Stunden im Wachzustand, die Luft legte sich wie ein kalter Block auf sie; sie spürte die Kälte in die Knochen dringen, eine klebende Maske auf dem Gesicht. Ehe der Morgen graute, rappelte sie sich auf. Sie schleppte sich durch die geschlossenen Häuserzeilen, es drängte sie zum Umsteigebahnhof; sie folgte den Frühaufstehern, die zur Arbeit hasteten; sie wartete den Zeitpunkt des Dienstantritts ab, die grausam in die Länge gezogene Stunde fristend.
Unversehens führten sie die Schritte zum Eckhaus, dessen Tor sich wochentags durch Betätigung der Klingel der Anwaltskanzlei problemlos aufstoßen ließ. Sie durchquerte den Korridor, stahl sich, am vergitterten Liftschacht vorbei, die spiralförmigen Treppen hoch. Auf der obersten Ebene angelangt, stieg sie durch das entriegelte Fenster auf eine Art Außengang, der zu einer vernachlässigten Terrasse führte; sie kletterte über mehrere Leitern auf die höchste erreichbare Plattform der verschachtelten Dachlandschaft, wobei sie über einen schmalen Steg balancieren mußte. An der Kaminmauer legte sie die Tasche ab, dann näherte sie sich der Mauerkante, beugte den Kopf nach vorn, in dieser Stellung blieb sie stehen, auf den Parkplatz hinunterstarrend; kein Geländer, Hemmnis, Hindernis dazwischen; sie trat mehrmals zurück und wieder vor, jeder Schritt begleitet von saugendem Schwindel; sie dachte, daß sie Anlauf nehmen müßte, sie konnte sich nicht stehend den Boden unter den Füßen entreißen, um vornüberzukippen. Im Schutz der Kaminmauer setzte sie sich auf die Fersen, wartete mit dem Rücken an die Mauer gelehnt. Sie brachte es nicht fertig, sich erneut zur Kante vorzutasten; sie schaute auf die Uhr; zur nächsten vollen Stunde. Sie zog sich in das Gangklo zurück, krümmte sich in der Ecke zusammen, als verkröche sie sich in den Ausguß wie ein Tarnung suchendes Insekt; sie stellte sich vor, daß man sie unter den Kollegen bereits zu den Unzurechnungsfähigen zählen würde, abgestempelt für immer, dem normalen Geisteskleid entschlüpft. Auf jeden Fall war es zu spät für alles. Sie verharrte geduckt, lauernd, nach einer Weile hörte sie das Fahrstuhlgitter, das Gleiten des Gitters, das ein Stockwerk tiefer aufgeschoben wurde, hallende Schritte, augenblicklich packte sie die panische Furcht, ertappt, angezeigt, eingeliefert zu werden; sie hielt es nicht aus, verließ das Versteck, entwischte unbemerkt.
Fahlheit tönte Fassaden, Aufschriften, Reklameschilder, die stumpfe Blässe der Blätter, die noch nicht abgefallen waren, Autos in Form von Särgen, in allem sah sie das Schwinden des Lebens, Todgeweihtes, Abgestorbenes. Die Finger krampften sich um die Henkel der Tasche. Mühsam schob sich der Körper voran. Im Kopf trommelte die Frage, wie weiter. Sie betrat die Markthalle, um der Strömung, der sie im Freien ausgesetzt war, zu entrinnen; sie drückte sich zwischen den Ständen herum, ohne die Kisten, Körbe, Säcke mit dem farbigen Inhalt wahrzunehmen. An hohen runden Tischen biertrinkende Männer unter sich. Sie bildete sich ein, von der Inhaberin des Standes beobachtet zu werden, als sei der Frau ein drittes Auge gewachsen, welches sie ohne Unterlaß fixierte; sie entfernte sich, suchte das Weite in der oberen Etage.
Rohe Fleischklumpen, prahlendes Rot, das Rot im blutigen Fleisch, durch das sich die rohen weißen Sehnen ziehen, von Sehnenstreifen durchzogenes Fleisch, Fleischberge an Haken, schwere Pendel auf beiden Seiten des Gangs, das gehängte Fleisch an manchen Stellen von durchsichtiger Haut überzogen, gerupfte Hühner, bläulich angelaufene Kaninchen, auf Platten Kalbsfüße, Kalbsköpfe mit glasigen Augäpfeln, dicke Rinderzungen, schleimige Innereien, Schüsseln voller Kutteln, wabbeliger Lebern und Nieren, weißlicher Hirne, blauvioletter Herzen, Eingeweide zuhauf.
Auf der Straße zog es sie, gehetzt vom unsagbaren Druck, vom Unumkehrbaren, zum höchsten Haus der Umgebung. Der Altbau fiel fünf Stockwerke in die Tiefe. Sie hatte Erfolg, ein Flügel des Tors aufgestemmt. Der zugängliche Dachstuhl ein leerer Speicher, ein ausgehöhlter Schiffsleib, der sich über ihr wölbte, eine umgekippte Arche, in den Ecken Nistplätze von Tauben, Dachritzen boten kleine Öffnungen. Auf dem Absatz neben dem Eingang lagerte eine Truhe.
Sie hockte sich auf den verstaubten Deckel, zog die Jacke ein wenig enger um sich. Der Blick verharrte auf dem obersten Treppenhausfenster, sie mochte ihn nicht davon abwenden, mit Hartnäckigkeit starrte sie auf das Fenster, die Augen auf den Fenstergriff geheftet. Hin und wieder hörte sie das Klirren eines Schlüsselbundes, das Umdrehen des Schlüssels, das Klacken des Schlosses, Hustengeräusche, Schritte treppauf, treppab, jemand blieb stehen, um Atem zu schöpfen, dann fuhr die Person mit dem Treppensteigen fort, die Schritte entfernten sich, die Geräusche erstarben. Sie schaute vor sich hin, Reglosigkeit dämmte in ihrem Körper den Lauf der Zeit. Einmal verspürte sie Harndrang, sie entleerte sich auf den Boden des Dachspeichers. Niemand bewegte sich auf sie zu. Die Arme um die Knie geschlungen, blieb sie regungslos sitzen, den Kopf auf die Knie gestützt, umzingelt vom Schweigen derer, die wirklich gestorben waren.
Das Fensterbrett, die äußerste Grenze, sie spähte nach den Zeigern der Uhr, wartete. Bis zur nächsten vollen Stunde. Noch eine Stunde. Noch eine Stunde. Ein Nichts.
Eine Bewegung, die schon zigmal zuvor begonnen wurde. Die Bewegung zu Ende führen. Sich in den Abgrund ziehen lassen, unauffindbar liegen, erfrieren, an einer Unterkühlung umkommen, mit der Handkante über die Adern im Gelenk sägen; sie wartete, als könnte eine Todesschwester die Entscheidung abnehmen, sie bei lebendigem Leib begraben.
Wie lange währt eine Stunde. Mit jedem Vorrücken der Minuten wurde die Zeit dichter. Die Zeit, die sich staut und preßt. Noch dreißig Minuten. Noch fünfzehn. Noch ließen sich die Minuten in eine trügerische Ewigkeit hinein ausdehnen. Bis zur nächsten vollen Stunde. Der zu Ende gehende Tag wurde von Minute zu Minute kleiner, jede Minute eine Zündschnur, der Sekundenzeiger lief unbeirrt.
Wie oft hatte sie sich gesagt: morgen um diese Zeit gibt es dich nicht mehr, morgen um diese Zeit. Unmöglich. Sie schaffte es nicht, sich den letzten Ruck zu geben. Es ging ihr auf, daß sie nicht springen konnte, daß sie den Punkt ohne Zurück stürzend nie erreichen würde. Sie ergriff die Flucht. Als sie beim Tor hinaustrat, zögerte sie, hielt den Türflügel einen Spalt offen, um wieder zurück zu können. Dann ließ sie den Riegel ins Schloß schnappen. Wie eine Geächtete, wie ein fern von seinem Schlupfloch gesichtetes Tier wurde sie schneller, bog um mehrere Ecken, ohne die Augen vom Boden zu heben. Sie, die Abgängige, war sicher, daß man sie am Ende des vierten Tages ihres Verschwindens für tot hielt. Vielleicht dachte jemand an Mord.
Vom Übermaß der Erschöpfung des Körpers gestoßen, vom schneidend kalten Wind getrieben, steuerte sie unwillkürlich auf das Zinshaus zu. Wehrlos drang sie in ihre vier Wände ein. An den verschobenen Sesseln bemerkte sie, daß sich jemand in der Zwischenzeit darin aufgehalten haben mußte. Auf dem Tisch wartete ein Blatt Papier. Sie identifizierte die Handschrift auf der Stelle; sie las die Zeilen, die von Hoffnung sprachen. Etwas regte sich in ihr. Sie griff ohne Zögern zum Hörer, als wären die Klauen des Nichts ausgerissen mit einem Schlag. Am anderen Ende der Leitung hörte sie fassungslos ihren Namen schreien.

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