Verschollen
Sie spuckte in die Tiefe.
Sie stand auf dem von dem Gestänge begrenzten Viereck,
die Hände umklammerten die schmale Eisenstange,
sie stand wie festgeschraubt, mit vorgeschobenem Kopf
starrte sie auf den mehrere Stockwerke in die Tiefe
fallenden Innenhof hinunter; zwischen Pfosten gespannte,
unbehängte Wäscheleinen, eine Reihe von Müllcontainern,
diverser Unrat, in der Mitte ein freies betoniertes
Feld.
Sie war vom Arbeitsplatz in die Wohnung heimgekehrt,
hatte sich die Ansichtskarte, die sich im Postfach befunden
hatte, besehen; sinnlos, war es ihr durch den Kopf geschossen;
nach dem Verstauen der Karte hatte sie unverzüglich
die Schritte zum nahegelegenen Altbau mit der Dachkammer
gelenkt, die sie während ihrer Streifzüge
aufgespürt hatte. Der Zeitpunkt ließ sich
nicht mehr verschieben, seit Wochen quälte sie
derselbe Gedanke. Das Ende der Frist war erreicht, unaufhaltsam.
Das Wochenende stand bevor. Sie mußte das Ziel,
den nächsten Arbeitstag nicht zu erleben, definitiv
verfolgen. Höchstens drei Tage Zeit für die
Vollstreckung.
Es gab niemanden, dem das Verschwinden unmittelbar auffallen
würde. Erst am Abend, am nächsten Morgen,
wenn sie, nach mehrmaligen Anrufen das Telefon nicht
abhöbe, würde man ihre Abwesenheit wahrnehmen
und Verdacht schöpfen; unbedingtes Stillschweigen
bewahrt, keiner Person die Absicht verraten, wiewohl
ihre Krise bekannt war; niemand in der Umgebung könnte
die Gefährdung einschätzen.
Sie bereitete, als sie unverrichteter Dinge in die Kammer
zurückgetreten war, inmmitten des Gerümpels
ein Lager, indem sie die vorhandenen Kartons auf den
Boden legte. Umgeben von bleierner Stille, kauerte sie,
mit Hose, Pullover und Lederjacke bekleidet, auf der
Pappe, den Kopf auf die großformatige Tasche gebettet,
die als Unterlage diente. Sie sagte sich nach einiger
Zeit vor, daß sie aufstehen müsse. Sie zögerte
es hinaus, wollte sich nicht wegrühren; sie lag
zusammengekrümmt, zu einem Klumpen geballt; sie
war untergetaucht, von der inneren in die äußere
Verschollenheit übergewechselt.
Als die Dämmerung hereinbrach, schaute sie auf
die Armbanduhr, setzte sich eine Frist bis zur nächsten
vollen Stunde. Zum anstehenden Zeitpunkt erhob sie sich.
Die Tasche bleibt zurück, dachte sie, die Tasche
bleibt zurück. Sie öffnete die mit einer Glasscheibe
versehene Tür, begab sich nach draußen; sie
blickte wie blind vor sich hin, sie blickte auf nackte
Brandmauern, trübe Fensterluken, auf die Rückseiten
von Wohnungen, die etwas tiefer lagen. Die Stelle, an
der sie stand, nicht einsehbar.
Sie klammerte die Finger der linken Hand um das Gestänge,
hob ein Bein, stellte es auf der anderen Seite nieder,
positionierte die rechte Hand, stieg mit dem zweiten
Bein darüber; sie stand auf dem schmalen Rand des
Mauervorsprungs, auf dem die Füße leicht
schräggestellt Platz hatten; sie stand auf einem
Grat; das Gesicht zum Geländer gewandt, schaute
sie zwischen den Beinen hinunter in den Schacht. Sie
schob mit der Schuhspitze einen kleinen Stein in die
Tiefe, vom Geräusch des Falls glaubte sie das Echo
zu hören. Danach vernahm sie nichts, nichts über
ihr, nichts unter ihr, sie spürte nichts, nicht
den Körper, nicht die Beine, nichts zog sie nach
unten, nichts hielt sie fest.
Sie stieg zurück, nistete sich ein, mit dem Vorsatz,
in einer Stunde wieder an die Rampe zu treten. Sie stellte
sich den Sprung vor, einen Sturz in die Dunkelheit,
unendlich langsam vornüberfallend, der Länge
nach auf dem Boden aufprallend, mit einem Schrei, der
durch alle Wände, Decken und Fußböden
dränge. Sie sah sich fallen, sah sich immer wieder
von neuem fallen, einen Bewegungsablauf im Zeitlupentempo,
als wäre der Erdboden unendlich weit fort, als
würde die Bewegung nie zum Abschluß kommen
oder als hätte der Hof nicht genügend Tiefe,
um sie aufzunehmen, sie sah sich fallen, als ließe
sie Teile von sich zurück, sie dachte, daß
sie vornüberfallen müsse, kopfabwärts,
mit dem Kopf voraus, vorausstürzen, daß der
Schädel zerschmettere, sie dachte, sie müßte
mit Schwung den Körper hochreißen und kopfüber
hinabschnellen, wie von einem Sprungbrett in ein Schwimmbecken.
Der Sprung im Verstand, der nötig ist.
Das Aufschlagen auf dem Beton, das Aufplatzen, Ausbluten,
das dunkle, warme Blut, das aus dem Mund quillt. Sie
stellte sich vor, wie sie sich lebend vorfände,
ehe der Schmerz einsetzt, unter dem der Körper
sich krümmt, noch ehe er ihn fühlt. Der winzige
Bruch, der momentane Schrecken ohne Wahrnehmung, bevor
sich alles vermischt. Sie sah sich liegen, mit gelähmten
Gliedern, verstümmelt oder äußerlich
unversehrt, nur ein wenig Blut um die Nase. Sie dachte,
daß die Aktion, wenn sie nicht mit dem Kopf vorausspringe,
mißlingen würde. Angst vor Todeszuckungen,
vor dem Todeskampf, vor lebenslangem Krüppeldasein.
Entschlossen, zu ihrer eigenen Mörderin zu werden,
fragte sie sich, wie die Welt nach ihrer Tat aussehen
würde. Man würde sie sofort finden, vermutlich.
Die Leiche, wie versteinert in der Haltung verharrend,
in der der Körper vom Tod ereilt worden war. Sie
glaubte nicht an den Schimmer heiterer Reinheit, den
die Gesichter angeblich nach dem Tod annehmen, friedlich,
enthoben, nicht ihr Gesicht.
Kein Schutzengel wollte sie mit seinem Mantel vor der
Gefahr abschirmen, wie sie sich ihn als Kind als Schattengefährten
an der Seite vorgestellt hatte, wenn sie über die
wackelige Brücke einer Schlucht ging, bedacht,
den Fuß nicht zwischen die Holzsprossen zu setzen,
der unter den Füßen drohende Abgrund, die
schlagartige Erleichterung, wieder festen Boden zu spüren.
In ihrer Kindersicht konnten die Toten vom Himmel aus
die Vorgänge auf der Erde verfolgen.
Der abgelebte Name auf dem Zettel mit dem Trauerrand,
der unbestattbare Name auf den Trauerschleifen, Trauerflor.
Das Kleid, mit dem man sie in den Sarg betten würde,
das Kleid nicht verrückt. Das Eingesenktwerden
in die Erde, das Knirschen der Seile, das Aufstoßen
auf dem Boden, die erste Schaufel Erde, die kurzen Geräusche
der auf das Holz prasselnden Erdschollen. Das Suchen
der Begräbnisgänger nach den passenden Worten,
die das Beileid ausdrücken. Kein Abschiedsbrief
würde ein konkretes Motiv liefern.
Sie lag mit geschlossenen Lidern auf dem Karton, verankert
in einem Sperrungszustand, etwas hielt sie gefangen,
das sie in keine Bewegung, in keinen Gedanken umsetzen
konnte. Sie schob die Stunde von Stunde zu Stunde auf,
verharrte in der zusammengekrümmten Position. Sie
bestand nur aus Warten vor der nächsten Stunde
und dann der nächsten und dann der nächsten.
Sie hörte den Wind an den Dächern zerren,
es hatte zu regnen begonnen. Die Kräfte entwichen,
als bestünde an ihrer Stelle nur noch eine leere
Hülle, neben der sie von Stunde zu Stunde auftauchte,
um sogleich wieder abzusinken, eingeschlossen in einem
halben Grab. Die Körpersäfte vermindert, Zungentrockenheit,
trockene Augen, kein Schluchzer stieg auf, Träne,
der Magen ausgehöhlt, die Beine hölzernkalt,
die Arme festgewachsen in Schlingen.
Eine Anstrengung, eine gewaltige Anstrengung. Sie entzifferte
die Uhrzeit, richtete sich, weit nach Mitternacht, auf,
blieb vor der Tür ins Freie stehen, drückte
die Hände auf die schmutzige Scheibe, der Himmel
vom Widerschein der Lichter schwach erhellt. Sie stand
wie angewurzelt, dann öffnete sie die Tür.
Der Wind fuhr ihr ins Gesicht, der Regen hatte aufgehört.
Sie blickte in Richtung Zinshaus, in dem sich ihre Wohnung
befand. Mit ein paar Schritten hatte sie die Entfernung
durchmessen. Sie stützte sich am Geländer
ab; sie spürte den Drang im Kreuz, im Genick, in
den Kniekehlen, er stachelte sie an, forderte sein Recht;
sie hob das linke Bein über das Geländer,
plazierte den Fuß, um mit dem anderen zu folgen;
sie stand zuerst mit dem Rücken zur gegenüberliegenden
Wand, drehte sich vorsichtig um, wobei sie eine Hand
kurz lösen mußte; sie hielt den Körper
hinaus ins Leere, die Finger um die Eisenstange gekrampft,
hing sie über dem Hof, an einem Faden, das Körpergewicht
lagerte in den Handgelenken. Die Tiefe schaute sie unverwandt
an. Die Schwelle zum Tod.
Sie machte kehrt, verrammelte sich, deckte die Beine
mit Kartonstücken zu, rollte sich so klein wie
möglich zusammen. Ein unbezwingbares Gewicht auf
ihr. Der Zustand mit keinem Verlassenheitsgefühl
zu vergleichen. Alles hatte sich in einen Hintergrund
zurückgezogen, in dem die Bilder ausgelöscht
und die Bedeutungen vernichtet waren. Das Leben nicht
zu Ende, der Tod nicht da. Das Pochen des Nichts. Sie
hielt sich den Augenblick vom Leib, in dem sie sich
hätte den Anstoß geben müssen, unfähig,
sich zu regen. Die Stille umgab sie wie ein Todesstreifen.
Von irgendwoher war Bewegung gekommen. Steif erwachte
sie, Helligkeit bohrte sich in die Augen. Noch ehe sie
sich orientiert hatte, hörte sie näherkommende
Schritte, dann das Öffnen der Tür. In Sekundenschnelle
war sie auf den Beinen, während sie die Tasche
ergriff, wurde sie von der schimpfend gestikulierenden
Frau, die glaubte, eine Obdachlose aufgestört zu
haben, verscheucht. Sie eilte treppab, schaute sich
nach dem Verlassen des Hauses nach allen Seiten um,
mit dem Gefühl, einer Falle entronnen zu sein,
jäh ins Bekannte gestürzt. Das Herausgerissenwerden
hatte ihr einen leichten Impuls versetzt, ein Anflug
von Erleichterung durchzuckte sie.
Die Wochenendruhe schützte ihre Schritte durch
die Gasse. Sie schlüpfte in eine Telefonzelle,
um Luft zu holen, zu überlegen, wie weiter. Sie
vermutete, daß man ihr Verschwinden bereits registriert
hatte, ihr Sich-nicht-Melden am Telefon. Sie richtete
die Haare, nahm den Taschenspiegel zur Hand, kontrollierte
das Aussehen, als hätte etwas Auffallendes an ihr
bemerkbar sein können, die Todesabsicht am Gesicht
ablesbar. Den Eindruck einer Verwirrten machte sie nicht.
Aber das Aufblitzen von Lebendigkeit verflogen. Sie
mußte die Wiederholung suchen. Vorhanden, nicht
vorhanden, sie zählte sich schon mehr zu den Nicht-Vorhandenen.
Ihr wurde klar, daß sie nicht in dasselbe Haus
zurückkehren konnte, abgesehen davon, daß
sich das Tor am Wochenende nicht durch Drücken
der Kingeltaste der Arztpraxis öffnen ließ.
Da sie nicht die geringste Ahnung hatte, wohin, irrte
sie auf den Gehsteigen des Viertels herum. Während
des Vormittags belebte sich die Hauptstraße. Sie
ging eine Weile stadtauswärts, kehrte um, fragte
sich, wo sie eintreten könne, um ein wenig zu rasten.
Sie zog ein chinesisches Restaurant in Erwägung.
Die Möglichkeit einer zufälligen Begegnung
mit einem bekannten Gesicht erschreckte sie, die Furcht,
angesprochen zu werden. Das Mittagsgeschäft noch
nicht im Gang, die Tische unbesetzt. Sie bestellte Mineralwasser
und eine Frühlingsrolle. Nach dem Zahlen suchte
sie die Toilette auf, verzichtete auf das Händewaschen.
Sie verbrachte den Spätoktobernachmittag in einem
Park, man konnte sich noch auf Bänken aufhalten.
Sie wechselte öfters den Platz, spähte um
sich, betäubt von der Anspannung, der Frage, wie
weiter. Der Druck wuchs, die Frist um einen Tag geschrumpft.
Ihr kam der Gedanke, daß sie die Nacht in der
Wohnung überdauern könnte, am darauffolgenden
Morgen hätte sie noch einen Tag, eine Nacht.
Stundenlang strich sie am Abend an den Fassaden entlang,
bevor sie sich dem Zinshaus näherte. Sie umkreiste
mehrmals den Häuserblock, blieb nach jeder Runde
in einem toten Winkel, der sie vor dem direkten Einfall
der Straßenbeleuchtung verbarg, stehen; sie wandte
die Augen zu den dunklen Fenstern hinauf, wagte nicht,
das Haustor aufzusperren; jemand könnte die Polizei
alarmiert und sich Zutritt zur Wohnung verschafft haben.
Sie unternahm eine zusätzliche Runde. Die Zimmer
blieben unbeleuchtet, so daß sie beschloß,
hinaufzugehen. Nichts Auffälliges, sie fand alles
in dem Zustand vor, wie sie die Wohnung verlassen hatte.
Sie ging aufs Klo, einen Moment überlegte sie,
ob sie die Unterhose wechseln sollte; sie schaute flüchtig
in den Garderobenspiegel, fühlte sich wie die Zuschauerin
ihrer selbst, in einem unrechtmäßig eingenommenen
Körper. Angezogen legte sie sich aufs Bett, ohne
sich der Schuhe zu entledigen. Alsbald schrillte das
Telefon, es schrillte, schrillte, schrillte; sie rührte
sich nicht, wartete in der Dunkelheit, bis das Läuten
verstummte. Nach einer Weile gellte es wieder. Mit Insistenz
versuchte man sie zu erreichen, sie stopfte die Polsterzipfel
in die Ohren, die Anrufe hörten auf. Sie mußte
die nächsten Stunden totschlagen, beabsichtigte,
die Nacht im Wachzustand zu verbringen. Unentwegt überlegte
sie, wie sie am nächsten Tag in geeignete Häuser
eindringen könnte. Ab und zu würde man ihr
auf den Vorwand hin, den Schlüssel vergessen zu
haben, öffnen, dieser Gedanke beruhigte sie vorübergehend,
dann wieder die Anstrengung, nicht einzuschlafen, der
quälende Sog.
Das Schellen des Telefons riß sie aus dem Schlaf,
es dämmerte ihr, daß sie sich davonmachen
mußte. Sie zog die Bettdecke gerade, um die Spuren
zu verwischen, schlich sich aus der Wohnung, gepeinigt
vom Gedanken, endgültig verschwinden zu müssen,
endgültig. Mit unsicheren Schritten ging sie bis
zur ersten größeren Straße. Sie spürte
die Müdigkeit nicht, oder vielmehr war sie seit
Wochen ein Teil von ihr, daß sie sie nicht wahrnahm,
ebensowenig wie sie Hunger oder Durst verspürte.
Über den Dächern hing der Herbsthimmel, bleich
und zäh.
Sie betrat eine Konditorei, die sie von außen
kannte. Die Bestellung gelang wie beiläufig. Ihr
fiel auf, daß sie gesprochen hatte. Sie rührte
mit dem Löffel im Kaffee, blätterte in Illustrierten,
in einem fort bemüht, Entspannung vorzutäuschen.
Sie begriff, daß der Körper alle möglichen
Tricks hatte, die ihn im entscheidenden Moment zurückhielten;
sie mußte den Körper mit dem Rest des Verstandes
hintergehen; sie hatte eine allerletzte Frist, ein Ultimatum:
der Beginn der Arbeitswoche. Wenn sie unentschuldigt
nicht erschiene, würde ihr Vermißtsein öffentlich
werden. Unumkehrbares Eingeständnis der Unbrauchbarkeit.
Auf der Hauptstraße flanierten die Sonntagsspaziergänger.
Einmal glaubte sie, ihren Namen gehört zu haben,
als hätte sie ein Gerufenwerden erwartet. Sie ging
und ging und kam kaum vorwärts; sie bewegte sich
wie auf blanken Eisschollen, schwankend von einer zur
anderen, während sie unter ihr wegsprangen; sie
konnte nirgendwohingehen, höchstens immer weitergehen,
ein Beinahe-Mensch, ein Gerade-noch-Mensch, eine Scheinlebendige.
Sie begab sich in die Halle des Umsteigebahnhofs, streunte
durch die Seitengänge des verzweigten Gebäudekomplexes.
Der niedrige Schlauch von Imbißständen und
Buden flankiert, vor dem Blumenladen wurde schon der
Grabschmuck offeriert. Bratwurstrauch, Bierdunst, Zigarettenqualm,
alles denkbar normal, zugleich stand alles unter Überwachung.
Um die Polizisten machte sie einen weiten Bogen. Sie
hielt sich im Umfeld jener auf, die den Abfall aus den
Mülltonen gabeln, das angefaulte Obst und Gemüse
von den Marktständen essen; sie gehörte weder
zu den Passanten noch zu den Randexistenzen, noch zu
den Wartenden, die in einem Seitengang zwischen ihrem
Gepäck auf- und abgingen. Sie hockte sich auf das
Drehgestell hinter dem halblangen Vorhang der Fotoautomatenkabine,
vor jeglichen Blicken geschützt, die Arme über
den angezogenen Knien verschränkt, gönnte
sie sich eine Pause.
Als es sie wieder durch die Gassen trieb, schaute sie
die Häuser empor, drückte mehrmals an Klingelknopftasten.
Wenn sich jemand meldete, vermochte sie nichts zu sagen.
Einmal wurde Einlaß gewährt, ohne daß
man durch die Sprechanlage nachfragte. Sie verschanzte
sich zunächst in einer Nische auf der Kellertreppe,
stieg dann die Stufen hoch, bis zum letzten Absatz.
Die Tür zum Dachboden versperrt. Aus einer der
Wohnungen vernahm sie eine Familie, die beim Nachtmahl
saß, durcheinanderredende Kinderstimmen, kurz
ließ sie sich an der Geländergrenze nieder.
Die Flucht, die sie schlug, war eine Flucht im Kreis.
Am fortgeschrittenen Abend nahm sie im Nebenraum eines
Studentenlokals Zuflucht, bestellte eine Kleinigkeit,
von der sie keinen Bissen bewältigte. Sie wußte
nicht, was tun. Ihr kam in den Sinn, daß sie am
nächsten Morgen in das Eckhaus hinein könnte,
in dem sie im Verlauf ihrer Streifzüge eine weitere
Rampe ausfindig gemacht hatte. Sie saß im verrauchten
Lokal, umzäunt von Schweigen, einem Schweigen,
das nichts zu erschüttern vermochte, die Geräusche
zu wortlosem Rauschen verbunden, die anderen wie hinter
Gitterstäben, getrennt durch einen unüberwindbaren
Graben. Als sie jemand um eine Zigarette fragte, schüttelte
sie den Kopf. Auf dem Ziffernblatt der Uhr spielte sich
die Vernichtung der noch verbleibenden, dem Ende entgegenhämmernden
Zeit ab, wuchernde Ausweglosigkeit.
Gegen Mitternacht brach sie auf. Unweit ihrer Wohnung
entdeckte sie einen verschalten Nebeneingang, der mit
Holzläden zu verschließen war, einen Schlupfwinkel,
in dem sie sich für den Rest der Nacht verstecken
konnte. Sie zwängte sich an die Mauer, zog die
Läden zu, die Tasche unter dem Gesäß,
kauerte sie eingekeilt. In dieser Haltung hockte sie
einige Stunden im Wachzustand, die Luft legte sich wie
ein kalter Block auf sie; sie spürte die Kälte
in die Knochen dringen, eine klebende Maske auf dem
Gesicht. Ehe der Morgen graute, rappelte sie sich auf.
Sie schleppte sich durch die geschlossenen Häuserzeilen,
es drängte sie zum Umsteigebahnhof; sie folgte
den Frühaufstehern, die zur Arbeit hasteten; sie
wartete den Zeitpunkt des Dienstantritts ab, die grausam
in die Länge gezogene Stunde fristend.
Unversehens führten sie die Schritte zum Eckhaus,
dessen Tor sich wochentags durch Betätigung der
Klingel der Anwaltskanzlei problemlos aufstoßen
ließ. Sie durchquerte den Korridor, stahl sich,
am vergitterten Liftschacht vorbei, die spiralförmigen
Treppen hoch. Auf der obersten Ebene angelangt, stieg
sie durch das entriegelte Fenster auf eine Art Außengang,
der zu einer vernachlässigten Terrasse führte;
sie kletterte über mehrere Leitern auf die höchste
erreichbare Plattform der verschachtelten Dachlandschaft,
wobei sie über einen schmalen Steg balancieren
mußte. An der Kaminmauer legte sie die Tasche
ab, dann näherte sie sich der Mauerkante, beugte
den Kopf nach vorn, in dieser Stellung blieb sie stehen,
auf den Parkplatz hinunterstarrend; kein Geländer,
Hemmnis, Hindernis dazwischen; sie trat mehrmals zurück
und wieder vor, jeder Schritt begleitet von saugendem
Schwindel; sie dachte, daß sie Anlauf nehmen müßte,
sie konnte sich nicht stehend den Boden unter den Füßen
entreißen, um vornüberzukippen. Im Schutz
der Kaminmauer setzte sie sich auf die Fersen, wartete
mit dem Rücken an die Mauer gelehnt. Sie brachte
es nicht fertig, sich erneut zur Kante vorzutasten;
sie schaute auf die Uhr; zur nächsten vollen Stunde.
Sie zog sich in das Gangklo zurück, krümmte
sich in der Ecke zusammen, als verkröche sie sich
in den Ausguß wie ein Tarnung suchendes Insekt;
sie stellte sich vor, daß man sie unter den Kollegen
bereits zu den Unzurechnungsfähigen zählen
würde, abgestempelt für immer, dem normalen
Geisteskleid entschlüpft. Auf jeden Fall war es
zu spät für alles. Sie verharrte geduckt,
lauernd, nach einer Weile hörte sie das Fahrstuhlgitter,
das Gleiten des Gitters, das ein Stockwerk tiefer aufgeschoben
wurde, hallende Schritte, augenblicklich packte sie
die panische Furcht, ertappt, angezeigt, eingeliefert
zu werden; sie hielt es nicht aus, verließ das
Versteck, entwischte unbemerkt.
Fahlheit tönte Fassaden, Aufschriften, Reklameschilder,
die stumpfe Blässe der Blätter, die noch nicht
abgefallen waren, Autos in Form von Särgen, in
allem sah sie das Schwinden des Lebens, Todgeweihtes,
Abgestorbenes. Die Finger krampften sich um die Henkel
der Tasche. Mühsam schob sich der Körper voran.
Im Kopf trommelte die Frage, wie weiter. Sie betrat
die Markthalle, um der Strömung, der sie im Freien
ausgesetzt war, zu entrinnen; sie drückte sich
zwischen den Ständen herum, ohne die Kisten, Körbe,
Säcke mit dem farbigen Inhalt wahrzunehmen. An
hohen runden Tischen biertrinkende Männer unter
sich. Sie bildete sich ein, von der Inhaberin des Standes
beobachtet zu werden, als sei der Frau ein drittes Auge
gewachsen, welches sie ohne Unterlaß fixierte;
sie entfernte sich, suchte das Weite in der oberen Etage.
Rohe Fleischklumpen, prahlendes Rot, das Rot im blutigen
Fleisch, durch das sich die rohen weißen Sehnen
ziehen, von Sehnenstreifen durchzogenes Fleisch, Fleischberge
an Haken, schwere Pendel auf beiden Seiten des Gangs,
das gehängte Fleisch an manchen Stellen von durchsichtiger
Haut überzogen, gerupfte Hühner, bläulich
angelaufene Kaninchen, auf Platten Kalbsfüße,
Kalbsköpfe mit glasigen Augäpfeln, dicke Rinderzungen,
schleimige Innereien, Schüsseln voller Kutteln,
wabbeliger Lebern und Nieren, weißlicher Hirne,
blauvioletter Herzen, Eingeweide zuhauf.
Auf der Straße zog es sie, gehetzt vom unsagbaren
Druck, vom Unumkehrbaren, zum höchsten Haus der
Umgebung. Der Altbau fiel fünf Stockwerke in die
Tiefe. Sie hatte Erfolg, ein Flügel des Tors aufgestemmt.
Der zugängliche Dachstuhl ein leerer Speicher,
ein ausgehöhlter Schiffsleib, der sich über
ihr wölbte, eine umgekippte Arche, in den Ecken
Nistplätze von Tauben, Dachritzen boten kleine
Öffnungen. Auf dem Absatz neben dem Eingang lagerte
eine Truhe.
Sie hockte sich auf den verstaubten Deckel, zog die
Jacke ein wenig enger um sich. Der Blick verharrte auf
dem obersten Treppenhausfenster, sie mochte ihn nicht
davon abwenden, mit Hartnäckigkeit starrte sie
auf das Fenster, die Augen auf den Fenstergriff geheftet.
Hin und wieder hörte sie das Klirren eines Schlüsselbundes,
das Umdrehen des Schlüssels, das Klacken des Schlosses,
Hustengeräusche, Schritte treppauf, treppab, jemand
blieb stehen, um Atem zu schöpfen, dann fuhr die
Person mit dem Treppensteigen fort, die Schritte entfernten
sich, die Geräusche erstarben. Sie schaute vor
sich hin, Reglosigkeit dämmte in ihrem Körper
den Lauf der Zeit. Einmal verspürte sie Harndrang,
sie entleerte sich auf den Boden des Dachspeichers.
Niemand bewegte sich auf sie zu. Die Arme um die Knie
geschlungen, blieb sie regungslos sitzen, den Kopf auf
die Knie gestützt, umzingelt vom Schweigen derer,
die wirklich gestorben waren.
Das Fensterbrett, die äußerste Grenze, sie
spähte nach den Zeigern der Uhr, wartete. Bis zur
nächsten vollen Stunde. Noch eine Stunde. Noch
eine Stunde. Ein Nichts.
Eine Bewegung, die schon zigmal zuvor begonnen wurde.
Die Bewegung zu Ende führen. Sich in den Abgrund
ziehen lassen, unauffindbar liegen, erfrieren, an einer
Unterkühlung umkommen, mit der Handkante über
die Adern im Gelenk sägen; sie wartete, als könnte
eine Todesschwester die Entscheidung abnehmen, sie bei
lebendigem Leib begraben.
Wie lange währt eine Stunde. Mit jedem Vorrücken
der Minuten wurde die Zeit dichter. Die Zeit, die sich
staut und preßt. Noch dreißig Minuten. Noch
fünfzehn. Noch ließen sich die Minuten in
eine trügerische Ewigkeit hinein ausdehnen. Bis
zur nächsten vollen Stunde. Der zu Ende gehende
Tag wurde von Minute zu Minute kleiner, jede Minute
eine Zündschnur, der Sekundenzeiger lief unbeirrt.
Wie oft hatte sie sich gesagt: morgen um diese Zeit
gibt es dich nicht mehr, morgen um diese Zeit. Unmöglich.
Sie schaffte es nicht, sich den letzten Ruck zu geben.
Es ging ihr auf, daß sie nicht springen konnte,
daß sie den Punkt ohne Zurück stürzend
nie erreichen würde. Sie ergriff die Flucht. Als
sie beim Tor hinaustrat, zögerte sie, hielt den
Türflügel einen Spalt offen, um wieder zurück
zu können. Dann ließ sie den Riegel ins Schloß
schnappen. Wie eine Geächtete, wie ein fern von
seinem Schlupfloch gesichtetes Tier wurde sie schneller,
bog um mehrere Ecken, ohne die Augen vom Boden zu heben.
Sie, die Abgängige, war sicher, daß man sie
am Ende des vierten Tages ihres Verschwindens für
tot hielt. Vielleicht dachte jemand an Mord.
Vom Übermaß der Erschöpfung des Körpers
gestoßen, vom schneidend kalten Wind getrieben,
steuerte sie unwillkürlich auf das Zinshaus zu.
Wehrlos drang sie in ihre vier Wände ein. An den
verschobenen Sesseln bemerkte sie, daß sich jemand
in der Zwischenzeit darin aufgehalten haben mußte.
Auf dem Tisch wartete ein Blatt Papier. Sie identifizierte
die Handschrift auf der Stelle; sie las die Zeilen,
die von Hoffnung sprachen. Etwas regte sich in ihr.
Sie griff ohne Zögern zum Hörer, als wären
die Klauen des Nichts ausgerissen mit einem Schlag.
Am anderen Ende der Leitung hörte sie fassungslos
ihren Namen schreien.
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