SCHNITT
Seit ich hier bin, verbringe ich die Abende so. Die
Anfänge der Abende. Ich sehe vom Fenster weg ins
Dunkel meines Zimmers, in dem die Möbel abwechselnd
grün und rot schimmern wie Maschinen, die sich
ausruhen. Sehe auf die Kreuzung mit den Ampeln, kann
nicht glauben, daß es noch nicht einmal November
ist. Alexandra gefiel es, so mit mir am Fenster zu stehen.
Ständig wechseln die Farben, sagte sie. Alexandra
war erst einmal hier. Einmal stand sie hier neben mir.
So beginnen im Film die Abende, die man zu zweit verbringt.
Alexandra beobachtete, wie die Dämmerung in den
Tag sickerte. Wir sahen das Licht seine Farbe wechseln,
und ich wunderte mich, wie Alexandra es schaffte, so
lange still zu stehen. Ich kannte sie bis dahin nur
in Bewegung, in schneller bestimmter Bewegung auf dem
Ha-lenparkett. Sie kommandiert, wischt Schweiß,
schleudert Arme, ist selbst im kurzen Innehalten noch
das auslaufende Ende einer Bewegungsschleife. Zugleich
bereits die kommende Bewegungsexplosion. Die Spannung
in allen Sehnen ihres Körpers, selbst in den Wimpern
und den weißen Nägeln - so fest hält
sie den großen roten Ball. Leicht vornüber
gebeugt steht sie da. Alexandra wippt in den Knien von
links nach rechts und wieder nach links, täuscht
an, duckt sich und schnellt wieder hoch, spurtet los,
legt sich in die Kurve und um-äuft eine Gegnerin,
den Ball, der immer wieder zu ihrer Hand zurückkehrt,
stößt sie zu Boden mit allen Fingern der
rechten Hand, bei jedem Schritt hin zum Korb. Aber hier
am Fens-ter in meinem Zimmer stand sie still. In Alexandras
Gesicht sah ich, wie sich hinten über dem Sofa
schwarz die Rechtecke der Fotografien spiegelten.
Alexandra hatte das Zimmer nur als Ganzes, als einen
in Dämmerung liegenden Raum wahr genommen. Erst
als ich später das Licht anmachte, sah sie die
Bilder. Silhouetten, verwischte Sprünge, Schweißtropfen
auf glänzender Haut. Schwarzweißfotografien
von Alexandra. Die zerstückelten Bewegungen der
Spielerin in einer Spirale angeordnet. Zuerst hatte
ich unterschiedlich große Abzüge gemacht.
Später versucht, sie säuberlich aufzureihen.
Sieben Reihen von je sieben Fotografien in dünnen
Metallrahmen. Dann hatte ich die Bilder aus den Rahmen
heraus genommen und sie frei arrangiert, aber auch damit
war ich nicht zufrieden. So daß ich sie eine Weile
immer wieder zu einer neuen wahllosen Hängung zusammen
stellte. Bis ich bemerkte, daß ich der Drehung
der Spirale folgen sollte. Der Figur, die Meinhard inzwischen
nicht mehr sehen will auf meinem Schreibtisch oder auf
meinem Reißbrett. Keine Spiralen mehr, Holzmann,
sagt er, und keine Kreise, Sie haben eine Aufgabe. Er
raunt es geradezu, auf seine verheißungsvolle
Art. Die Aufgabe, Holzmann.
Ich habe die Bilder von Alexandra dann noch einmal abgezogen
- alle in der gleichen Größe. Habe sie zu
einer engen Spirale geordnet und war endlich zufrieden.
Mit der Abfolge experimentierte ich: abwechselnd Detail-
und Ganzkörperaufnahmen. Oder Spielzüge -
Alexandra, wie sie eine Idee hat, wie sie zum Korb läuft
und wie sie sich über einen Zweipunktewurf freut
... Oder in der Mitte der Spirale mit einer verwischten
Aufnahme beginnend nach außen ... um an der Öffnung
mit einem Porträt von Alexandra zu enden. Alle
diese Pläne verwarf ich wieder.
Meinhard würde mich inzwischen nicht mehr einstellen.
Ich weiß nicht, warum er mich überhaupt noch
hält. Am Ende ist Meinhard ein Menschenfreund.
Das wäre lächerlich. Es ist nicht, daß
ich nicht weiß, was man wissen muß, um Architekt
zu sein. Es ist nur, daß ich nicht kann, was ich
können soll, um bei Meinhard Architekt zu sein.
Daß ich nicht planen will, was er mir zu planen
aufgibt. Erst mal nur Ideen, sagt Meinhard. Aber denken
Sie an unsere Vorgaben, Holzmann: Glas, Beton, Chrom,
Stadtarchitektur, Holzmann, Stadterlebnisse! Und am
Ende, sagt er und kommt ins Dozieren, bringen Sie das
ein, was sie lieben: in kleinen Tupfen vollenden sie
das Areal mit Natur. Das ist die Kunst der Innenstadt,
Holzmann, sagt er und lacht über meinen Namen.
Dann wirft er mit seinem Stift Eckiges und Kantiges
über meine Zeichnungen und zuckt zurück. Ist
das von mir? fragt er und meint das Blut, das an den
unteren Rändern meiner Papiere rotbraune Streifen
hinterlassen hat. Aber das Blut ist da, weil ich mir
häufig den Zirkel oder das Zeichendreieck in die
Hand gerammt hatte.
Der glaubt einfach an dich, sagt Martin von seinem Platz
aus, nachdem Meinhard wieder hinaus gegangen ist. Martin
und ich sehen einander an und wir überlegen, warum
Meinhard an mich glaubt. Außen an unserer Bürotür
klebt ein Schild, auf dem steht ENTWURF. Es sieht aus
wie ein Laserdruck, ist aber von Martin gemalt. Ihr
seid meine Kreativabteilung, sagt Meinhard, mein Thinktank,
sagt er, kommt mal her. Dann setzt er sich lässig
auf meinen Schreibtisch und wir müssen uns vor
ihn stellen. Wir sollten jetzt hemdsärmelig aussehen.
Voller Tatendrang. Wie in einem Werbespot für eine
Versicherung. Drei Siegertypen. Und Meinhard erklärt
uns, wie wir die Welt erobern werden. Also paßt
auf, sagt er, Projekt Lotharpassage. Er wirft die Hände
und Arme von sich. So klaubt er sich das Material für
sei-ne Beschreibungen aus der Luft. Er läßt
die Arme und Hände wieder niedersausen und um plötzliche
Ecken rucken. Schlägt Blöcke in die Luft.
Skizziert ein Stadtviertel, läßt es auferstehen.
Läßt die Menschen darin umhergehen und darin
arbeiten und essen und sich begegnen. Aus Martin weicht
langsam die Anspannung. Seine Schultern wölben
sich auf zu neuer Sicherheit. Seine Augen verlieren
das Dunkle, das sie immer dann fast verschließt,
wenn er sich angestrengt konzentriert. Martin lächelt.
Stehen, sagt Alexandra, wenn das Licht auf Rot wechselt.
Dann scheint sie die Luft anzuhalten, bis es wieder
Grün wird. Gehen, sagt sie, wenn es passiert. Hier
oben weiß man immer, ob man gehen kann oder stehen
muß, sagt sie. Lächelt in der Scheibe meines
Fensters. Ein undeutliches Lächeln. Aufgehellt
und dadurch zugleich verwässert von den Lichtern
der anfahrenden Autos. Das Bild eines Gesichtes, durch
das ich starre, während ich ihrem leise wiederkehrenden
Refrain zuhöre: Gehen ... Stehen ...
Hier am Fenster koste ich die Spannung aus, die in
mir ansteigt. Ich habe ja noch so viel vor, wenn es
draußen stiller wird. Dann schaue ich nach den
Eulen in den Tannen unterm Krankenhaus. Den Rehen, die
vorsichtig im Stadtpark äsen. Den leeren, schaukelnden
Pontons am Rhein, und über der Bahntrasse außerhalb
der Stadt nach den Traubenklötzen, die verkümmert
an halb entlaubten Reben hängen.
Oder ich gehe zu den Baustellen, schätze die Fallhöhe
der Betonmischmaschinen und Kreissägen, die hoch
in der Luft an den Haken der Kräne pendeln. Beobachte,
wie der Wind in die Planen will, die flache Zementhaufen
gegen Regen schützen. Wie er um Fundamentgruben
an rotweißen Bändern zerrt.
Abends hier oben, über der Kreuzung weiß
ich nur, daß ich hinaus gehe. Nicht, welche Kraft
stärker sein wird. Ich warte, bis ich Kopfschmerzen
bekomme. Dann laufe ich los.
Das Scharren und Quietschen von Alexandras großen,
kräftigen Sportschuhen auf dem Hallenparkett, wenn
sie angriff. Oder wenn sie hastig drehend zurück
hechtete, um den eigenen Korb zu schützen. Ihr
Keuchen. Das Knacken in ihren Gelenken. Oder wenn der
Ball in ihre Hände klatschte nach dem Paß
einer Mitspielerin. Ihr dunkles langes Haar hatte sie
zusammengebunden hinter dem Kopf, damit es sie nicht
behinderte. Schweiß lief ihr unterm Haar heraus
über die Schläfen. Schweiß dunkelte
ihr graues Shirt auf dem Rücken, vorne zwischen
den Brüsten und unter den Achseln. Wie sie sich
abstieß vom Boden und einen Wurf zum Korb ansetzte.
Oder in den Wurf einer Gegnerin flog. Sie keuchte laut,
sie rief nach ihren Mitspielerinnen. Sie fuhr sich mit
dem Unterarm über die Stirn und trocknete ihre
Handflächen an der Seite ihrer weiten, kurzen Hose,
bevor sie einen Freiwurf ansetzte. Dann stand sie wippend
auf ihren muskulösen Beinen. Die Unterschenkel
angespannter, als ihre Haltung es erwarten ließe.
Den linken Fuß einen halben Schritt vor dem rechten,
direkt hinter der Wurflinie. Sie drehte den Ball in
den Händen und leckte sich die Lippen dabei, sah
irgendwohin. Zu Boden. Ein leerer, konzentrierter Blick,
bevor sie den Kopf hob und den Korb erfaßte. Sich
noch einmal die Lippen leckte. Mit den Lidern flackerte.
Keines der aus dem Knoten gelösten Haare störte
mehr. Endlich holte sie tief Luft und warf. Bildete
mit ihrem gesamten Körper den Anfang einer Parabel
nach, auf die sie den über ihre Finger abrol-lenden
Ball schickte, damit er sich in den Korb senkte.
Der synthetische, holzige, leimige Geruch des Hallenbodens,
auf dem ich kauerte um sie beim Spielen zu fotografieren.
Er war durchwoben von leichten Schweißböen,
wenn die Spielerinnen in ihrer spontanen Choreographie
immer wieder nahe an mir und meiner Kamera vorbei liefen.
Martin hat Angst, daß ich nichts esse in meinem
Zimmer. So schlecht und so müde, wie ich aussehe.
Deswegen lud er mich zum Essen ein. Vierter Stock, sagte
er über die Sprechanlage. Die Tür war offen.
Mitten an der großen Wand gegenüber stand
das Terrarium. Ich sah nur dünne Pflanzen darin.
Keine Echse oder Schlange.
Martin stand in der Küchentür und grinste.
Komm doch hier rein, sagte er, du kannst mir helfen.
Wir tranken Rotwein und schnitten Fleisch und Gemüse.
Martin warf ab und zu einen besorgten Blick zu mir herüber.
Auf meine Hände und das Messer darin. Aber nach
einer Weile beruhigte er sich.
Irgendwann schlug die Wohnungstür zu. Leichte Laufschuhe
klatschten auf die Fliesen, nicht die schweren Sohlen
von Basketballschuhen, die ich später zu fotografieren
begann. Martins Frau kam herein, zog den Reißverschluß
ihrer Jacke auf. Hi, sagte sie und streckte mir ihre
feuchte Hand entgegen. Sie roch nach sich selbst. Natürlich.
Frisch. Roch nach einer überfälligen, endlich
gemähten Wiese. Sie trank in langen Zügen
aus einer Flasche mit stillem Wasser. An den Schläfen
klebten Haarsträhnen. Schön daß du mal
herkommst, sagte sie. Bei ihrem angestrengten Schnaufen,
unter dem ihr Atem nach seinem gewöhnlichen Rhythmus
suchte, klang das wie ein Vorwurf. Ich geh noch duschen,
sagte sie dann. Siehst du - sagte Martin, das macht
sie immer so. Sie läßt einen warten, sie
braucht das, sie steht immer unter Spannung ... auch
ihr Sport ... Freiheitsdrang eben, aber überzogen.
Er grinste und stellte das Gas kleiner.
Mein Gesicht in der Scheibe undeutlich. Die Augen zwei
dunkle Höhlen, tief im Schädel. Vol-ler leerer
Schwärze. Daß ich krank aussehe, sagte Alexandra.
Hier vorm Fenster. Sie hob ihre Hand, strich sich dann
ihr Haar damit hinters Ohr. Zog die Lippen ein. Senkte
das Gesicht und hustete.
Du siehst scheiße aus, sagt Martin, schlaf endlich
mal. Was machst du die ganze Nacht?
Ich erzähle ihm nichts von den Eulen. Von dem Rauschen
der südwärts ziehenden Gänseschwärme.
Den Sternbildern, die hier über der Kreuzung nicht
zu erkennen sind. Weil der Nachthimmel getrübt
ist vom Rot und Grün der Ampeln und von den Doppelkegeln
Licht der Autoschnauzen. Und ich erzähle nichts
von der Elektrik eines Rüttlers. Von Dämm-Material,
dickwandigen Baggerreifen oder dünnwandigen Kupferrohren.
Das erste Essen bei Martin. Ich bekam Krämpfe
in die rechte Hand vom Essen mit Stäbchen. Wir
lachten, wenn wir alle drei gleichzeitig die Schalen
zum Mund hoben. Laut Reste aus dem Porzellan schlürften.
Versehentlich siezte ich Martins Frau und wir machten
uns einen Spaß daraus, uns alle gegenseitig zu
siezen. Den ganzen Abend lang sprachen wir uns mit unseren
Nachnamen an.
Später Ruhe. Martins Frau hatte ihre übereinander
geschlagenen Arme auf der Tischplatte, den Kopf auf
diesen Armknoten gelegt. Martin kraulte sie im Genick.
Die Wüste, sagte er und erzählte von seinen
Reisen nach Nordafrika und in die Trockengebiete Südeuropas,
nach Spanien. Die Wüste, sagte er immer wieder.
Seine Hand fuhr dabei langsam und gerade durch die Luft.
Schnitt den heißen Wüstenwind vorsichtig
in Scheiben. Oder begradigte den Kamm einer Sanddüne.
Man konnte den Sand sehen. Wie er ihn einfach glättete
zu einer Fläche. In die man Figuren hätte
zeichnen wollen. Er erzählte von Sand in den Schuhen
und Blasen an den Füßen, von unbeschreiblichen
Sternenhimmeln und Arabern mit Kamelen und allen möglichen
Kleinigkeiten, die ich vergessen habe, weil ich immer,
wenn er Wüste sagte, doch an das handgeschriebene,
aber wie gedruckt wirkende Schild an der Bürotür
denken mußte. Da hab ich mir auch die Tiere mitgebracht,
sagte er und zeigte mit dem Kinn zum Terrarium. Auf
das trockene Gestrüpp.
Im Dunkel sind die Fotografien nicht zu unterscheiden.
Da ist einfach eine Spirale aus Rechtecken. Spiegelnde
Bilder an der Wand. Eine riesige Schnecke. Anfangs hatte
ich Farbfotografien gemacht, weil ich Alexandra auf
den Bildern wollte, wie ich sie in Wirklichkeit sah.
Aber ich sah sie auf den Bildern dann doch nicht so.
Ich verstand, daß ich ihr mit Schwarzweißfotografien
näher komme. Nur mit Licht und Schatten. Ich wechselte
außerdem das Material aus. Ich nahm grobkörnigeres,
zuletzt sehr grobkörniges. Ich belichtete lange.
Damit ihre Bewegungen auf den Filmen verwischten. Ich
fotografierte Filme voll. An einem Trainingsabend ein
Dutzend. Ich schoß ganze Serien, entwickelte diese
Serien und legte sie nebeneinander. Legte sie übereinander
in meine Linke und blätterte sie auf mit meiner
Rechten wie ein überdimensionales Daumenkino mit
dem Titel ‘Alexandra spielt’. Aber ich habe
sie dann doch immer nur in einzelnen Fotografien gefunden.
Einzelne. Die aus den Abläufen heraus fielen.
Holzmann, sagt Meinhard, wir müssen voran kommen,
wir müssen etwas Großes aufbauen, Holzmann
- das wollen sie doch auch. Zuerst sinken seine starken
Brauen tief über den Augen. Dann sinken die rot
geränderten Lider tief über die Augäpfel.
Die Pupillen verdunkeln sich, wenn er über die
von mir gezeichneten Grünflächen sieht. Fächerformen
und Schlan-genlinien. Ja, Holzmann, sagt er dann laut
und pumpt den Bauch voll Luft, Holzmann wo leben Sie
denn? Das! so ruft er und wedelt über dem Tisch,
das ist doch kalter Kaffee, das ist Landschaftsmalerei.
Mensch Holzmann, sagt er. Spricht immer wieder diesen
Namen aus. Den Namen, über den er lacht, wenn er
von Beton, Glas, Stahl, von Chrom und der Funktionalität
der Kante doziert. Mensch Holzmann, das Jahrtausend
geht zu Ende! Seine Augen leuchten auf. Meinhard und
Holzmann, was Martin? ruft er über die Schulter
und Martin lächelt fein. Die Lotharpassage, sagt
Meinhard, ihre Aufgabe Holzmann, lassen Sie sich nicht
narren. Geben Sie uns eine Innenstadt, die den Namen
verdient. Urbanität, Holzmann, Werkstatt und Wohnung
des Metropolenmenschen, verstehen Sie? Schreiten Sie
voran, Holzmann, nicht zurück. Das Blut auf der
Zeichnung verblaßt beim Trocknen, daß es
aussieht wie Rost. Und was tun Sie nur mit Ihren Händen,
Holzmann? schnauft Meinhard.
Spät abends drehe ich meine Runden. Häufig
am Rhein. Muscheln suchen. Ohne Erfolg. Ich lege mich
auf einen der schaukelnden Pontons, bis die Kälte
feucht durch meinen Mantel kriecht. Dann gehe ich spazieren
am Ufer. Schlittere auf dem glatten Pflaster. Platsche
im Wasser wie ein Kind, bis meine Schuhe durchnäßt
sind. Auf dem Ponton rieche ich den Fluß. Seinen
Geruch nach Verdorbenem. Erdigem. Ich höre die
Enten mit ihren Flügeln auf die Oberfläche
schlagen und einander beschimpfen. Irgendwann stiehlt
sich in den fast faulen Geruch des Wassers der ölige
der Schiffe.
Eine der alten Zeichnungen Martins habe ich mit nach
Hause genommen. Sie liegt auf dem Couchtisch unter den
Bildern von Alexandra. Die Zeichnung eines Bürogebäudes.
Sie ist verwaschen von Regen und Schweiß. Das
Papier ist zerknittert und angestoßen. Es hat
feine und grobe Risse. Nicht nur an den Rändern.
Aber ich muß die Zeichnung nicht mehr sehen. Ich
kenne jede einzelne Gerade. Jeden Punkt, an dem Geraden
spitz aufeinander tref-fen zu einer Ecke. Sehen Sie,
Holzmann, sagt Meinhard, ein hohes Lied auf den Purismus
der Kante, auf den Konsens der Fläche. Das ist
heute der goldene Schnitt, Holzmann! Seine Hand macht
vorsichtige gerade Bewegungen in der Luft. Als taste
er Fließbeton ab. Und Holzmann, leckt Meinhard
sich die Lippen, Spucke scheint ihm im Mund zusammen
zu laufen, wenn er nach Worten sucht ... die Größe
der Kreatur, sagt er, die Größe des neuzeitlichen
Menschen, wenn er eine solche Klarheit sich zu schaffen
imstande ist, erst recht, wenn er in dieser Klarheit
die Pointen setzt! Meinhard strahlt mich an, er wartet
nicht, bis ich ihm antworte. Hier hinein eine Topfpflanze
auf die ein oder andere Fensterbank. Holzmann, brüllt
er und schwitzt vor Freude, ist das nicht vortrefflich?
Und er haut Martin auf die Schulter, der die Hände
lässig in den Hosentaschen vergraben hält.
Ich erinnere mich an jeden von Martin gesetzten Strich
auf der Zeichnung. Ich kenne den Rohbau. Wie viele andere
in der Stadt erfährt er von Zeit zu Zeit einen
Rückschlag. Wenn einer der Kräne morgens nicht
mehr funktionieren will oder der Sicherungskasten der
Baustelle verbrannt ist.
Rolle ich die Zeichnung aus auf dem Tisch, beschwere
ich sie an den Ecken. Später am ganzen Rand. Dann
auch in der Innenfläche. Wie bei einem Puzzle,
das nur ich allein zusammensetzen kann. Ich beschwere
sie, damit sie sich nicht wieder einrollt. Mit Muscheln
und mit großen Schneckengehäusen. Süßwasserschnecken
und Meeresschnecken. Alle Sorten Muscheln. Ich lasse
mir Schnecken und Muscheln mitbringen aus Urlauben und
ich kaufe mir Schnecken und Muscheln in den kleinen
Läden der Türken und Chinesen. Am Ende lege
ich genau in die Mitte der Zeichnung ein riesiges spitz
auslaufendes Schnecken-haus, das Martin und seine Frau
mir von den Malediven mitgebracht haben. Mach die Augen
zu, sagte sie, nahm sicherlich in einer rund fließenden
Bewegung ihre großen Hände hinterm Rücken
hervor und legte mir etwas in die Handflächen.
Sie sagte: Aufmachen ... zum Verkriechen. Aber nicht
so tief, sagte Martin und zupfte seine Serviette gerade.
Ich hielt mir die Muschel ans Ohr, schaute nach dem
Gestrüpp in Martins Terrarium. Die Muschel rauscht
kaum.
Alexandra spürte den fein genoppten Kunststoff
des Balles an ihren Handflächen. Anfangs war sie
überrascht, mich in der Halle zu sehen, während
sie sich aufwärmte, warm lief, die Muskeln dehnte.
Sie stockte und überlegte. Vielleicht, wann sie
erwähnt hatte, daß sie hier Basketball spiele.
Zu mir herüber kam sie nicht. Sie spielte damals
nicht gut, nicht an diesem Abend. Doch das störte
mich nicht. Sie gewöhnte sich an mich und an die
Kamera. Je öfter ich kam, desto besser spielte
sie. Ich schoß sehr harte Bilder. Ich zerschnitt,
zerhackte ihre Bewegungen so scharf ich nur konnte.
Die entwickelten Bilder hatten die Plötzlichkeit
eines Erschreckens. Oder einer ungeahnten Verunsicherung.
Vereinzelte Momente ohne Zusammenhang, so daß
Alexandras im Zoom fest gehaltener Blick oft aus dem
Spiel gerissen war. Und sie aussah, als wolle sie schreien
vor Furcht. Aber dann ließ ich den Finger auf
dem Knopf. Schoß ganze Serien. Ich dachte sogar
daran, sie zu filmen wie sie lief, fing und warf. Endlich,
nach Wochen, schoß ich nur noch verzerrte, verwischte,
grobkörnige Bilder. Ale-xandra war kaum mehr darauf
zu erkennen. Oder gar nicht mehr. Was ich da mit meinen
Fotografien aus der Wirklichkeit des Hallenspiels schnitt,
hätte jede ihrer Mitspielerinnen sein können.
Nur mein Wissen unterschied sie.
Hier am Fenster sehe ich die Bilder als schwarze Rechtecke
gespiegelt. In der ersten Spirale, die ich gelten ließ,
hatte ich die Bilder chronologisch angeordnet. Ich hatte
innen begonnen. Zuletzt mußte ich auch das ändern.
Jetzt laufen die Bilder zeitlich rückwärts
zur Mitte. Die letzte Fotografie habe ich keine Woche,
bevor Alexandra zu mir kam, fotografiert. Sie kommt
ihr vielleicht am nächsten. Sie ist nahezu unkenntlich.
Ein Ausschnitt ihres Halses und ihrer Schulter. Glänzend
vor Schweiß und Gegenlicht. Durchbrochen von einer
aus dem Knoten los gelösten Locke und ihrer Hand
... die an ihrer Schulter vorbei hoch zielt, um einen
Ball aufzunehmen. Das Bild hängt neben dem Mittelpunkt.
Das Zentrum der Spirale ist leer.
Dir fehlt Bewegung, du solltest laufen gehen, spricht
Alexandras Spiegelbild zur Kreuzung hinunter. Als sie
das sagte, war ich noch zögerlich unterwegs. Tappte
drei Schritte und blieb wieder stehen. Ich verkroch
mich im feuchten Gras im Stadtpark. Wartete auf die
Gänse. Vielleicht sind sie längst schon im
Süden. Oder fliegen überhaupt nicht hier vorüber.
Aber ich hoffe, daß sie eine ihrer uralten Routen
hier entlang führt. Daß sie gerade über
mir keilförmig den Wind brechen.
Den Sommer über fliegen die Eulen zwischen den
großen Tannen unterm Krankenhaus. Sie rufen einander.
Fliegen Tannenspitze um Tannenspitze an. Ich bin der
einzige, der ihnen zusieht dabei. Wie rufen sie? fragte
Alexandra. Aber ich kann es nicht nachmachen. Erst recht
nicht so früh am Abend. Noch durcheinander von
Meinhard und Martin. Ich kann es mir nicht vorstellen,
sagte sie. Sie lehnte ihren Kopf an das Fenster. Sie
bemerkte, wie es vibriert, wenn ein Auto anfährt.
Sie ist größer als ich und schlanker. Sie
hält ihre Hände in den Armbeugen. Ihre Finger
sind lang. Sie kann einen Ball mit einer Hand festhalten.
Die Nägel hält sie unwahrscheinlich rund und
immer kurz. Damit sie nicht stören im Spiel. Alexandra
ist zum ersten mal hier. Sie ist wegen der Bilder gekommen,
doch sie sagt nichts davon. Ich habe vergessen, ihr
etwas zu trinken anzubieten. Wir haben nie über
die Bilder gesprochen. Ich habe ihr nie gesagt, warum
ich diese Bilder mache von ihr. Sie hat mich nie danach
ge-fragt. Komm Dienstag nicht ins Training, sagte sie,
ich komme zu dir. Ich vollendete recht-zeitig die Spirale.
Mit dem letzen Bild nahe der Mitte war sie fertig: ihre
verwischte Schulter, ihr verwischter Hals, durchbrochen
von ihrer fahrigen Hand und einer wehenden Locke. Ich
mußte keine Fotografie mehr schießen von
Alexandra. Dann kam sie zu mir. Es war schon fast dunkel
im Zimmer. Sie ging sofort hinüber zum Fenster.
Schaute sich nur flüchtig um im Zimmer. Sah statt
dessen unentwegt hinunter auf die Kreuzung. Ihr Gesicht
leuchtete abwechselnd rot und grün. Sie roch nach
der Duschseife, mit der sie sich nach dem Training gewaschen
hatte.
Martin räumte den Tisch ab. Seine Frau legte ihre
Füße auf die Platte. Wo eben noch ihr Teller
stand. Ich hätte gerne mal ein Haus mit Erkern,
irgendwo draußen, sagt sie. Wo man auf den Rhein
runter gucken kann. Und wo man Tiere halten kann, alle
Sorten. Sie will Hunde, sagt sie, schnelle, springende
- richtige Tiere eben, sagt sie, nicht nur so was und
sie lacht mit Martin, der sich über das Terrarium
beugt. Erst da - beim zehnten Besuch vielleicht - habe
ich die Stabschrecken erkannt. Bewegungslos im Glas.
Mit ihren Beinen wie Ästchen, wie vertrocknet.
Fein und gerade. An den Gelenken ineinander passend
wie die Rohre in den Rohbauschächten.
Ich war so oft dort, habe den Bauzaun aufgeschlossen
und bin auf dem Gelände umher gegangen. Habe die
Ohren gespitzt und in der Luft gewittert. Vielleicht,
daß der Kompressor summt oder daß der Zement
riecht. Nachts liegen die Baustellen brach. Sie sind
wehrlos wie allein gelassenes schlafendes Nutzvieh.
Sie knirschen, wenn man die frisch gegossenen Betonstufen
hinauf läuft und dabei überstehende Kieskrümel
zermahlt. Der Wind pfeift auf ihnen. Auf den Kabelenden
und den Stahlruten, die aus den Wänden starren.
Die unfertigen Häuser leben. Die Rohbauten husten.
Wenn der Wind Abdeckplanen aufwirft und an Kanten schlägt
... die Lider, mit denen sie blinzeln. Schwarze Kunststoffeimer
rollen umher. Krachen leise. Stahlgitter wippen und
wimmern. Schwingen nach wie Geigensaiten, wenn man auf
sie tritt. Mit einem Quietschen hoch oben am Überlauf,
schwingt ein großer schwerer Haken an einem Stahltau.
Ein Hammer schlägt dumpf im Sandhaufen auf. Eine
Bohrmaschine kracht. Ihr Gehäuse zerbricht, als
sie auf Hohlblocksteine trifft. Dämm-Material,
Styropor und Mine-ralwolle schwelen mit kaum erkennbarer
Glut vor sich hin. Stinken. Zementstaub schlägt
in Wolken hoch, wenn ein Pickel die Säcke aufreißt.
Und das graue Pulver in der Grube mit den glasierten
großen Tonrohren klumpt, wo das Wasser steht.
Die Gräben hin zur Straße zum Kanal. Ein
Geräusch verpufft in sich selbst. Es hat das giftige
Zischen im angehaltenen Atem: Wenn der Schraubenzieher
sich endlich durch das Hartgummi am Baggerreifen bohrt.
Beim soundsovielten Schlag mit dem Vorschlaghammer.
Das gelbe geriffelte Plastik an Stromkabelummantelungen
platzt über halbe Meter hin. Öl melkt sich
selbst aus der durch-schlagenen Wanne des Lasters. Die
trockenen Bohlen zittern. Asynchron. Bei ihrem Flug
vom Gerüst. Martin, brüllt Meinhard, sehen
sie sich an, was man ihrem Werk antut! Er reibt sich
den dann schlagartig eingefallenen Bauch. Holzmann,
sagt er und legt mir die Hand auf die Schulter, warum
macht jemand so was, wir werden Wachen aufstellen müssen.
Er kratzt sich am Bart. Er summt abwesend. Er brummt.
Die Baustelle gehört doch allen. Er schüttelt
den Kopf. In den frischen Schnitten an meinen Händen
- tief in die Jackentaschen gestoßen - brennt
der Zementstaub.
Dann die letzte Rast. Noch einmal Atemholen. An der
Auffahrt zur Brücke über den Rhein. Gelaufen
bis dorthin. An einem Stück. An der Baustelle wird
alles vorbereitet sein: ich werde Martins Zeichnung
begraben.
Alexandra ging vom Fenster weg in die Mitte des Zimmers.
Wandte sich nach der Spirale mit ihren Fotografien um.
Sie hat sie im Dunkel unmöglich erkennen können.
Sie wußte, daß das die Bilder sein mußten,
die ich von ihr geschossen hatte. Erschrak aber doch,
als ich das Licht anmachte. Sie ging näher heran.
Ging ohne ihren Blick abzuwenden um die Couch herum
und stellte sich nah vor die Bilder. Sie stand lange
so da. Veränderte ab und zu ihre Position, um genau
vor einem anderen Bild zum Stehen zu kommen. Beugte
sich bei manchen weiter vor. Wollte Details genauer
sehen. Wenn ihr Gesicht fast eine Fotografie berührte,
mußte sie sich doppelt sehen: auf der Fotografie,
wie ich sie vor Tagen oder Wochen festgehalten hatte
... in die Gegenwart hinein geschnitten. Zudem so, wie
sie jetzt vor dieser Wand mit der Spirale stand: ihr
Gesicht als Spiegelung auf dem Fotopapier. Ich betrachtete
sie in der Scheibe. Sie sah still nach den Bildern.
Wippte kaum in ihren Sportschuhen. Ihr Haar war offen.
Sie nagte vielleicht ein wenig an ihrer Unterlippe.
Mit dem Schließen der Tür machte sie diesen
Film aus.
Dann meine Kehle, sie wird brennen wie ausgedorrt.
Der Gestank des Kerosins in meiner Lunge. Alexandra
wird meine Wunden lecken. Meine versengten Wimpern.
Die stoppeligen Haarreste auf meinen Unterarmen. Sie
wird mich im Schein des Feuers umarmen, nachdem ich
sie zur Brandstelle geführt habe. Das Zentrum der
Stadt. Die Baustelle, unter deren ko-chender Erde Martins
Zeichnung ins Nichts verkohlt. Meine Aufgabe wird vollendet
sein. Zur Musik der Martinshörner werden wir durch
die raucherfüllten Straßen wanken. Hustend.
Die letzten Überlebenden. Sie streicht mir über
den heißen Kopf. Wenn wir uns küssen, blecken
wir glücklich die Zähne.
Ich werde zum letzten mal über diese Straße
gegangen sein. Über diese Kreuzung. Die ich seit
Wochen nicht mehr wiedergesehen habe. Die ich sofort
wiedererkenne. Auf der anderen Seite, eine Ampelphase
entfernt, wartet ein hohes Gebäude. Ein Triumph
der klaren Form. Im vierten Stock hinter einem Fenster
vielleicht schon jetzt eine Silhouette. Sonst, nach
den Abendessen mit Martin, hat sie von dort mein Weggehen
beobachtet.
Nur noch an dieser Ampel vorbei. In den hohen Flur,
in dem ich damals stand. Irgendwann nach Mitternacht.
Schon fast auf Höhe des zweitens Stockes. Ich hatte
noch einmal hoch gesehen. Weil Martins von mir gesiezte
Frau sich dort oben übers Geländer lehnte
und mir tonlos und scharf hinterher pfiff. Übrigens,
Herr Holzmann, flüsterte sie laut, ich heiße
Ale-xandra. Und du? fragte sie. Ihr Haar wippte vor
ihrem Gesicht. Holzmann, sagte ich, einfach Holzmann.
Am Ende nur noch eine Ampelphase. Gehen ... sagt Alexandra
bei Grün. Stehen ... sagt sie bei Rot. |