26. Tage der deutschsprachigen Literatur

Eine Veranstaltung der Landeshauptstadt Klagenfurt und des ORF Landesstudios Kärnten in Zusammenarbeit mit 3sat und freundlicher Unterstützung der Telekom Austria.

Tage der deutschsprachigen Literatur 2002 - die aktuellen Informationen

Jörg MattheisText

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SCHNITT

Seit ich hier bin, verbringe ich die Abende so. Die Anfänge der Abende. Ich sehe vom Fenster weg ins Dunkel meines Zimmers, in dem die Möbel abwechselnd grün und rot schimmern wie Maschinen, die sich ausruhen. Sehe auf die Kreuzung mit den Ampeln, kann nicht glauben, daß es noch nicht einmal November ist. Alexandra gefiel es, so mit mir am Fenster zu stehen. Ständig wechseln die Farben, sagte sie. Alexandra war erst einmal hier. Einmal stand sie hier neben mir. So beginnen im Film die Abende, die man zu zweit verbringt.

Alexandra beobachtete, wie die Dämmerung in den Tag sickerte. Wir sahen das Licht seine Farbe wechseln, und ich wunderte mich, wie Alexandra es schaffte, so lange still zu stehen. Ich kannte sie bis dahin nur in Bewegung, in schneller bestimmter Bewegung auf dem Ha-lenparkett. Sie kommandiert, wischt Schweiß, schleudert Arme, ist selbst im kurzen Innehalten noch das auslaufende Ende einer Bewegungsschleife. Zugleich bereits die kommende Bewegungsexplosion. Die Spannung in allen Sehnen ihres Körpers, selbst in den Wimpern und den weißen Nägeln - so fest hält sie den großen roten Ball. Leicht vornüber gebeugt steht sie da. Alexandra wippt in den Knien von links nach rechts und wieder nach links, täuscht an, duckt sich und schnellt wieder hoch, spurtet los, legt sich in die Kurve und um-äuft eine Gegnerin, den Ball, der immer wieder zu ihrer Hand zurückkehrt, stößt sie zu Boden mit allen Fingern der rechten Hand, bei jedem Schritt hin zum Korb. Aber hier am Fens-ter in meinem Zimmer stand sie still. In Alexandras Gesicht sah ich, wie sich hinten über dem Sofa schwarz die Rechtecke der Fotografien spiegelten.

Alexandra hatte das Zimmer nur als Ganzes, als einen in Dämmerung liegenden Raum wahr genommen. Erst als ich später das Licht anmachte, sah sie die Bilder. Silhouetten, verwischte Sprünge, Schweißtropfen auf glänzender Haut. Schwarzweißfotografien von Alexandra. Die zerstückelten Bewegungen der Spielerin in einer Spirale angeordnet. Zuerst hatte ich unterschiedlich große Abzüge gemacht. Später versucht, sie säuberlich aufzureihen. Sieben Reihen von je sieben Fotografien in dünnen Metallrahmen. Dann hatte ich die Bilder aus den Rahmen heraus genommen und sie frei arrangiert, aber auch damit war ich nicht zufrieden. So daß ich sie eine Weile immer wieder zu einer neuen wahllosen Hängung zusammen stellte. Bis ich bemerkte, daß ich der Drehung der Spirale folgen sollte. Der Figur, die Meinhard inzwischen nicht mehr sehen will auf meinem Schreibtisch oder auf meinem Reißbrett. Keine Spiralen mehr, Holzmann, sagt er, und keine Kreise, Sie haben eine Aufgabe. Er raunt es geradezu, auf seine verheißungsvolle Art. Die Aufgabe, Holzmann.
Ich habe die Bilder von Alexandra dann noch einmal abgezogen - alle in der gleichen Größe. Habe sie zu einer engen Spirale geordnet und war endlich zufrieden. Mit der Abfolge experimentierte ich: abwechselnd Detail- und Ganzkörperaufnahmen. Oder Spielzüge - Alexandra, wie sie eine Idee hat, wie sie zum Korb läuft und wie sie sich über einen Zweipunktewurf freut ... Oder in der Mitte der Spirale mit einer verwischten Aufnahme beginnend nach außen ... um an der Öffnung mit einem Porträt von Alexandra zu enden. Alle diese Pläne verwarf ich wieder.

Meinhard würde mich inzwischen nicht mehr einstellen. Ich weiß nicht, warum er mich überhaupt noch hält. Am Ende ist Meinhard ein Menschenfreund. Das wäre lächerlich. Es ist nicht, daß ich nicht weiß, was man wissen muß, um Architekt zu sein. Es ist nur, daß ich nicht kann, was ich können soll, um bei Meinhard Architekt zu sein. Daß ich nicht planen will, was er mir zu planen aufgibt. Erst mal nur Ideen, sagt Meinhard. Aber denken Sie an unsere Vorgaben, Holzmann: Glas, Beton, Chrom, Stadtarchitektur, Holzmann, Stadterlebnisse! Und am Ende, sagt er und kommt ins Dozieren, bringen Sie das ein, was sie lieben: in kleinen Tupfen vollenden sie das Areal mit Natur. Das ist die Kunst der Innenstadt, Holzmann, sagt er und lacht über meinen Namen. Dann wirft er mit seinem Stift Eckiges und Kantiges über meine Zeichnungen und zuckt zurück. Ist das von mir? fragt er und meint das Blut, das an den unteren Rändern meiner Papiere rotbraune Streifen hinterlassen hat. Aber das Blut ist da, weil ich mir häufig den Zirkel oder das Zeichendreieck in die Hand gerammt hatte.
Der glaubt einfach an dich, sagt Martin von seinem Platz aus, nachdem Meinhard wieder hinaus gegangen ist. Martin und ich sehen einander an und wir überlegen, warum Meinhard an mich glaubt. Außen an unserer Bürotür klebt ein Schild, auf dem steht ENTWURF. Es sieht aus wie ein Laserdruck, ist aber von Martin gemalt. Ihr seid meine Kreativabteilung, sagt Meinhard, mein Thinktank, sagt er, kommt mal her. Dann setzt er sich lässig auf meinen Schreibtisch und wir müssen uns vor ihn stellen. Wir sollten jetzt hemdsärmelig aussehen. Voller Tatendrang. Wie in einem Werbespot für eine Versicherung. Drei Siegertypen. Und Meinhard erklärt uns, wie wir die Welt erobern werden. Also paßt auf, sagt er, Projekt Lotharpassage. Er wirft die Hände und Arme von sich. So klaubt er sich das Material für sei-ne Beschreibungen aus der Luft. Er läßt die Arme und Hände wieder niedersausen und um plötzliche Ecken rucken. Schlägt Blöcke in die Luft. Skizziert ein Stadtviertel, läßt es auferstehen. Läßt die Menschen darin umhergehen und darin arbeiten und essen und sich begegnen. Aus Martin weicht langsam die Anspannung. Seine Schultern wölben sich auf zu neuer Sicherheit. Seine Augen verlieren das Dunkle, das sie immer dann fast verschließt, wenn er sich angestrengt konzentriert. Martin lächelt.

Stehen, sagt Alexandra, wenn das Licht auf Rot wechselt. Dann scheint sie die Luft anzuhalten, bis es wieder Grün wird. Gehen, sagt sie, wenn es passiert. Hier oben weiß man immer, ob man gehen kann oder stehen muß, sagt sie. Lächelt in der Scheibe meines Fensters. Ein undeutliches Lächeln. Aufgehellt und dadurch zugleich verwässert von den Lichtern der anfahrenden Autos. Das Bild eines Gesichtes, durch das ich starre, während ich ihrem leise wiederkehrenden Refrain zuhöre: Gehen ... Stehen ...

Hier am Fenster koste ich die Spannung aus, die in mir ansteigt. Ich habe ja noch so viel vor, wenn es draußen stiller wird. Dann schaue ich nach den Eulen in den Tannen unterm Krankenhaus. Den Rehen, die vorsichtig im Stadtpark äsen. Den leeren, schaukelnden Pontons am Rhein, und über der Bahntrasse außerhalb der Stadt nach den Traubenklötzen, die verkümmert an halb entlaubten Reben hängen.
Oder ich gehe zu den Baustellen, schätze die Fallhöhe der Betonmischmaschinen und Kreissägen, die hoch in der Luft an den Haken der Kräne pendeln. Beobachte, wie der Wind in die Planen will, die flache Zementhaufen gegen Regen schützen. Wie er um Fundamentgruben an rotweißen Bändern zerrt.
Abends hier oben, über der Kreuzung weiß ich nur, daß ich hinaus gehe. Nicht, welche Kraft stärker sein wird. Ich warte, bis ich Kopfschmerzen bekomme. Dann laufe ich los.

Das Scharren und Quietschen von Alexandras großen, kräftigen Sportschuhen auf dem Hallenparkett, wenn sie angriff. Oder wenn sie hastig drehend zurück hechtete, um den eigenen Korb zu schützen. Ihr Keuchen. Das Knacken in ihren Gelenken. Oder wenn der Ball in ihre Hände klatschte nach dem Paß einer Mitspielerin. Ihr dunkles langes Haar hatte sie zusammengebunden hinter dem Kopf, damit es sie nicht behinderte. Schweiß lief ihr unterm Haar heraus über die Schläfen. Schweiß dunkelte ihr graues Shirt auf dem Rücken, vorne zwischen den Brüsten und unter den Achseln. Wie sie sich abstieß vom Boden und einen Wurf zum Korb ansetzte. Oder in den Wurf einer Gegnerin flog. Sie keuchte laut, sie rief nach ihren Mitspielerinnen. Sie fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn und trocknete ihre Handflächen an der Seite ihrer weiten, kurzen Hose, bevor sie einen Freiwurf ansetzte. Dann stand sie wippend auf ihren muskulösen Beinen. Die Unterschenkel angespannter, als ihre Haltung es erwarten ließe. Den linken Fuß einen halben Schritt vor dem rechten, direkt hinter der Wurflinie. Sie drehte den Ball in den Händen und leckte sich die Lippen dabei, sah irgendwohin. Zu Boden. Ein leerer, konzentrierter Blick, bevor sie den Kopf hob und den Korb erfaßte. Sich noch einmal die Lippen leckte. Mit den Lidern flackerte. Keines der aus dem Knoten gelösten Haare störte mehr. Endlich holte sie tief Luft und warf. Bildete mit ihrem gesamten Körper den Anfang einer Parabel nach, auf die sie den über ihre Finger abrol-lenden Ball schickte, damit er sich in den Korb senkte.
Der synthetische, holzige, leimige Geruch des Hallenbodens, auf dem ich kauerte um sie beim Spielen zu fotografieren. Er war durchwoben von leichten Schweißböen, wenn die Spielerinnen in ihrer spontanen Choreographie immer wieder nahe an mir und meiner Kamera vorbei liefen.

Martin hat Angst, daß ich nichts esse in meinem Zimmer. So schlecht und so müde, wie ich aussehe. Deswegen lud er mich zum Essen ein. Vierter Stock, sagte er über die Sprechanlage. Die Tür war offen. Mitten an der großen Wand gegenüber stand das Terrarium. Ich sah nur dünne Pflanzen darin. Keine Echse oder Schlange.
Martin stand in der Küchentür und grinste. Komm doch hier rein, sagte er, du kannst mir helfen. Wir tranken Rotwein und schnitten Fleisch und Gemüse. Martin warf ab und zu einen besorgten Blick zu mir herüber. Auf meine Hände und das Messer darin. Aber nach einer Weile beruhigte er sich.
Irgendwann schlug die Wohnungstür zu. Leichte Laufschuhe klatschten auf die Fliesen, nicht die schweren Sohlen von Basketballschuhen, die ich später zu fotografieren begann. Martins Frau kam herein, zog den Reißverschluß ihrer Jacke auf. Hi, sagte sie und streckte mir ihre feuchte Hand entgegen. Sie roch nach sich selbst. Natürlich. Frisch. Roch nach einer überfälligen, endlich gemähten Wiese. Sie trank in langen Zügen aus einer Flasche mit stillem Wasser. An den Schläfen klebten Haarsträhnen. Schön daß du mal herkommst, sagte sie. Bei ihrem angestrengten Schnaufen, unter dem ihr Atem nach seinem gewöhnlichen Rhythmus suchte, klang das wie ein Vorwurf. Ich geh noch duschen, sagte sie dann. Siehst du - sagte Martin, das macht sie immer so. Sie läßt einen warten, sie braucht das, sie steht immer unter Spannung ... auch ihr Sport ... Freiheitsdrang eben, aber überzogen. Er grinste und stellte das Gas kleiner.

Mein Gesicht in der Scheibe undeutlich. Die Augen zwei dunkle Höhlen, tief im Schädel. Vol-ler leerer Schwärze. Daß ich krank aussehe, sagte Alexandra. Hier vorm Fenster. Sie hob ihre Hand, strich sich dann ihr Haar damit hinters Ohr. Zog die Lippen ein. Senkte das Gesicht und hustete.
Du siehst scheiße aus, sagt Martin, schlaf endlich mal. Was machst du die ganze Nacht?
Ich erzähle ihm nichts von den Eulen. Von dem Rauschen der südwärts ziehenden Gänseschwärme. Den Sternbildern, die hier über der Kreuzung nicht zu erkennen sind. Weil der Nachthimmel getrübt ist vom Rot und Grün der Ampeln und von den Doppelkegeln Licht der Autoschnauzen. Und ich erzähle nichts von der Elektrik eines Rüttlers. Von Dämm-Material, dickwandigen Baggerreifen oder dünnwandigen Kupferrohren.

Das erste Essen bei Martin. Ich bekam Krämpfe in die rechte Hand vom Essen mit Stäbchen. Wir lachten, wenn wir alle drei gleichzeitig die Schalen zum Mund hoben. Laut Reste aus dem Porzellan schlürften. Versehentlich siezte ich Martins Frau und wir machten uns einen Spaß daraus, uns alle gegenseitig zu siezen. Den ganzen Abend lang sprachen wir uns mit unseren Nachnamen an.
Später Ruhe. Martins Frau hatte ihre übereinander geschlagenen Arme auf der Tischplatte, den Kopf auf diesen Armknoten gelegt. Martin kraulte sie im Genick. Die Wüste, sagte er und erzählte von seinen Reisen nach Nordafrika und in die Trockengebiete Südeuropas, nach Spanien. Die Wüste, sagte er immer wieder. Seine Hand fuhr dabei langsam und gerade durch die Luft. Schnitt den heißen Wüstenwind vorsichtig in Scheiben. Oder begradigte den Kamm einer Sanddüne. Man konnte den Sand sehen. Wie er ihn einfach glättete zu einer Fläche. In die man Figuren hätte zeichnen wollen. Er erzählte von Sand in den Schuhen und Blasen an den Füßen, von unbeschreiblichen Sternenhimmeln und Arabern mit Kamelen und allen möglichen Kleinigkeiten, die ich vergessen habe, weil ich immer, wenn er Wüste sagte, doch an das handgeschriebene, aber wie gedruckt wirkende Schild an der Bürotür denken mußte. Da hab ich mir auch die Tiere mitgebracht, sagte er und zeigte mit dem Kinn zum Terrarium. Auf das trockene Gestrüpp.

Im Dunkel sind die Fotografien nicht zu unterscheiden. Da ist einfach eine Spirale aus Rechtecken. Spiegelnde Bilder an der Wand. Eine riesige Schnecke. Anfangs hatte ich Farbfotografien gemacht, weil ich Alexandra auf den Bildern wollte, wie ich sie in Wirklichkeit sah. Aber ich sah sie auf den Bildern dann doch nicht so. Ich verstand, daß ich ihr mit Schwarzweißfotografien näher komme. Nur mit Licht und Schatten. Ich wechselte außerdem das Material aus. Ich nahm grobkörnigeres, zuletzt sehr grobkörniges. Ich belichtete lange. Damit ihre Bewegungen auf den Filmen verwischten. Ich fotografierte Filme voll. An einem Trainingsabend ein Dutzend. Ich schoß ganze Serien, entwickelte diese Serien und legte sie nebeneinander. Legte sie übereinander in meine Linke und blätterte sie auf mit meiner Rechten wie ein überdimensionales Daumenkino mit dem Titel ‘Alexandra spielt’. Aber ich habe sie dann doch immer nur in einzelnen Fotografien gefunden. Einzelne. Die aus den Abläufen heraus fielen.

Holzmann, sagt Meinhard, wir müssen voran kommen, wir müssen etwas Großes aufbauen, Holzmann - das wollen sie doch auch. Zuerst sinken seine starken Brauen tief über den Augen. Dann sinken die rot geränderten Lider tief über die Augäpfel. Die Pupillen verdunkeln sich, wenn er über die von mir gezeichneten Grünflächen sieht. Fächerformen und Schlan-genlinien. Ja, Holzmann, sagt er dann laut und pumpt den Bauch voll Luft, Holzmann wo leben Sie denn? Das! so ruft er und wedelt über dem Tisch, das ist doch kalter Kaffee, das ist Landschaftsmalerei. Mensch Holzmann, sagt er. Spricht immer wieder diesen Namen aus. Den Namen, über den er lacht, wenn er von Beton, Glas, Stahl, von Chrom und der Funktionalität der Kante doziert. Mensch Holzmann, das Jahrtausend geht zu Ende! Seine Augen leuchten auf. Meinhard und Holzmann, was Martin? ruft er über die Schulter und Martin lächelt fein. Die Lotharpassage, sagt Meinhard, ihre Aufgabe Holzmann, lassen Sie sich nicht narren. Geben Sie uns eine Innenstadt, die den Namen verdient. Urbanität, Holzmann, Werkstatt und Wohnung des Metropolenmenschen, verstehen Sie? Schreiten Sie voran, Holzmann, nicht zurück. Das Blut auf der Zeichnung verblaßt beim Trocknen, daß es aussieht wie Rost. Und was tun Sie nur mit Ihren Händen, Holzmann? schnauft Meinhard.

Spät abends drehe ich meine Runden. Häufig am Rhein. Muscheln suchen. Ohne Erfolg. Ich lege mich auf einen der schaukelnden Pontons, bis die Kälte feucht durch meinen Mantel kriecht. Dann gehe ich spazieren am Ufer. Schlittere auf dem glatten Pflaster. Platsche im Wasser wie ein Kind, bis meine Schuhe durchnäßt sind. Auf dem Ponton rieche ich den Fluß. Seinen Geruch nach Verdorbenem. Erdigem. Ich höre die Enten mit ihren Flügeln auf die Oberfläche schlagen und einander beschimpfen. Irgendwann stiehlt sich in den fast faulen Geruch des Wassers der ölige der Schiffe.

Eine der alten Zeichnungen Martins habe ich mit nach Hause genommen. Sie liegt auf dem Couchtisch unter den Bildern von Alexandra. Die Zeichnung eines Bürogebäudes. Sie ist verwaschen von Regen und Schweiß. Das Papier ist zerknittert und angestoßen. Es hat feine und grobe Risse. Nicht nur an den Rändern. Aber ich muß die Zeichnung nicht mehr sehen. Ich kenne jede einzelne Gerade. Jeden Punkt, an dem Geraden spitz aufeinander tref-fen zu einer Ecke. Sehen Sie, Holzmann, sagt Meinhard, ein hohes Lied auf den Purismus der Kante, auf den Konsens der Fläche. Das ist heute der goldene Schnitt, Holzmann! Seine Hand macht vorsichtige gerade Bewegungen in der Luft. Als taste er Fließbeton ab. Und Holzmann, leckt Meinhard sich die Lippen, Spucke scheint ihm im Mund zusammen zu laufen, wenn er nach Worten sucht ... die Größe der Kreatur, sagt er, die Größe des neuzeitlichen Menschen, wenn er eine solche Klarheit sich zu schaffen imstande ist, erst recht, wenn er in dieser Klarheit die Pointen setzt! Meinhard strahlt mich an, er wartet nicht, bis ich ihm antworte. Hier hinein eine Topfpflanze auf die ein oder andere Fensterbank. Holzmann, brüllt er und schwitzt vor Freude, ist das nicht vortrefflich? Und er haut Martin auf die Schulter, der die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben hält.
Ich erinnere mich an jeden von Martin gesetzten Strich auf der Zeichnung. Ich kenne den Rohbau. Wie viele andere in der Stadt erfährt er von Zeit zu Zeit einen Rückschlag. Wenn einer der Kräne morgens nicht mehr funktionieren will oder der Sicherungskasten der Baustelle verbrannt ist.
Rolle ich die Zeichnung aus auf dem Tisch, beschwere ich sie an den Ecken. Später am ganzen Rand. Dann auch in der Innenfläche. Wie bei einem Puzzle, das nur ich allein zusammensetzen kann. Ich beschwere sie, damit sie sich nicht wieder einrollt. Mit Muscheln und mit großen Schneckengehäusen. Süßwasserschnecken und Meeresschnecken. Alle Sorten Muscheln. Ich lasse mir Schnecken und Muscheln mitbringen aus Urlauben und ich kaufe mir Schnecken und Muscheln in den kleinen Läden der Türken und Chinesen. Am Ende lege ich genau in die Mitte der Zeichnung ein riesiges spitz auslaufendes Schnecken-haus, das Martin und seine Frau mir von den Malediven mitgebracht haben. Mach die Augen zu, sagte sie, nahm sicherlich in einer rund fließenden Bewegung ihre großen Hände hinterm Rücken hervor und legte mir etwas in die Handflächen. Sie sagte: Aufmachen ... zum Verkriechen. Aber nicht so tief, sagte Martin und zupfte seine Serviette gerade. Ich hielt mir die Muschel ans Ohr, schaute nach dem Gestrüpp in Martins Terrarium. Die Muschel rauscht kaum.

Alexandra spürte den fein genoppten Kunststoff des Balles an ihren Handflächen. Anfangs war sie überrascht, mich in der Halle zu sehen, während sie sich aufwärmte, warm lief, die Muskeln dehnte. Sie stockte und überlegte. Vielleicht, wann sie erwähnt hatte, daß sie hier Basketball spiele. Zu mir herüber kam sie nicht. Sie spielte damals nicht gut, nicht an diesem Abend. Doch das störte mich nicht. Sie gewöhnte sich an mich und an die Kamera. Je öfter ich kam, desto besser spielte sie. Ich schoß sehr harte Bilder. Ich zerschnitt, zerhackte ihre Bewegungen so scharf ich nur konnte. Die entwickelten Bilder hatten die Plötzlichkeit eines Erschreckens. Oder einer ungeahnten Verunsicherung. Vereinzelte Momente ohne Zusammenhang, so daß Alexandras im Zoom fest gehaltener Blick oft aus dem Spiel gerissen war. Und sie aussah, als wolle sie schreien vor Furcht. Aber dann ließ ich den Finger auf dem Knopf. Schoß ganze Serien. Ich dachte sogar daran, sie zu filmen wie sie lief, fing und warf. Endlich, nach Wochen, schoß ich nur noch verzerrte, verwischte, grobkörnige Bilder. Ale-xandra war kaum mehr darauf zu erkennen. Oder gar nicht mehr. Was ich da mit meinen Fotografien aus der Wirklichkeit des Hallenspiels schnitt, hätte jede ihrer Mitspielerinnen sein können. Nur mein Wissen unterschied sie.
Hier am Fenster sehe ich die Bilder als schwarze Rechtecke gespiegelt. In der ersten Spirale, die ich gelten ließ, hatte ich die Bilder chronologisch angeordnet. Ich hatte innen begonnen. Zuletzt mußte ich auch das ändern. Jetzt laufen die Bilder zeitlich rückwärts zur Mitte. Die letzte Fotografie habe ich keine Woche, bevor Alexandra zu mir kam, fotografiert. Sie kommt ihr vielleicht am nächsten. Sie ist nahezu unkenntlich. Ein Ausschnitt ihres Halses und ihrer Schulter. Glänzend vor Schweiß und Gegenlicht. Durchbrochen von einer aus dem Knoten los gelösten Locke und ihrer Hand ... die an ihrer Schulter vorbei hoch zielt, um einen Ball aufzunehmen. Das Bild hängt neben dem Mittelpunkt. Das Zentrum der Spirale ist leer.

Dir fehlt Bewegung, du solltest laufen gehen, spricht Alexandras Spiegelbild zur Kreuzung hinunter. Als sie das sagte, war ich noch zögerlich unterwegs. Tappte drei Schritte und blieb wieder stehen. Ich verkroch mich im feuchten Gras im Stadtpark. Wartete auf die Gänse. Vielleicht sind sie längst schon im Süden. Oder fliegen überhaupt nicht hier vorüber. Aber ich hoffe, daß sie eine ihrer uralten Routen hier entlang führt. Daß sie gerade über mir keilförmig den Wind brechen.
Den Sommer über fliegen die Eulen zwischen den großen Tannen unterm Krankenhaus. Sie rufen einander. Fliegen Tannenspitze um Tannenspitze an. Ich bin der einzige, der ihnen zusieht dabei. Wie rufen sie? fragte Alexandra. Aber ich kann es nicht nachmachen. Erst recht nicht so früh am Abend. Noch durcheinander von Meinhard und Martin. Ich kann es mir nicht vorstellen, sagte sie. Sie lehnte ihren Kopf an das Fenster. Sie bemerkte, wie es vibriert, wenn ein Auto anfährt. Sie ist größer als ich und schlanker. Sie hält ihre Hände in den Armbeugen. Ihre Finger sind lang. Sie kann einen Ball mit einer Hand festhalten. Die Nägel hält sie unwahrscheinlich rund und immer kurz. Damit sie nicht stören im Spiel. Alexandra ist zum ersten mal hier. Sie ist wegen der Bilder gekommen, doch sie sagt nichts davon. Ich habe vergessen, ihr etwas zu trinken anzubieten. Wir haben nie über die Bilder gesprochen. Ich habe ihr nie gesagt, warum ich diese Bilder mache von ihr. Sie hat mich nie danach ge-fragt. Komm Dienstag nicht ins Training, sagte sie, ich komme zu dir. Ich vollendete recht-zeitig die Spirale. Mit dem letzen Bild nahe der Mitte war sie fertig: ihre verwischte Schulter, ihr verwischter Hals, durchbrochen von ihrer fahrigen Hand und einer wehenden Locke. Ich mußte keine Fotografie mehr schießen von Alexandra. Dann kam sie zu mir. Es war schon fast dunkel im Zimmer. Sie ging sofort hinüber zum Fenster. Schaute sich nur flüchtig um im Zimmer. Sah statt dessen unentwegt hinunter auf die Kreuzung. Ihr Gesicht leuchtete abwechselnd rot und grün. Sie roch nach der Duschseife, mit der sie sich nach dem Training gewaschen hatte.

Martin räumte den Tisch ab. Seine Frau legte ihre Füße auf die Platte. Wo eben noch ihr Teller stand. Ich hätte gerne mal ein Haus mit Erkern, irgendwo draußen, sagt sie. Wo man auf den Rhein runter gucken kann. Und wo man Tiere halten kann, alle Sorten. Sie will Hunde, sagt sie, schnelle, springende - richtige Tiere eben, sagt sie, nicht nur so was und sie lacht mit Martin, der sich über das Terrarium beugt. Erst da - beim zehnten Besuch vielleicht - habe ich die Stabschrecken erkannt. Bewegungslos im Glas. Mit ihren Beinen wie Ästchen, wie vertrocknet. Fein und gerade. An den Gelenken ineinander passend wie die Rohre in den Rohbauschächten.

Ich war so oft dort, habe den Bauzaun aufgeschlossen und bin auf dem Gelände umher gegangen. Habe die Ohren gespitzt und in der Luft gewittert. Vielleicht, daß der Kompressor summt oder daß der Zement riecht. Nachts liegen die Baustellen brach. Sie sind wehrlos wie allein gelassenes schlafendes Nutzvieh. Sie knirschen, wenn man die frisch gegossenen Betonstufen hinauf läuft und dabei überstehende Kieskrümel zermahlt. Der Wind pfeift auf ihnen. Auf den Kabelenden und den Stahlruten, die aus den Wänden starren. Die unfertigen Häuser leben. Die Rohbauten husten. Wenn der Wind Abdeckplanen aufwirft und an Kanten schlägt ... die Lider, mit denen sie blinzeln. Schwarze Kunststoffeimer rollen umher. Krachen leise. Stahlgitter wippen und wimmern. Schwingen nach wie Geigensaiten, wenn man auf sie tritt. Mit einem Quietschen hoch oben am Überlauf, schwingt ein großer schwerer Haken an einem Stahltau. Ein Hammer schlägt dumpf im Sandhaufen auf. Eine Bohrmaschine kracht. Ihr Gehäuse zerbricht, als sie auf Hohlblocksteine trifft. Dämm-Material, Styropor und Mine-ralwolle schwelen mit kaum erkennbarer Glut vor sich hin. Stinken. Zementstaub schlägt in Wolken hoch, wenn ein Pickel die Säcke aufreißt. Und das graue Pulver in der Grube mit den glasierten großen Tonrohren klumpt, wo das Wasser steht. Die Gräben hin zur Straße zum Kanal. Ein Geräusch verpufft in sich selbst. Es hat das giftige Zischen im angehaltenen Atem: Wenn der Schraubenzieher sich endlich durch das Hartgummi am Baggerreifen bohrt. Beim soundsovielten Schlag mit dem Vorschlaghammer. Das gelbe geriffelte Plastik an Stromkabelummantelungen platzt über halbe Meter hin. Öl melkt sich selbst aus der durch-schlagenen Wanne des Lasters. Die trockenen Bohlen zittern. Asynchron. Bei ihrem Flug vom Gerüst. Martin, brüllt Meinhard, sehen sie sich an, was man ihrem Werk antut! Er reibt sich den dann schlagartig eingefallenen Bauch. Holzmann, sagt er und legt mir die Hand auf die Schulter, warum macht jemand so was, wir werden Wachen aufstellen müssen. Er kratzt sich am Bart. Er summt abwesend. Er brummt. Die Baustelle gehört doch allen. Er schüttelt den Kopf. In den frischen Schnitten an meinen Händen - tief in die Jackentaschen gestoßen - brennt der Zementstaub.

Dann die letzte Rast. Noch einmal Atemholen. An der Auffahrt zur Brücke über den Rhein. Gelaufen bis dorthin. An einem Stück. An der Baustelle wird alles vorbereitet sein: ich werde Martins Zeichnung begraben.
Alexandra ging vom Fenster weg in die Mitte des Zimmers. Wandte sich nach der Spirale mit ihren Fotografien um. Sie hat sie im Dunkel unmöglich erkennen können. Sie wußte, daß das die Bilder sein mußten, die ich von ihr geschossen hatte. Erschrak aber doch, als ich das Licht anmachte. Sie ging näher heran. Ging ohne ihren Blick abzuwenden um die Couch herum und stellte sich nah vor die Bilder. Sie stand lange so da. Veränderte ab und zu ihre Position, um genau vor einem anderen Bild zum Stehen zu kommen. Beugte sich bei manchen weiter vor. Wollte Details genauer sehen. Wenn ihr Gesicht fast eine Fotografie berührte, mußte sie sich doppelt sehen: auf der Fotografie, wie ich sie vor Tagen oder Wochen festgehalten hatte ... in die Gegenwart hinein geschnitten. Zudem so, wie sie jetzt vor dieser Wand mit der Spirale stand: ihr Gesicht als Spiegelung auf dem Fotopapier. Ich betrachtete sie in der Scheibe. Sie sah still nach den Bildern. Wippte kaum in ihren Sportschuhen. Ihr Haar war offen. Sie nagte vielleicht ein wenig an ihrer Unterlippe. Mit dem Schließen der Tür machte sie diesen Film aus.

Dann meine Kehle, sie wird brennen wie ausgedorrt. Der Gestank des Kerosins in meiner Lunge. Alexandra wird meine Wunden lecken. Meine versengten Wimpern. Die stoppeligen Haarreste auf meinen Unterarmen. Sie wird mich im Schein des Feuers umarmen, nachdem ich sie zur Brandstelle geführt habe. Das Zentrum der Stadt. Die Baustelle, unter deren ko-chender Erde Martins Zeichnung ins Nichts verkohlt. Meine Aufgabe wird vollendet sein. Zur Musik der Martinshörner werden wir durch die raucherfüllten Straßen wanken. Hustend. Die letzten Überlebenden. Sie streicht mir über den heißen Kopf. Wenn wir uns küssen, blecken wir glücklich die Zähne.
Ich werde zum letzten mal über diese Straße gegangen sein. Über diese Kreuzung. Die ich seit Wochen nicht mehr wiedergesehen habe. Die ich sofort wiedererkenne. Auf der anderen Seite, eine Ampelphase entfernt, wartet ein hohes Gebäude. Ein Triumph der klaren Form. Im vierten Stock hinter einem Fenster vielleicht schon jetzt eine Silhouette. Sonst, nach den Abendessen mit Martin, hat sie von dort mein Weggehen beobachtet.
Nur noch an dieser Ampel vorbei. In den hohen Flur, in dem ich damals stand. Irgendwann nach Mitternacht. Schon fast auf Höhe des zweitens Stockes. Ich hatte noch einmal hoch gesehen. Weil Martins von mir gesiezte Frau sich dort oben übers Geländer lehnte und mir tonlos und scharf hinterher pfiff. Übrigens, Herr Holzmann, flüsterte sie laut, ich heiße Ale-xandra. Und du? fragte sie. Ihr Haar wippte vor ihrem Gesicht. Holzmann, sagte ich, einfach Holzmann.
Am Ende nur noch eine Ampelphase. Gehen ... sagt Alexandra bei Grün. Stehen ... sagt sie bei Rot.

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