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Stefan
Beuse
Verschlußzeit
Auslöser. Vier, fünf mal hintereinander. Der Spiegel klappt
zurück. Dahinter das Bild auf der Filmebene. Seitenverkehrt. Auf dem Kopf
stehend. Verschlußzeit.
Sophies Zähne durchtrennen den äußeren Mantel. Wie immer:
erst das goldene Papier ab, dann die Mandeldecke hochheben, bis die
Waffelschale offenliegt. Sie schlägt die Beine übereinander. Ihre Mutter
hat jetzt angefangen zu erzählen. Die Geschichte ihres Großvaters.
Obwohl niemand da ist, der die Geschichte noch nicht kennt. Wie jedes
Jahr.
Sophie läßt sich zurückfallen und betrachtet den
goldschimmernden Haufen auf dem Tisch. Lauter kleine Schädeldecken.
Daneben Objektive, Filter, ein paar Gehäuse.
Sie beobachtet ihren Vater, wie er die 300er Optik in der
Linken balanciert und sich den Gurt über die Schulter zieht; mit
zusammengekniffenen Augen durchquert er das Zimmer. Sieh mich an, denkt sie, noch bevor sie das Aufnahmelicht der
Videokamera bemerkt, die vor der geöffneten Wohnzimmertür auf ein Stativ
geschraubt ist und den gesamten Raum überblickt: Hinten den Tisch mit
ihrem Geschenk. Im Vordergrund die Sitzecke; ihre Mutter mit dem Rücken
zur Kamera, sie selbst im Profil, wie sie ihren Sessel jetzt nah ans
Fenster rückt. Und natürlich ihren Vater, der ständig in Bewegung ist,
um alles einzufangen, Jäger und Sammler kostbarer Momente, Verwalter
eines lückenlosen Familienarchivs.
Gerade fokussiert er Sophies Mund, der sich um die
Schokoladenkugel schließt und kurz zuckt. Er sieht das Zucken, während
Sophie spürt, wie ihre Zunge die Waffelhülle durchdringt und in die
weiche Schokolade taucht, die den eigentlichen Kern umhüllt. Dann wieder
Auslöser.
Sophies Großvater war Ingenieur. Mit Sechzig bekam er eine
Krankheit, die ihm seine Erinnerung nahm, und in den letzten Jahren seines
Lebens schrieb er dicke Notizbücher voll, die ihm seine Sprache retten
sollten.
Am Anfang kannte ihr Großvater noch die meisten Worte. Er
hatte keine Probleme, in ein Geschäft zu gehen und die Dinge zu benennen,
die er brauchte. Doch mit den Jahren fiel es ihm immer schwerer, sich an
bestimmte Begriffe zu erinnern. Wenn er zum Beispiel Batterien für sein
Radio brauchte, ging er in ein Elektrogeschäft und sagte, ich brauche
das, was man haben muß, um sich beim Baden gut zu behandeln, denn er
hörte gern Musik, während er in der Badewanne saß. Natürlich konnten
die Verkäufer im Elektrogeschäft nichts damit anfangen. Sie verstanden
ihn nicht und schickten ihn in einen Sanitärladen, wo man ihm derart
aufdringlich einen neuen Duschkopf verkaufen wollte, daß ihr Großvater
traurig wurde und nach Hause ging.
Als er dann eines Tages im Supermarkt zufällig Batterien
sah, nahm er die Verpackung und schrieb sie ab. Er schrieb den gesamten
Text der Batterieverpackung in sein Notizbuch, weil er nicht wußte,
welches der vielen Wörter die richtige Bezeichnung für das war, was er
haben wollte. Über den Packungstext schrieb er in allerbester
Ingenieursstandarddruckschrift: Das
muß ich sagen, wenn ich das Gerät brauche, das mich beim Baden gut
behandelt. Diesen Satz unterstrich er mit Hilfe eines Lineals in zwei
Farben, und darunter schrieb er: Daimon
Sparpack 4 x 1,5 V Mignonzellen. Hält entscheidend länger als
herkömmliche Zink-Kohle Batterien, und bei allen künftigen Besuchen
im Elektrofachhandel las er dem Verkaufspersonal diesen Text vor.
Das ging eine Weile gut. Aber mit der Zeit war seine
Krankheit so weit fortgeschritten, daß er sich auch an die Bedeutung des
Wortes “Baden” nicht mehr erinnerte. Er mußte immer mehr Worte durch
andere Worte ersetzen. So übertrug er von Notizbuch zu Notizbuch seine
Gebrauchsanleitungen für das tägliche Leben, und er umschrieb fast jeden
Begriff durch die Verwendung des Wortes “behandeln”; er schachtelte
zahllose Relativsätze ineinander, in deren Zentrum es immer etwas zu
behandeln gab. Wenn er auf der Suche nach seinen Schlüsseln war, zog er
seine Frau am Ärmel, deutete auf die Tür und sagte, ich muß etwas
haben, um das zu behandeln. In der Sparkasse wollte er Geld abheben und
sagte der Bankangestellten, er brauche das Gerät, das ihn immer gut
behandele, und die Leute in den Geschäften fingen an, die Polizei zu
rufen, wenn er auftauchte.
Einmal saß er in einem Linienbus und fuhr von Endstation zu
Endstation, weil er vergessen hatte, wo er aussteigen mußte. Plötzlich
setzte sich seine Frau neben ihn. Sie war gerade vom Einkaufen gekommen
und wollte nach Hause fahren. Sie sah ihn nicht an, und sie sagte auch
nichts. Es war zwar ungewöhnlich, daß sie im Bus ihren Mann traf, aber
sie hatte ihm schon lange nichts mehr zu sagen. Was die Gespräche anging,
war mit ihm kaum noch was anzufangen. Seine Frau regte sich immer
furchtbar auf, wenn er die Dinge nicht beim Namen nennen konnte und schrie
ihn an, er solle endlich lernen, sich richtig auszudrücken. Sie haßte es
auch, wenn sie ihn dabei erwischte, daß er Büroklammern durchpauste und
den Zettel im Geschäft vorzeigte. Sie schämte sich dann für ihn. Als
eines Sonntags mehrere Verwandte zu Besuch gekommen waren, hatte ihr Mann
vor den Augen aller einen Finger in die Torte gebohrt und gesagt, ich muß
erst prüfen, ob mich das gut behandelt. Sie hatte ihn für den Rest des
Tages in sein Zimmer gesperrt wie einen kleinen Jungen und ihn erst wieder
rausgelassen, nachdem er versprochen hatte, daß so etwas nie wieder
vorkommen werde.
Als der Bus an der Station hielt, wo sie aussteigen mußten,
nahm sie seinen Ärmel und drückte ihm zwei Einkaufstüten in die Hand,
weil sie wollte, daß er ihr beim Tragen half. Doch ihr Mann erkannte sie
nicht und tobte und schrie, sie solle ihn in Ruhe lassen, er hätte sie
noch nie gesehen. Von da an erzählte er seiner Enkelin, daß er seiner
Frau längst den Hals umgedreht hätte, wenn er nicht so ein gutmütiger
und intelligenter Mensch wäre, und daß seine Enkelin ihm das Liebste auf
der Welt sei, sie und die Musik aus dem Fernseher, die ihn so gut
behandele. Ihr Großvater sah nämlich mit Vorliebe Musiksendungen, und
auf dem Fernseher standen drei goldgerahmte Portraitfotos von Sophie.
Jedesmal wenn sie kam, packte er sie am Handgelenk, zog an ihrem
Ohrläppchen und betastete ihren Schädel, denn ihr Großvater konnte
aufgrund gewisser Eigenarten in der Kopfform, anhand kleinster
Ausbeulungen oder Erhebungen im Knochengefüge, eindeutige Rückschlüsse
auf den Charakter ziehen. Er tastete seiner Enkelin also jedesmal auf dem
Kopf herum und befühlte ihre Ohrläppchen und sagte zu ihr, mein
Mädchen, du bist ein sehr guter Mensch. Was wäre ich froh, wenn ich
jemanden wie dich zur Frau hätte.
Als ihm die letzten Worte zu entgleiten drohten, begann er,
Beipackzettel und Gebrauchsanleitungen in seine ganz eigene Sprache zu
übersetzen. Eine Sprache, die nur er verstand und die sich ständig
veränderte, so daß er immer mehr Wörter brauchte, um sich von Notizbuch
zu Notizbuch zu erklären, was er damals gemeint hatte.
Als er 80 Jahre alt war, fing er an, die Dinge in seinem Haus
zu archivieren. Er ging dabei sehr systematisch vor. Zum Beispiel
archivierte er die Bücher, die in seinen Regalen standen, fortlaufend von
links nach rechts, durch alle drei Regale hindurch von oben bis unten. Das
erste Buch links im obersten Regal bekam die Nummer 1a. Das Buch daneben
die Nummer 1b. Undsoweiter. So konnte man in seinen Aufzeichnungen unter
der Nummer 2f lesen: Taschenweltatlas
und die Länder der Erde in 21 mehrfarbigen Karten und einem 10.000 Namen
umfassenden Register. Direkt daneben standen Der
Laie als Maler im eigenen Heim. Ein Ratgeber für Selbststreicher und Illustriertes Handbuch der Menschenkenntnis: Das Gesicht als Spiegel der
Seele. Zu dem Text, der auf dem Umschlag des Buches stand, notierte
sich ihr Großvater manchmal Anmerkungen wie Dieses
Blatt ist grün und sieht gut aus.
Wenn er Post bekommen hatte, die er nicht verstand, schrieb
er: Am 1.2.83 ist auch ein braunes
Blatt gekommen und aufgeschrieben: Keine Sorge - Volksfürsorge.
Beitragsrechnung vom 1.2.83 bis 1.2.84. Müßte genau Behandlung, ich
kenne es noch zur Zeit etwas schlecht. Steht jetzt rechts unten neben
Blättern Sparda.
Auf diese Art dokumentierte er nicht nur die Gegenstände in
seiner Wohnung, sondern auch die Handlungsabfolge, die nötig war, um das
Haus einigermaßen in Ordnung zu halten: Im
Dornheimerweg, wo ich meine Denitzius-Äpfel immer hole, habe ich auch am
23. Dezember 1982 darin behandelt, was ich auch kaufen kann, und dies ist
unten im Bad und nebenan, wo ich dauernd mein Wasser morgens und abends
behandeln muß, und wenn das Wasser nicht vernünftig ganz nach unten
gehen würde, so brauche ich das Gerät, was ich früher schon hatte, und
kann es jetzt auch im Dornheimerweg kaufen bei Firma Dietrich. Es heißt:
Allzweckreiniger AJAX mit Hygienekraft - schafft gesunde Sauberkeit im
ganzen Haus.
Er protokollierte jeden Kauf und schrieb dazu, was er mit dem
Gekauften tat: Das Gerät UHU im
Dornheimerweg gekauft. Dies ist, was der Mann unten am Wassergerät das
Teil zusammen festgestellt und was ich auch bezahlen muß und das Gerät
UHU Der Alleskleber behandelt hat. Dabei steht noch was: UHU FISMAR
Feuergefährlich Inh. 35g. Dieser Mann heißt Herr Pritsch in Heinestraße
9 und Telefon 661762. Mit UHU muß ich das 2 Teilchen zusammenkleben und
müssen fest zusammen bestellen. Jetzt habe ich 3 Teile mit UHU belegt am
Sonntag 13. Februar.
In den letzten Jahren schrieb er wie um sein Leben. Er
schrieb pro Jahr etwa zwölf dicke Notizbücher voll mit Sätzen, die
niemand mehr verstand, niemand außer ihm, und irgendwann begann er, ohne
besonderen Grund das Essen seiner Frau zu boykottieren. Er ernährte sich
nur noch von Butterkeksen und Schokolade, die er zusammen in eine
Frühstücksdose bröckelte und überall mit hinnahm, bis er schließlich
vergaß, die Schokolade zu essen, die er aus der Frühstücksdose genommen
hatte. Er hielt sie zwischen seinen Fingern und merkte nicht, wie sie
langsam schmolz und wie alles, was er danach anfaßte, voller Schokolade
war. Seine Schokoladenfinger waren überall zu sehen. Es war fast so, als
hätte er eine neue Ausdrucksform gefunden. Die Schokoladenabdrücke waren
die letzten Spuren eines Menschen, der keine Worte mehr hatte, und als
seine Enkelin damals zu Besuch kam, mußte sie jedesmal weinen, wenn sie
Fingerabdrücke von ihm sah, die seine Frau noch nicht beseitigt hatte.
Sie nahm ihren Großvater dann in den Arm, und er tastete sanft über
ihren Schädel und zog an ihren Ohrläppchen und sagte ihr, daß sie ein
ganz besonderer Mensch sei.
Nach seinem Tod hatte seine Frau ihr die Schädelkarten und
die Notizbücher überlassen. Es waren insgesamt dreiundsiebzig Stück.
Sophie bewahrte sie in einer Kiste auf, die rechts neben ihrem Bett stand,
und immer, wenn sie nicht einschlafen konnte, las sie ein wenig darin
herum.
Der
letzte Eintrag war offensichtlich über seinen Sohn, ihren Vater. Er
lautete: Herbert bedeutet Ernte-,
aber auch Pflanzzeit zugleich.
Auf
den darauffolgenden Seiten stand nichts mehr. Sie waren über und über
mit Schokolade beschmiert.
Der
Spiegel klappt zurück. Sophie lutscht den Schokoladenrest vom Kern, bis
die Nuß anfängt, bitter zu schmecken. Sie nimmt eine Kamera vom Tisch.
Beobachtet, wie sich ihr Atem vor dem Objektiv niederschlägt und wieder
verschwindet. Ihren Vater, der jetzt in die Knie geht und die
Blitzlichtbatterien wechselt. Ihre Mutter, die dasitzt und tut, als hörte
ihr jemand zu.
Sophie
hebt die Kamera und schaut durch den Sucher nach draußen. Direkt
gegenüber, auf der anderen Straßenseite, wirbt das staatliche Casino mit
einer Leuchttafel, ähnlich den Kästen, auf denen Dias betrachtet werden.
Join the Game steht darauf in
verschiedenen Sprachen; sie läßt das “G” im Schnittbildsucher
zusammenwachsen und zieht auf eine riesenhafte Rouletteschüssel, die von
innen beleuchtet wird. Durch die Rouletteschüssel kreist Licht, das per
Zufallsgenerator gestoppt wird. Die Zahl fällt lautlos. Und kein Schrei
für die 20.
Sie
nimmt noch eine Goldkugel vom Tisch. Denkt sich eine Zahl. Jeder Schritt
zwischen Gehwegplatten ist verboten. Das alte Spiel. Trotzdem: Fällt ihre
Zahl, wird alles gut.
Sie
wirft einen Blick auf ihren Vater, der gerade einer Flasche den Korken
entreißt. Der Wein bildet einen schweren Kreisel im Glas, und Sophies
Vater versucht, ihn so hoch an den Rand zirkulieren zu lassen, daß er
fast überschwappt. Er hält das Glas mit drei Fingern am Stiel, und als
sich der Wein schneller dreht und immer schwerer gegen die Glaswand wogt,
legt er den Zeigefinger zusätzlich an den Kelch, um ihn aufrecht zu
halten, denn jetzt nähert sich der perfekte Augenblick; der Moment, in
dem Geschwindigkeit, Fliehkraft und Balance eine Einheit bilden.
Sag endlich was,
denkt sie und sieht, wie sich ein Lächeln um seine Lippen spannt.
Sie
schält die goldene Folie von der Kugel, betastet mit ihren Fingern die
Mandelhülle, ganz langsam, jetzt mit geschlossenen Augen, sie fühlt jede
Unebenheit, dann schiebt sie sich die Kugel in den Mund und schaut wieder
durch die Kamera aus dem Fenster, wo das Leuchtband vorbeifliegt; ihre
Pupillen fangen unbemerkt an zu zucken und versuchen, ein Bild zu halten,
das nicht zu halten ist. Verschlußzeit: 1/1000 sec. Ein Moment, der keine
Geschwindigkeit mehr hat, hält ewig. Das bedeutet, daß es Ewigkeit nur
in der Erinnerung gibt.
Ihre
Zähne knacken den Kern. Die Kamera transportiert automatisch. Der
belichtete Teil wickelt sich nach rechts, während neuer Film nachgezogen
und in die Dunkelheit gespannt wird, auf den Lichtblitz wartend, der
zwischen Vergangenheit und Zukunft trennt.
Ihre
Zahl ist die Null.
Die Einsätze, bitte,
denkt sie und fokussiert ihren Vater, der immer noch in das Spiel mit dem
Wein vertieft ist; er starrt in sein Glas, als würde er dort etwas
suchen; immer schneller kreist der blaurote Saft an der gläsernen Wand,
dreht sich höher zum Rand, und immer breiter spannt sich sein Lächeln,
er bläht die Nasenflügel, und Sophie nimmt eine 500er Brennweite vom
Tisch. Der Bajonettverschluß rastet ein. Sie stellt sich vor, wie es ist,
ein Gewehr zusammenzubauen. Das beruhigende Gefühl schweren Metalls. Das
sanfte Klicken präzise aufeinander abgestimmter Teile, die Augen dabei
unwillkürlich geschlossen.
Ihr Vater hat jetzt den kritischen Punkt erreicht. Sein Mund
erfüllt das gesamte Sucherbild, sie stellt scharf auf den schmalen Spalt
zwischen seinen Lippen, dann schwenkt sie nach draußen auf das Lichtband.
In der Vergrößerung sieht die Rouletteschüssel aus wie ein Auge, in der
Mitte eine schwarze Pupille, umgeben von einer Iris aus roten und grünen
Feldern; am Ende Zahlen wie in einem Biologiebuch. Etwa da, wo die Null
ist, mündet der Sehnerv ins Gehirn.
Sophie nimmt eine neue Kugel vom Tisch. Ihre Zähne
durchtrennen die Mandelhülle, während ihre Mutter von einem Besuch im
Museum erzählt. Er war damals stumm durch die Räume gegangen, und als er
nach draußen trat, fiel ihm eine Träne aus dem Auge; niemand hatte das
bemerkt, niemand außer ihr; das Licht kreist so schnell, daß die Zahlen
im Moment des Aufleuchtens schon wieder verlöschen, eine haltlose Kaskade
numerierter Blitze, plötzlich langsamer werdend.
7.
28.
12.
Das Band stockt. Nichts
geht mehr. Hält man Negativstreifen gegen die Sonne, zeigen sie
Falschfarben. Da, wo das Licht anhält, wird man später einen dunklen
Fleck erkennen.
35.
3.
26.
Der Waffelschutz bricht gegen ihren Gaumen.
Zero fällt.
Sophie drückt ab. Der Wein fliegt hoch aus dem Glas und
platzt durch sein Hemd; Bauchschuß, fällt ihr ein, und plötzlich
bemerkt sie auf dem Etikett das Wort "Auslese". Ihr Vater
springt hoch. Starrt auf sein blutendes Hemd. Sieht sie an. Seine Lippen
fangen an zu zittern, während die Kamera alles festhält, Jäger und
Sammler kostbarer Momente, Verwalter eines lückenlosen Familienarchivs,
und Sophie wartet auf ihren Gewinn.
Als sie später nach Hause kommt, klingelt das Telefon. Sie
nimmt den Hörer ab, aber niemand sagt etwas. Sie sagt noch einmal Hallo
und wartet ein paar Sekunden. Die Leitung ist nicht tot, sie hört etwas
am anderen Ende, aber vielleicht bildet sie sich das nur ein. Sie sagt
nichts mehr und schließt die Augen. Sie hört auf das, was in der Leitung
ist. Ein leichtes Knacken. Rauschen. Atmen vielleicht. Ja. Atmen.
Vielleicht von einem Mann.
Sophie überlegt, ob er sie möglicherweise nicht versteht.
Ob das ein Fehler in der Leitung ist. Aber dann hätte er längst
aufgelegt. Sie ist sich sicher, daß er sie hört, und sie ist sich auch
sicher, daß er weiß, daß sie ihn hört. Sie versucht, sich ihren Vater
vorzustellen, wie er am Telefon sitzt und nichts sagt.
Herbert bedeutet Ernte-
aber auch Pflanzzeit zugleich, flüstert sie; ganz langsam senkt sich ihr Arm, und ganz
vorsichtig, ohne das leiseste Geräusch zu machen, läßt sie den Hörer
ein Stück auf die Gabel sinken, bis zu dem Punkt, an dem die Verbindung
fast getrennt wird. Sie läßt den Hörer noch einen Augenblick in dieser
Schwebe und stellt sich vor, wie das klingt, kein schnelles Klack, das die
Verbindung beendet, sondern ein zögerndes, sanft magnetisches Flattern,
das den Eindruck erweckt, man könne es noch stoppen. Sie hält den
kritischen Punkt eine Weile, dann läßt sie los und packt ihr Geschenk
aus. Wie immer: erst das goldene Papier ab, dann den Deckel hochheben, bis
der Umschlag sichtbar wird.
Sie
starrt auf das leere Etikett auf dem Einband, dann öffnet sie das Buch
und beginnt zu schreiben.
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