Auszug: Teilstück aus dem sechsten Kapitel der Erzählung Moosbrand

VI.

Meret sitzt in der Beiz im Dorf, im Ochsen. Der dunkle Raum ist verraucht, die Vorhänge gelbbraun. An den Wänden hängen weit auseinander kleine künstliche Tannenzweige mit einer Schneeschaummasse besprüht, mit Lametta und roten, herzförmigen Kugeln behängt. Auf den Tischen stehen in Mandarinen gepresste rote Christbaumkerzen. Über dem Stammtisch redet ein TV-Sprecher tonlos vor einer Dekoration mit rotnasigen Rentieren und einer dicken Santa-Claus-Figur mit bärtigen Zwergen zur Seite. Auf den Bildschirm schaut niemand. Dafür steht ein junger Mann bei einem Spielgerät, auf dem fortwährend auftauchende und verschwindende stachlige Kugeln ein gefrässiges Riesenmaul aufsperren, um sich auf etwas, was Meret nicht erkennen kann, zu stürzen, es, so denkt sie, unablässig zu verschlingen. Der Mann am Spielautomat hat langes Haar und unter dem zurückgeschobenen Ärmel der Lederjacke eine farbige Tätowierung, ein Drache wahrscheinlich, eine Art Lindwurm oder Riesenschlange, von der man annehmen kann, dass sie sich auf dem Oberarm als grossmächtiges Gebilde fortsetzt. Er spricht nicht. Er schaut sich nicht um. Er schaut nur auf diese Folge von kugeligen Fresskerlen und drückt mit den Fingern auf rote Knöpfe, neben denen eine Bierflasche mit Henkelverschluss steht.

Am Stammtisch sitzt eine Frau mit rot über die Lippen hinausgezogenem Glanzmund, mit einem hellblau flusigen Mohairpullover über grossen Brüsten, die wie Himmelsberge auf der schwarzen Schiefertischplatte aufliegen. Ihr gegenüber raucht einer, dessen Gesicht, Haare und Kleider in einem grau-braun-fahlen Farbton zusammenfallen, ununterscheidbar fast, wie bei einem Sack aus dem Keller, den man hier vergessen hat und der nun an einem Stumpen herumsaugt, ohne Aufmerksamkeit für das Rauchen oder die Wirtin.

Meret sitzt am Fenster. Sie blättert, weil ausser einer Sport- und Sensationszeitung nichts anderes aufliegt, im Amtsblatt. Sie liest die Namen und vergisst sie beim Lesen. Der Kaffee schmeckt nach Seife. Die Appenzeller-Biber auf dem Teller neben der Mandarinen-Kerze sehen anders aus als jene, die Genis Vater gebacken hat. Sie sind in Cellophan gesteckt, unter einem Bild mit Kuhreihe und Senntum wie begrabene Fladen. Es sind keine Inauen-Biber. Geni hat die Bäckerei nicht übernommen. Er ist, wie die Leute sagen, im Suff oben im Appenzellischen überfahren worden. Der ganze Turnverein habe an der Beerdigung teilgenommen. Ein katholischer Priester aus dem Innerrhodischen sei gekommen.

Meret reisst gedankenlos einen Biber aus seinem Cellophanbeutel, beisst in die braune, mit Marzipan gefüllte, weiche Masse, kaut auf dem Gemisch aus Honig, Mehl, Zucker, Milch, Salz, Triebsalz, Pottasche, Anis, Nelken, Muskat, Koriander und Ingwer, Mandeln und künstlichem Orangenblütenwasser herum, das sich im Mund zusammenkleistert. Es ist der Duft  der Inauen-Backstube, dieses dunklen Raums, in dem in Trögen zugedeckter Teig lag, an der Wand neben den hölzernen Schaufeln ein Kruzifix hing. Hier griff die Hand von Genis Vater in Gewürzsäcke, schüttete Ingredienzien zusammen, braunes, helles, dunkleres Pulver, eigenartige Namen. Es ist dieses Mischgewürz, das auch in der Stube der Inauens festsass, sich mit den Gebeten in ihrem immer wiederkehrenden Gebenedeit-seist-du-Maria an den Kleidern festhakte, den Gaumen überzog, sich einnistete in Hörnli und Apfelmus oder in die Bacheschnitten, die Genis Mutter in ausgelasser Butter briet, in einer schwarzen Pfanne auf das Wachstuch stellte, hinschob auch für alle andern, die mit am Tisch unter dem Kreuz mit dem gekrümmten Jesus und den Weihwasserschälchen sassen und sauren Most tranken und am Ende noch einen Kaffee-Schnaps oder zwei.

Mit dem Weihwasser bespritzen sie Stefan, immer wieder. Dann sagt Geni, es könne nicht schaden, wenn man zum Onkel Jock ginge, der bete für Füür und Brand, der wisse den Text mit den Äderli, den Adern, den Wörtern, die helfen. Man müsse aber eine Münze haben, die man am Schluss in den Kasten werfe. Kosten tue es nichts. Aber Geld sollte man schon geben. Guido lacht laut. Aberglaube. Meret geht mit Geni in den Wald, zum Kinderstein. Sie lesen dort aus Merets Schulbuch unterstrichene Sätze: Ben zi bena, bluot zi bluoda, lid zi geliden, sose gelimida sin, gang uz, Nesso, mit niun nessinchlinon, uz fonna demo marge in deo adra, vonna den adrun in daz fleisk, fonna demu fleiske in daz fel, fonna demo felle in diz tulli, ter pater noster, ter pater noster, ter pater noster, amen ter, pater noster ter, amen.

Geni ist nicht zufrieden. Beim Onkel Jock tönte es anders. Da ist er sich sicher. Man müsste das Appenzellische können, sagt er. Man müsste es besser können als der Vater. Man müsste dazu eine besondere Stimme haben und ein Kruzifix. Geni hat eine Schnapsflasche mitgebracht, Meret ein halbes Paket Wuhrmann. Sie hocken im Kinderstein, der langgezogenen Höhle im Wald. Meret wird übel. Nicht in die Höhle kotzen! schreit Geni. Unten im Dorf bekommt Meret von Genis Schwester saubere Kleider. Genis Mutter wäscht ihre Bluse und ihren Faltenjupe in einem grünen Plastikbecken, reibt mit einem Stück Kernseife auf den Flecken herum, schüttelt den Kopf, spricht nichts, seufzt nur zwei- oder dreimal vor sich hin.

Im Amtsblatt liest Meret von einem Inauen, der mit einer Druckerei Konkurs ging.

Vor ihr steht die Frau mit dem hellblauen Flusenpullover. Wie eine Wolke, denkt Meret, während sie das Geld aus dem Beutel klaubt. Wir schliessen um neunzehn Uhr, sagt die Frau, am Stefanstag ist wieder offen. Es ist auf der Tafel draussen angeschlagen.

Es ist diese Stimme.

Es war auch davor die Stimme.

Sie scheint zu warten. Man muss etwas sagen. Es lässt sich nicht mehr so tun, als wäre das nicht Theres.

Du bist Genis Schwester, sagt Meret, du bist die Theres.

Ja, sagt die Wolkenfrau und dreht sich weg. Sie steht da. Dann dreht sie sich wieder zurück, verharrt, spricht über Meret hinweg: Es war wegen dir.

Sie redet wie von einem lange vorbereiteten Faden gezogen: Geni hat dich geliebt. Geni hat immer von dir geredet. Er wäre glücklich gewesen in der Backstube. Ohne diese Bücher wäre er glücklich, hätte Kinder, hätte ein Auskommen, hätte die Bäckerei. Er wollte nicht. Wegen dir. Er hat ganze Nächte über hinter seinen Heften und Büchern gehockt. Er bekam Ringe um die Augen. Das Kollegium in Appenzell war nichts für ihn. Er war gut und klug und ein Turner. Er konnte alles. Aber das Kollegium, das war zu viel. Die Studierten haben ihn fertig gemacht. Sie haben ihm Bücher gegeben, die haben ihn aus dem Gleis geworfen. Er hat alles gelesen. Dann hat er Dinge gesagt, die man nicht sagt. Man sagte das nicht bei uns. Man wusste warum. Man sagt das auch heute nicht bei uns. Man weiss warum.

Es muss sein, hat er gesagt. Ohne Matura ist man nichts, hat er gesagt. Ein Mann muss Bildung haben, hat er gesagt. Alle haben gesagt, das sei nichts, das Studieren. Er hat nicht auf uns gehört. Wir dachten auch, lassen wir ihn, er kommt schon wieder zur Vernunft. Er war ein guter Oberturner. Er hat immer einen Kranz geholt, auch beim Schiessen. Er hat sogar deinen Bruder mitgenommen zum Eidgenössischen, zum Turnfest in Aarau oder Bern. Den Nichtsnutz. Der hätte Fahnenträger werden können. Wär es nach dem Geni gegangen, wäre er Fahnenträger geworden. Wenn der Geni dabei war, hat keiner etwas gegen den Nichtsnutz gesagt. Der Geni war etwas. Da sagte niemand etwas, auch wenn der kleine Mooseggler nur vor einer Cola hockte. Recht geschluckt hat der ja erst später. Da war der Geni schon unter dem Boden. Der schluckt nicht mehr. Der hätte aber jederzeit aufhören können mit dem Bier und dem Schnaps. Aber er hatte die Melancholie. Von der ist er nicht losgekommen. Da konnte man nichts machen. Da gab man ihm besser einen Schnaps. Geworden wär er aber doch etwas. Das ist sicher. Man wollte ihn zum Leutnant machen. Er hat gut ausgesehen im Miltärgewand, im grünen und im Kämpfer, im Kampfanzug. Schneidig. Ein ganzer Kerl. Fotografiert haben sie ihn im Rollkragenleibchen. Es war für die Auswahl der neuen Uniform. Er hätte jede haben können. Dann hat er behauptet, das Militär zähle nichts. Sie haben ihn eingesperrt. Er hätte Sonntagswache gehabt. Er ist einfach abgehauen. Sie haben ihm kistenweise Bier auf die Zelle gebracht. Er war ein Kollege. Alle haben das gesagt. Für ihn haben sie alles gemacht. Auch das Verbotene.

Er hat nur noch gesoffen. Es war die Liebe. Das sagen alle.

Theres, die Wolkenfrau, schaut mit leeren Augen über ihrem weichen Busen zum TV-Kasten, als könnte man aus der dort flimmernden, tonlosen Werbung für ein Gebissreinigungsmittel, das in einem Glas vor sich hinsprudelt, Genis Liebe lesen. Dann schaut sie auf Meret, sagt: Damit du es weisst. Sie sagt es noch einmal: Damit du es weisst. Der junge Mann am Spielautomat rüttelt plötzlich am Kasten, schreit: Sauhund, elender, Sauhund!

Die Bierflasche fällt scheppernd zu Boden. Theres geht zum Spielautomaten, bückt sich. Man sieht unter dem hochgerutschten Plastik-Lack-Jupe schwarze Strapse über dickem, weissem Fleisch. Sie hebt die Flasche auf, stellt sie zurück, zischt: Kriminelles Jugo-Pack. Der Junge reisst wieder am Kasten, stösst das Wort Sauhund aus. Theres schreit auf seine Pomadenhaarsträhnen hinunter: Gib Ruhe! Gib sofort Ruhe! Ich ruf sonst die Polizei! Dann dreht sie sich weg, schaut zu Meret, sagt: Scheiss Nichtsnutzpack, elendes. Aber ihr ruft die ja her. Ihr sagt: Kommt herein, da gibt es Geld, da müsst ihr nicht arbeiten, da sind schöne Lederjacken. Das sagt ihr. Das sagt ihr immer noch. Und wir gehen drauf dabei. Euch ist das ja recht. Das habt ihr schon immer gewollt, dass wir drauf gehen, das ganze Tal drauf geht, die ganze Schweiz drauf geht. Alles, restlos alles.

Der grau-braun-fahle Kartoffelsackmann mit seinem Stumpen hockt ungerührt da. Die Frau setzt sich zu ihm, legt ihm die Hand auf die Schulter, sagt: Bist ein Guter. Wären nur alle so gut. Magst noch einen Schluck Magdalener?

Sie giesst ihm und sich, ohne auf eine Antwort zu warten, aus einer Literflasche nach, setzt sich, nimmt die Fernbedienung, die auf dem Tisch liegt, dreht sich gegen das TV-Gerät, stellt den Ton ein, zappt von einem Sender zum andern, hält inne, stellt den Ton lauter, sagt zu ihrem Gegenüber: Das sind Männer! während im TV eine Frauenstimme kreischend nach muskulösen Armen greift, die nach einem Sprung in ein Schaumbad nun wieder auftauchen, sehnig, glänzend, braungebrannt.

Auf dem Boden beim Spielautomat dümpelt eine Bierlache vor sich hin.

Meret geht hinaus.

Sie steht vor der Beiz. Oben sieht man das Licht von Moosegg über den Rebhängen, über den Kastanien, vor dem Wald. In der Nacht ist Moosegg ein drohender Turm, ein deutscher Adlerhorst. Die Nacht hat die mediterranen Elemente verschluckt. Wie ein Frontisten-Gespenst, denkt Meret plötzlich, schüttelt sich, schliesst die Augen, öffnet sie wieder, schaut auf den Asphalt, sieht, dass sie hier steht, wo einer gestanden haben muss, der vornübergebeugt gekotzt hat.

Der Regen fällt ihr ins Gesicht. Sie klappt den Mantelkragen hoch, stopft die Hände in die Taschen, geht zurück zum Parkplatz. Schritt für Schritt auf der Ausserdorfstrasse, unter den Peitschschwüngen der Kandelaber hindurch, von einem mit weissem Licht besprühten Asphaltfleck zum nächsten, weg vom Ochsen, weg von Genis Schwester, weg von allem, was sie längst weiss und diesem plötzlichen Verlangen, den Kopf in einem billigen Mohairpullover zu vergraben, in dieses weiche Hellblau  einzusinken, abzutauchen in eine Wolke aus billigem Parfüm und Bibergewürz, tief unter Bierlachen und diesem rot aufgemalten Satzmustermund zu schlafen, dort, wo Theres auftaucht in engen Jeans und gestreiftem T-Shirt, lässig an den Brunnen vor der Kirche gelehnt, während die Glocken über das Dorf und in die Gassen hinein bimmeln, oder hingestreckt daliegt auf der Badematte im knapp sitzenden Bikini zwischen Männern mit goldenen Kreuz-Kettchen über der öligen Brust und breiten Gliederarmbändern um das Handgelenk.

Im Sommer hört Meret, wie Guido zu Geni sagt: Man sagt im Dorf, die Theres sei mit dem Franco und dem Ricchi nach Paris getrampt.

Im Winter hört sie, was die Leute sagen: Die Theres wohnt in Adliswil. Sie hat ein Kind. Von einem Italiener, sagt der Gemeinderat.

Im Frühjahr sagt Geni: Sie ist dick, die Theres. Der Italiener schlägt ihr immer wieder ein blaues Auge. Sie serviert im Sommer auf der Schwägalp. Sie muss jeden Tag dreimal duschen, weil das Pommes-frites-Fett in die Haare geht und in die Haut.

Die Italiener sind ein Pack, sagt Genis Mutter neben dem Kruzifix.

Meret will anfangen zu reden. Geni überschreit ihre Sätze: Ja ja, Mutter, ja ja, es gibt schlechte Italiener, ja, es gibt Italiener, die schlagen die Frauen, zieht, während er spricht, an Merets Pullover, zerrt sie zur Tür, reisst sie hinaus aus der Stube, aus dem Haus, stösst Zischwörter aus.

Meret dreht sich weg. Sie hört die Sätze von dem, dass es der falsche Ort sei, die falsche Person, dass man nicht anfangen könne hier, hier nicht, behauptet, was plötzlich mit grosser Klarheit auftaucht in ihrem Kopf: Du bist ein Feigling, Geni. Ihr seid Feiglinge, du und alle hier. Man kann im Turnverein nicht anfangen damit. Man kann in der Beiz nicht anfangen damit. Man kann im Wohnzimmer nicht anfangen damit. Man kann nur in einer Höhle hocken und spintisieren. Man kann einen Joint paffen und erfinden, wie es wäre. Man kann Bier in sich hineinleeren und dann die Internationale singen oder Bandiera rossa. Man kann auch auf eine Demo gehen, möglichst weit weg.

Meret überredet Guido, sie mitzunehmen auf der Lambretta, mit ihr zur Schwägalp zu fahren. Sie schneiden jede Kurve. Meret singt in Guidos Windschatten hinein, hält sich an Guidos Bauch fest, legt sich mit seinem Körper in die Kurve, lehnt sich, tief in die von Geni geborgte Lederjacke eingegraben, an Guidos Rücken.

Auf der Schwägalp ist eine Hochzeit. Sie fahren hinter den Wagen mit den Spitzenschleifen an den Antennen her, hupen mit, schwenken Papiertaschentücher, fahren statt auf die Passhöhe mit dem Konvoi zum Rietbad hinunter, überholen ein Auto nach dem andern, schlagen mit dem Roller quer über die Strasse Haken, bis sie dem Brautpaar ihre weissen Fetzen zuwerfen und mit Handzeichen nach den Feuersteinen verlangen, den blau, rot, gelb oder grün umwickelten Bonbons mit den geflügelten Wörtern auf der Innenseite der Verpackung.

Sie sitzen am Strassenrand, lesen sich mit den am Gaumen klebenden oder in die Wangen geschobenen Zuckerwaren Sätze vor:

Il n'ya que les optimistes qui fassent quelque chose dans ce monde. Le coeur a ses raisons que la raison ne connaÓt pas. Qui sait tout souffrir peut tout oser. Mit fremdem Verstande wirst du nicht weit reiten. Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Siege, aber triumphiere nicht. Wer sich nach der Decke streckt, dem bleiben die Füsse unbedeckt. Neapel sehen und sterben.

Neapel.

Napoli.

Sehen.

Sterben.

Dort heiraten.

Nein.

Das Wort von Meret reisst ein Loch in die leicht hingesprochenen Bonbonpapiersprüche. Sie steht auf. Sie stellt den Kragen der Lederjacke hoch, verschränkt die Arme. Er bückt sich, klaubt die bunten Fetzchen aus dem Gras. Unten auf der Strasse geraten sie in einen Alpabtrieb, fahren im Schrittempo mitten in Kühen. Sie versucht mit der Handfläche über Viehrücken zu streichen. Er flucht vor sich hin: Verdammte Kühe.

Die Ausserdorfstrasse ist so gleichgültig fremd wie immer. Die Bäckerei ist zum Wohnhaus umgebaut. Dort, wo die verbogenen Veloständer waren, ist eine Terrasse mit schmiedeeisernem Zaun an die Fassade geklebt. Die Metzgerei Kobelt ist eine Jeans-Boutique mit dem Namen Marilyn. Der alte Volg heisst nun Amarillo-Discount  und hat gelbe und schwarze Streifen als Jalousienimitation auf die Schaufenster geklebt. Vor der Rose hängt im Glaskasten für die Menues ein vergilbter Zettel mit Bierreklameaufdruck. Darauf der Hinweis: Austrinketen am 5. August. Das Café Dürr ist hellblau gestrichen, heisst Saloniki und wünscht mit orangen und grünen Blinkkugelbändern über einem Pappkarton: Schöne Festtage. 

Vor dem Reststück Rietland stehen neue, kleinkoniferengerahmte Einfamilienhäuser mit rot-weissen Plastikabsperrketten vor den Garagen. Meret sagt: Wie starbereite Autoreihen. Alles im Schutz dieser Natursteinbrockenmauer. Die filtert den Autobahnlärm zur Erträglichkeit um.

Gegenüber sind die Neuquartierblöcke. Vor ihnen stehen Industriewegweiser: Firmennamen und das Wort Einkaufspark.

Guido hat hier einige Jahre gewohnt. Danach sind die Zünds an den Rebhang gezogen, dorthin, wo Sous-Chefs, Prokuristen, Gemeinderäte wohnen, in ein zweistöckiges Haus mit kleinem Garten.

Meret fährt trotzdem noch mit dem Rad zum Spielplatz mit dem verkoteten Sandkasten und dem wackligen Eisenkletterturm, steht dort immer wieder vor den Klingelknöpfen der Wohnblocks, manchmal auch im Treppenhaus mit dem schwarzglänzend bezogenen Handlauf, auf dem man vom vierten Stock bis ins Parterre rutschen kann, atmet diesen Geruch nach Wohnblock, nach Schuhwichse, zum Trocknen aufgespannten Regenschirmen, überhitzter Butter, Schmier- und Kernseife, nach Linoleum, Borstenmatten, Kokosläufern, eingetretenem Staub, nach Rasierwasser und nassen Windeln.

Die Frau, unterwegs in einem Winter, den der Föhnwind verkehrt hat in trockene Wärme und dann in den lauen Regen eines verirrten Sommerabends, unterwegs zwischen Ochsen und Parkplatz, sucht die Wörter für diesen Flur, den sie gekannt hat, für diese Häuser am Dorfrand. Es sind Erinnerungsfetzen, die im Kopf herumtreiben. Sie sieht sie wie feuchtes Laub hinter alten Häusern verrotten, manschig und glitschig, dann, von einem Südwind getrocknet in porösen Stücken an festere Gerippeteile gehängt, aufgewirbelt, hinausgeweht auf Strassenränder und kleingewordene Plätze. Sie sieht sie als dünne, hellblaue Plastiksäcke, die man aufblasen kann, um sie mit dem Fuss in einem lauten Knall zu zerstampfen, sieht sie als vergessene Kartoffelknollen, die am Wegrand liegen, austreiben und dabei zu faltigen Klumpen schrumpfen, bevor ein Auto oder ein Traktor alles plattfährt.

Auf dem Parkplatz steht ein Opel Kapitän. Er gehört Sous-Chef Zünd und ist das einzige Auto auf dem Parkfeld neben der Teppichklopfstange. An den Samstagen, wenn Guido Meret zum Samstagsessen mitnimmt, zu Siedwurst und Kartoffelsalat, bekommen sie von Guidos Mutter einen Eimer, einen Schwamm, Lappen aus hellblauen und gestreiften Herrenhemden gerissen, Hirschleder und Lauge, manchmal Sigolin, manchmal Wachs. Meret holt in der Waschküche unten heisses Wasser, giesst das verbrauchte in den Schacht, holt neues. Guido stellt die Scheibenwischer hoch, sagt: Morgen machen wir den Oberalp, morgen machen wir den Lukmanier; oder: morgen machen wir den Flüela, den Brünig, den Kerenzen, den Etzel, den Stooss, den Ricken, die Schwägalp, den Simplon, den Albula, den Splügen, den Julier, den Maloja, den Ofen, den San Bernardino, den Gotthard, die Furka, die Grimsel. Er sagt auch: Das letzte Mal musste Bert auf dem Wolfgang, kurz vor dem Davosersee, kotzen, das letzte Mal musste Bert schon in Landquart kotzen, musste Bert erst in Sils kotzen, erst in Tiefencastel, schon in Bonaduz, schon in Sargans, musste auf der Luziensteig kotzen, direkt neben einem Soldaten, der Wache schob.

Die Dinge stehen fest. Es gibt eine Reihenfolge. Bert steht am Ende, unten. Bert ist dumm, dümmer als Armgard, obwohl er älter ist als sie. Bert kann nicht Karten lesen und hängt wie eine Riesenkartoffel an der Kletterstange. Man muss für ihn Papiersäcke mitnehmen auf Passfahrten, und irgendwann stinkt es widerlich aus diesen Tüten, über denen er wie ein Reiher den Hals reckt mit Geräuschen, die Guido immer dann ausstösst, wenn er von den Sonntagen erzählt, von seinem Bruder, für den man sich schämen muss.

Es ist ausgemacht, dass es Meret nie übel wird in einem Opel Kapitän, auf einer Passfahrt, im Auto mit Guido.

Wenn wir gross sind, sagt Guido, haben wir ein Haus, ein Pferd und einen Jaguar und ein Kabriolett, und der Jaguar ist dunkelgrün und das Kabrio ist rot.

Meret drückt den Schwamm ins Wasser, presst ihn hier einige Male zusammen, wringt ihn über dem Eimer aus. Das ist Teil eines Spiels, das Meret für sich allein spielt. Es heisst: Wie heiss kann das Wasser sein? Der Titel sagt nichts über das, worum es geht: Um die Hände ñ die Hände möglichst lange ins heisse Wasser zu tauchen, das auszuhalten, diese Hitze, diesen Schmerz, der irgendwann festsitzt unter der Haut. Dann im Winterwind mit nassen, roten Händen keine Kälte zu spüren, danach Kälte zu ertragen bis zum Punkt, wo das Blut zu gerinnen scheint. Dann beginnt das Spiel neu.

Dazu denkt sie sich Geschichten aus: Die Bergung von Verletzten aus der Eigernordwand, die Rettung von Scott am Südpol.

Es sind die Spiele, die immer wieder gleich anfangen und in immer anderen Varianten nur einen vorläufigen Abschluss finden, wenn Meret als Gletscherpilot-Geiger-Nachfolgerin mit einem Rettungsarzt mitten im Schneegestöber oder im Nebelreissen oder im Gewitter auf dem Rückflug ist. Es sind die Spiele, zu denen auch das Wohnblockspiel kommt, sich mit ihnen verwebt und nach und nach als Verknüpfungsstelle andere Linien offenlegt, in denen Meret bei allem, was sie tut, herumgeht als Frau, die in einem Wohnblock lebt, für sich allein, manchmal in der Stadt oben, zunehmend weiter weg, in Berlin, in Paris, in London, in New York, in Gedanken durch Tage streunend als Buchhändlerin, als Platzanweiserin in einem Kino, als Beleuchterin in einem Theater. Sie wird eine Meret, die in einem Leben herumvagabundiert, das sich in tröstlich verkommenem Grau ausbreitet. Das Gehen ist ein Flanieren zwischen Menschen, die nicht grüssen. Die Zeit, das sind Stunden, in denen man fern von allen in Kaffeehäusern oder auf Parkbänken sitzt mit einer Zeitung, mit einem Buch, betrachtet, wie die Leute vorbeiziehen, sich zu Trauben ballen, auseinanderdriften, sitzen, sprechen, schweigen, vor sich hin starren. Es ist ein Leben, in dem man seinen Namen auf einem grossen Klingelbrett wie eine vorläufige Notiz unter einem Stück Klebbandfilm liegen hat, unbeachtet wie die Brachlandstücke mit den Trampelpfaden der Kinder, wie die Autofriedhöfe mit den aufgeschichteten Pneus, wie die Eisenbahngeleise, die zwischen dem Labyrinth von Fabriken oder Docks vor sich hin rosten.

Guidos Sohn wüsste, wo man Stefan finden könnte.

Vielleicht hat Stefan nur dieses Wohnblockspiel spielen wollen, ist abgehauen, um irgendwo am Rand einzutauchen in eine Grauzone. Was soll man ihn herzerren, von Basel oder Zürich oder sonstwo?

Wie kann man wissen, was sich ein fremder Kopf ausdenkt?

Wie kann man wissen, was eine Hilfe wäre?

Zur Auffindung Ertrunkener, sagt Geni, nachdem Stefan im Baggersee untergetaucht ist, dann wie tot auf der Wiese gelegen hat, muss man Katharina von Alexandria anbeten, die Katharina mit dem zerbrochenen Rad. Das war eine schöne und kluge Frau. Sie hat einem Kaiser, einem Christenfeind, die Meinung gesagt und der hat sie mit fünfzig Gelehrten streiten lassen. Sie hat gewonnen, hat alle bekehrt. Deshalb wurden die Gelehrten allesamt verbrannt. Man hat sie gefoltert, die kluge Frau. Aber sie wurde nur noch schöner dadurch. So flocht man sie denn auf das Rad. Der Kaiserin hat sie aber leid getan. Deshalb liess der Kaiser beiden Frauen den Kopf abschlagen. Doch aus Kopf und Rumpf floss statt Blut Milch.

Was soll das helfen, wenn man nicht weiss, ob Stefan zu lange im Wasser gelegen hat? Geni zuckt mit den Achseln: Meine Mutter sagt, sie sei eine Nothelferin, sie helfe, sei gut bei Migräne, zur Auffindung Ertrunkener und für die Beharrlichkeit bis zum Tod. In der Kirche hat man sie hingemalt. Man kann dort zu ihr beten. Sie hat auch den Holzflössern geholfen, den im Hochwasser absaufenden Kühen, den Menschen von früher. Sie hilft dort, wo man Kopfschmerzen hat oder Überschwemmungen sind. Das steht im Kalender mit den Heiligen. Man kann es versuchen. Schaden tut es nie, das sagen alle.

Jahre nach den Samstagen mit den Namen der Pass-Fahrten sagt Guido: Nur noch die RS, die Rekrutenschule, dann arbeite ich in den Semesterferien in der Optikgeräte AG, in der OGAG. Das gibt einen Döschwo, einen 2CV. Mit dem fahren wir nach Südfrankreich.

Nach der RS sagt Guido: Tu nicht so zickig, bist doch eine Kirschbaum.

Das Leben auf dem Lande hat seine unruhigen Sommertage verloren, die Föhnnächte im Herbst mit den aufgebrachten Gesprächen auf dem Platz vor der Kirche, mit den Plänen, die hier ihre Gewissheit hatten in einem Tal, das als drainierter Schwemmlandboden nach und nach bestückt wurde mit an neue Strassen gehängten Wohnquartieren, Einkaufszentren, Rohölkesseln.

Man sitzt an einem beliebigen Punkt fest, sieht sich hier, wo man immer gewesen war, angespült: Die Schah-Besuchs-Demo, der Schweigemarsch gegen den Einmarsch der UdSSR in die Tschechei, die Selbstverbrennungen in Saigon, und jene in Prag, der Tod von Benno Ohnesorg, der Anschlag auf Rudi Dutschke, das Konzert von Franz Josef Degenhardt in der Stadt, die Globus-Krawalle in Zürich liegen weit zurück. Manchmal probiert Meret noch einmal alle Wörter aus. Man ist am Rand etwas mitgelaufen, hat einige Gedankenfetzen gelernt. Was man sagt, klingt von Mal zu Mal mehr nach alten Schulbüchern. Hin und wieder sitzen sie noch miteinander an einem Tisch im Ochsen oder in der Rose, treffen sich im Niederdorf, versuchen, noch einmal Schweinsleber zu essen und ein Glas Kalterer zu trinken, ein altes Gespräch fortzusetzen, Wörter hervorzuzerren. Nach einigen Sätzen erzählt Meret vom Verlag, spricht Guido von der Nachkalkulation, sagt Geni nichts mehr. Die alten Synapsen eines Labyrinths aus Erkennungszeichen sind stillgelegte Arme eines mäandrierenden Stroms, der sein Flussbett wechselt, wieder zurückkehrt, Scheinarme baut, tote Seitenwindungen zurücklässt, Tümpel, Biotope, Pfützen, die nach und nach verschlammen oder abgeschnitten vom Hauptkanal vergessen sind.

Dann und wann sieht man sich noch einmal Zahlen zusammentragen, Flugblätter entwerfen, an einer Demo hinter dem Tuch mit rotgemalten Wörtern hergehen.

Als man das Bild von Hanns Martin Schleyer mit offenem Hemd, vollen Lippen und der Papptafel mit der Aufschrift: 6.9.1977 Gefangener der R.A.F. das erste Mal in den Zeitungen sieht oder am Bildschirm, wohnt Meret bei Henri in Chur in einem grossen Fabrikraum, den sie weiss ausstreichen, in den sie für Eva eine Wellblechabtrennung stellen, hinter der ein Eisengitterbettchen ist mit einer Schnur, an der die Wilden Kerle hängen, Stoffiguren mit langen Haaren, Bartstoppeln, Tigerzähnen, Drachenflügeln. Man hört noch von Stammheim, man hört noch von Nicaragua, man hört noch von der Intifada. Man sitzt zusammen, stellt einiges fest, erzählt vom Kind, schreckt von Mal zu Mal etwas weniger auf, wenn eine Initiative gegen die sogenannte Überfremdung gestartet wird. Die Architekten erzählen von Wettbewerben, zeigen sich gegenseitig die eigenen Bauhaus-Möbel, die Eames-Stühle, die Koffer aus Aluminium und reden über die Kollegen, die für Generalunternehmen entwerfen und solche, die sich in der Stadtpolitik eingerichtet haben. Einer sagt immer wieder: Es gibt keine Frauen in der Architektur. Wann Meret müde geworden ist vom Sprechen gegen diesen einen Satz an, weiss sie nicht mehr. Man reist von Bau zu Bau. Man trifft sich mit dem einen oder andern mehr als einmal, hockt einige Zeit in einer verrauchten Beiz, sitzt einige Nächte in einer Bar mit Neonkunst, lobt den Bollito misto, den ein Kollege gekocht hat, weiss, dass man Basilikum in einem Mörser zerreiben muss.

 

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