Ursula Fricker

Da sind schon ganz andere gescheitert

Es ist Sommer und zehn Grad Celsius, als Moritz Leu seine achthunderter BMW, weinrot metallic, auf dem Parkplatz einer Autobahnraststätte zwischen Hannover und Berlin abstellt, den Helm vom Kopf nimmt, das schwarze Haar mit den Fingern seiner linken Hand nach hinten streicht und sich dann auf den Weg zum Eingang macht.

Er muss jetzt endlich etwas essen. Man kann nicht dreizehnhundert Kilometer in einem Schnurz durchfahren und gar nichts essen. Nur, er hat keinen Hunger. Den ganzen Weg hatte es geregnet, nicht richtig geregnet, genieselt nur und er ist jetzt durchgefroren, bis ins Innerste klamm und steif vom langen Sitzen auf der Maschine.

Vielleicht sollte er hierbleiben für eine Weile, verschnaufen, sich ein Zimmer mieten im Motel nebenan, in diesem Schutthaufen unter märkischen Kiefern, von dem er annimmt, er sei ein Motel. Alles kommt ihm besser vor, als weiter, in die Stadt zu fahren, in seine Wohnung. Wenn er daran denkt, wird ihm schwindlig, überhaupt weiss er nicht, warum er gegen Norden gefahren ist, so gedankenlos ins flache Land hinein, das ihm, er gibt es zu, einmal gefallen hat. Der grosse Himmel, ein Wahnsinnshimmel, hatte er gerne gesagt, nichts krümmt dir den Blick so sehr wie Berge. Und jetzt sieht er seit Stunden Kiefern, Kiefern ohne Unterlass, akkurat in Reihen gepflanzt, wie Spargel auf einem Acker.

Das Selbstbedienungsrestaurant ist neonhell bis in die hinterletzte Ecke, die Luft gekühlt weil Sommer ist. Der Helm baumelt im Takt seiner Schritte, als Moritz Leu zum Buffet geht, um eine Suppe zu bestellen, Tomatensuppe, Knoblauchsuppe, es ist ihm egal. Aber es gibt keine Suppen im Sommer, im Sommer kochen wir nie Suppen, sagt die Bedienung, zu heiss, niemand isst Suppen im Sommer, nur Fitnessteller oder Bratwurst mit Kartoffelsalat. Seit gestern abend ist er unterwegs. Die Nacht durchgefahren ohne richtige Pause. Zum Tanken nur, war er abgestiegen, ein paar Schritte gegangen, danach hatte er aus Jules roter Thermosflasche bitteren, und kalten Tee getrunken. Über dem Fitnessteller nickt er ein, schreckt hoch, hat vergessen, wo er ist.

Gestern noch, war er mit Jule gewandert. Sie hatte darauf bestanden, trotz Regen, komm, hatte sie gesagt, wir können doch nicht zwei Wochen, den liebenlangen Tag hier drin sitzen, das hält niemand aus, ich jedenfalls halte das nicht aus. Er lag auf dem Bett und las. Jule zog ihre beige Nylonjacke an, die Wanderschuhe. Sie ging zum Kassettenrecorder und drückte auf den Knopf. Er musste lachen, hey, sagte sie, Happy go Luuucky meee, sang sie mit, seit sie hier waren, war das ihre Lieblingsmusik. Sie tanzte vor dem Bett, machte Grimassen, wilde Verrenkungen, als stünde sie auf einer Bühne in gesprenkeltem Licht und nicht hier in dieser Ferienwohnung in den Bergen, mit Decken über dem Kopf, die einen aufrechten Gang selbst für Jules kurzen Körper unmöglich machten, und ganz besonders die Türrahmen, da kam jede innere Warnung zu spät, immer zu spät; sie beide hatten sich schon am allerersten Tag kleine blaue Wunder in die Stirn gestossen.  Geh allein, sagte Moritz Leu, geh zur ersten Alp und komm wieder, wenn du die Nase voll hast von diesem verhinderten Bergpanorama, steck eine Ansichtskarte ein, damit du weisst wie es aussehen könnte, und koch dir Tee für die Wanderpausen. Es war wirklich nicht seine Schuld, dass er schliesslich doch aufstand und sich anzog. Moritz Leu legt die Schinkenstreifen, mit denen sein Fit-nessteller garniert ist, fein säuberlich auf den geblümten Tellerrand. Ein Reisebus hält direkt vor seiner Aussicht auf dem Parkplatz. Ein polnischer Reisebus, Bial-ystok/aircondition-tv-refrigerator, zieht sich über die ganze Seite, die Schrift, hellgrünundschwarz geflammt. Ich könnte mich zum Beispiel, denkt er, auch unter die polnischen Gäste mischen. Als einer, den man bisher nicht bemerkt hat, die ganze Reise über einfach nicht bemerkt. Sowas kommt vor. Er käme dann am Ende in eine Stadt wie Bialystok, die er nicht kennt, deren Namen er nie gehört hat und wer weiss, vielleicht ergäbe sich da ein Leben für einen wie ihn.

Patagonien, wo liegt das, hatte Jule gefragt. Er blickte sie an, während sie, die Augen auf den Bildschirm gerichtet, suchte, die Kolonnen nach seinem gewünschten Titel durchging, weitertippte, endlich sagte, na also, ich hab ihn. Wenn jemand Patagonien sagte, wenn er selber manchmal für sich Patagonien sagte, begannen seine Hände zu flattern, dann fing er an, die Worte im Mund zu verdrehen, nichts brachte ihn so sehr aus der Fassung wie dieses Patagonien, das für andere klingen mochte wie Puderdose oder Pullover, für ihn aber war Patagonien einfach alles. Jule lachte hell auf, als sie

sein Gesicht sah, also wirklich, sagte sie, man kann nicht alles wissen. Er nickte, es war nicht was sie meinte; er war froh, dass sie nicht wusste, wo Patagonien liegt. Er würde sich überlegen, ob er ihr davon erzählen sollte. Sie fragte nach seinem Namen, der Telefonnummer, schrieb beides auf einen rosaroten Zettel, gab ihm einen Durchschlag. Morgen ab zehn, sagte sie, ist es da. An jenem Abend ging Moritz Leu mehrere Male zum Spiegel in seinem Badezimmer und probierte verschiedene Scheitel aus. Er wollte Kaffee kochen und nahm Käse aus dem Kühlschrank. Er dachte an Jules lange Finger auf der Tastatur, die trockene, rissige Haut ihrer Handrücken, an ihre über den Bildschirm huschenden Augen, deren Farbe er nicht registriert hatte..Als er am nächsten Tag, wenige Minuten nach zehn, die Buchhandlung betrat um seinen Bildband abzuholen, wusste Jule wo Patagonien liegt. Sie zog ihn zu einer riesigen Weltkarte im hinteren Teil des Ladens. Hier, sagte sie, ganz unten, und legte ihren Zeigefinger mitten auf Punta Arenas, auf die Magellanstrasse, auf die weidenden Schafe in den Grasweiten des Hochlands. Und hatte gelacht, schön, aber sieht aus wie in Schottland. Sie ging zum Regal und zog einen Bildband über Schottland hervor, legte ihn auf die Theke vor seine Nase. Da schau mal, sie duzte ihn ohne zu fragen, die gleichen kahlen Berge, Windküsten, Bleihimmel, also. Moritz Leu nahm ihr das Buch fast grob aus der Hand, stellte es zurück ins Regal, bezahlte seinen Guineo und ging. Zwei Stunden später rief sie an. Heute abend, sagte sie, nach Ladenschluss im Groterjan, ja? bis dann. Wie Jule die Tür aufstiess. Mit dem Fuss gegen die untere Kante der Tür, die Hände hatte sie in den Jackentaschen, die Tür zitterte, schlug hart gegen die Wand, und Jule stand mitten im Raum wie vom Himmel gefallen, obwohl er sicher war, sie durch die Glasscheibe schon auf der Strasse gesehen zu haben. Während sie ihn suchte, mit den Augen die Tische abklapperte, machte ihr Mund unhörbare Wortbewegungen. Als Jule an seinen Tisch trat, erkannte er die Melodie nicht, die sie sang, eigentlich mehr summte, ganz leise und mit einer Stimme, die gar nicht zu ihr passen wollte, irgendwie brüchig und ein bisschen schrill. Sie sagte, hallo, Moritz, sagte sie, lustiger Name, ich habe noch nie einen Moritz gekannt, das heisst, die Katze unserer Nachbarn früher, als ich noch bei meiner Mutter in Rostock wohnte, hiess Moritz, ein Tiger mit weissem Latz. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Eigentlich, sagte sie, heisse ich Juliane, Juliane Durst.Moritz Leu lebte, seit er vor vier Jahren in die Stadt gekommen war, hinter dem Verwaltungsgebäude der Allianz-Versicherung. Ein blendend weiss gestrichener Neubau, der ihm den grössten Teil des Jahres die Sonne nahm, dafür das Abendlicht grandios reflektierte, das, wenn er am Küchentisch sass, seine Bilderbücher zu blinden Spiegeln machte. Vor jeder Mittagspause wurden drüben die Lamellenvorhänge beiseite gezogen, die Fenster sperrangelweit geöffnet. Dann sah er in die Büros hinein, sah getupfte Krawatten über Stuhllehnen hängen, sah allerlei Zimmerpflanzen in dunkel-braunen Plastikübertöpfen, Blume 2000. Im Büro des Buchhalters hing ein gestickter Tut-ench-Amun.

Jule wollte gleich am ersten Abend wissen, ob er schon einmal in Patagonien gewesen sei. Er sagte, mein Vater, weisst du, nahm mich immer mit zum wandern, Gewaltmärsche im Schwarzwald, ich kann mich noch an Wege erinnern, die waren so endlos gerade und so leer wie, ich weiss nicht was. Rechts und links hohe Tannen, sonst nichts, nur Weg und Tannen, stundenlang. Und wir von hinten. Ich habe uns oft von hinten gesehen, als hätte ich mit denen nichts zu tun. Er trug einen grossen Rucksack, ich einen Kleinen. Er, die Hände in den Hosentaschen, immer, ich, unter den Trägern des Rucksacks. Von Zeit zu Zeit stoben Krähen über die Schneise, wie Saatgut von Händen geworfen. Man hörte Geflatter und hie und da ein Krächzen. Dann hob ich den Kopf, und was ich noch sah war die Nachhut, der letzte Vogel, bevor er sich über den Kamm der Wipfel scherte. Nie sind wir in diesem Schwarzwald einer Menschenseele begegnet. Mein Vater sprach meistens kein Wort. Wenn ich vor Müdigkeit heulte, sagte er nur, komm, komm! Manchmal fuhren wir mit dem letzten Zug nach Donaueschingen und gingen beim Einnachten in den Schwarzwald hinein. Mein Vater ist gewandert wie eine Wildsau mit einem kaputtgeschossenen Bein, die muss weg, einfach fort von dieser Kugel die sie erwischt hat, möglichst weit, noch vor dem Sterben. Heute mache ich einen Bogen um diese Gegend, fahre Umwege mit Motorrad oder Bahn, ganz egal, wie lange es dauert. Moritz Leu sah Jule an ihren kurzen braunen Haaren zupfen. Ihr Blick lag weit hinter ihm, sie sagte nichts, zupfte bloss an ihren Haaren.

Was war das, fragte er, was du gesungen hast, vorhin? Weiss nicht, sagte sie, weiss nicht mehr, ich kann nur den Anfang vom Refrain und der heisst at the age of thirty-seven.... Ich erinnere mich immer an Melodien, aber selten an den Text. Noch als er in jener Nacht im Bett lag und nicht schlafen konnte, gingen ihm Jules Töne durch den Kopf. Er hätte sie gerne gesungen, morgens um zwei, in die Stille seines Zimmers hinein, aber Moritz Leu kann nicht singen, denkt er, Melodien klingen aus seinem Mund nie anders als falsch. Jules Liederfundus schien unbegrenzt, aus mehreren Jahrzehnten stammend, manchmal klassisch. Er kann sich nicht erinnern, von ihr je ein zur Stimmung passendes Lied gehört zu haben. Moritz Leu wartete jeden Abend vor Jules Laden. Sah er sie tagsüber zufällig auf der Strasse, versteckte er sich in Hauseingängen oder hinter breiten Rücken. Wenn Jule nach der Arbeit zu ihm auf den Gehsteig trat, begann sie Hüpfschritte zu machen. Seit sie sich kennten, hüpfe sie oft, sagte sie selber, früher sei sie immer ordentlich gegangen, nie so lustig wie jetzt, dabei sei er alles andere als lustig, eigentlich viel zu ernst für eine wie sie. Er solle doch mal lachen, so richtig, sie habe ihn ja noch nie ernsthaft lachen gesehen, nicht einmal im Kino, himmeltraurig sei das, wo er denn sonst lache, wenn nicht einmal im Kino. Sie stellte sich vor ihn hin und zog mit den Fingern seine Mundwinkel in die Breite und in die Höhe, so, sagte sie, siehst du, und machte selber eine Grimasse. Er nahm ihren Kopf fest in beide Hände und presste seine Lippen auf ihren breitgezogenen Mund. Manchmal, wenn sie schlief, schrieb er mit dem Finger wahllos Buchstaben auf ihren Rücken. Sie grunzte in tiefem Schlaf. Wer konnte wissen, wovon sie träumte, wahrscheinlich vergass sie es im selben Moment, oder sie zerrte ihn immer nur in ihre Angstträume hinein, wenn sie verfolgt wurde von Horden finsterer Gesellen, endlich jeden Halt verlor und fiel, laut aufschrie und sich mit Händen wie Schraubzwingen festhielt, an ihm, weil er halt neben ihr lag, mitten in der Stadt in einem stillen Mietshaus. Er redete dann mit einer Stimme auf sie ein, die selbst ihn auf der Stelle beruhigt hätte. Sie lag verdreht und halb auf der Seite, ihr Pyjama war hochgerutscht und er sah die Haut ihres Bauches sich rhythmisch heben und senken. Beide Hände lagen zu Fäusten geballt neben ihrem Kopf. Sie ging meistens früher schlafen als er. Moritz Leu sass an seinem Schreibtisch und rauchte. In den Bürofenstern gegenüber, spiegelte sich der Nachthimmel, orange, als brenne irgendwo ein unentdecktes Feuer. Da fährt man auf einer Strasse, dachte er, tuckert so vor sich hin, ist ganz zufrieden, hinten nichts und vorne nichts, in Brandenburg oder Mecklenburg, man freut sich am ersten lauen Wind, das Helmvisier ist hochgeklappt, die Hosenstösse bis unter die Knie gewickelt. Vor den Häusern blühen Krokusse und Osterglocken. Da sieht man etwas auf die Strasse laufen und zwar nicht irgendwo, weit vorne, nein, exakt so, dass du es garantiert erwischen wirst, in den nächsten zwei Sekunden, und du kannst gar nichts mehr tun, nicht bremsen, nicht Gas geben, zum Ausweichen ist es zu spät. Jahrelang ist einem nichts unter die Räder gelaufen, kein Reh, kein Kind, keine Katze und plötzlich dieses Huhn, als hätte es sich versteckt und gewartet auf dich und gedacht, so, na da ist er ja, hat aber lange gedauert. Das versteht man nicht, wie sowas kommt. Das Huhn gackert nicht mal mehr; sonst können Hühner ja gar nicht aufhören zu gackern, aber seins, das liegt hingerafft da auf der Strasse. Paar Federn kleben am Boden. Das wars. Und dann. Du fährst nicht einfach weiter. Du drehst und fährst zurück, stellst die Maschine an den Strassenrand. Du klingelst am nächsten Haus und erfährst dass, was du leider überfahren hast, nicht einfach ein Federvieh war, nein, es war Ninja, das allereinzige Huhn der Familie Knospe, das Haushuhn, schlief nachts auf der Gardinenstange im Kinderzimmer. Du stotterst, siehst, wie dem Vater Tränen in die Augen steigen und du zückst die Brieftasche, willst das Kamikazehuhn bezahlen; was bleibt dir denn anderes übrig als dieses Huhn bezahlen zu wollen? Er aber schlägt dir die Tür vor der Nase zu. So. Man steht vor dem fremden Haus im Abend, und man will  nichts weniger, als da sein wo man gerade ist. Man möchte da drin sein heute, und morgen, morgen könnte man nicht einfach gehen. Jule summte im Schlaf. Sagte aufhören, ganz deutlich, aufhören und zuletzt, komm...  Er setzte sich auf die Bettkante. Ihr braunes Haar war flach an den Kopf gedrückt und strähnig, fettig, sie roch säuerlich nach tiefem Schlaf, sie hatte den Mund halb offen. Weisst du, mein Julchen, begann er leise, da wo der Pazifik und der Atlantik aufeinandertreffen, ganz unten, ganz im Süden, da ist der Himmel ein weisses Tuch, unter dem du keinen Atem mehr findest. Du weisst plötzlich nicht mehr, ob du

das Meer vom Land aus siehst, oder das Land vom Meer aus. Das kann vorkommen. Da sind schon ganz andere gescheitert. Schiffe liegen da im Ozean, sag ich dir, wie an anderen Orten im Hafen, Rumpf an Rumpf, nur eben mit den Ärschen nach oben.

Moritz Leus Geburtstag war am siebenundzwanzigsten Mai. Er war in seinen fünfunddreissig Jahren noch nie über Europa hinausgekommen, das gibts doch nicht, das glaub ich nicht, sagte Jule, du warst noch nie in New York, in Marokko, in Indien? Dann fragte sie im Spass, du kommst doch nicht aus dem Osten oder, sie sagte es sei Spass und lachte. Wir blieben immer in der Schweiz, sagte er, mein Onkel hat eine Ferienwohnung in den Bergen, gut für Sommerferien und gut für Winterferien, sagte mein Vater, was will man mehr? Meine Freunde fuhren mit ihren Eltern nach Ibiza oder auf die Kanarischen Inseln. Kamen braungebrannt wieder und das Schlimmste waren die Souvenirs, die bemalten Ziegenlederbeutel, die kleinen Windmühlen aus Holz, die unbedingt jeder in die Hand nehmen musste, am ersten Schultag nach den Ferien. Ich kam, sagte er, mit achtzehn Jahren überhaupt zum ersten Mal ins Ausland, ich meine richtig ins Ausland, nicht nur über die Grenze ins Deutsche. Ich fuhr, gleich nachdem ich den Führerschein gemacht hatte, nach England. Mit einem Moped, fünfzig Kubik, eine alte Zündapp für zweihundertdreissig Franken. Hemmental-Calais in fünf Tagen. Dann die erste Fahrt auf einem anständigen Schiff. Ich weiss  noch wie ich anderthalb Stunden, bis wir in Dover anlegten, mich nicht ein einziges Mal hinsetzte. Ich ging vom Sonnendeck bis zum untersten Autodeck und wieder zurück und wieder zurück.

Sie waren aus der Stadt rausgefahren an seinem Geburtstag, gegen Norden, gegen Nordosten. Sie hatten sich Zeit gelassen, durch die Dörfer, das Grün war noch ganz hell, es war ein Dienstag. Er spürte das Gewicht ihres Körpers an seinem Rücken. Gegen Mittag kamen sie durch einen Robinienwald und hinter dem Wald lag die Ostsee. Mit seiner Nase, dachte Moritz Leu, sei etwas nicht ganz in Ordnung, sie roch nicht mehr wie sie sollte, sie hatte das Meer so gar nicht gerochen, er war überrumpelt gewesen, als es plötzlich vor ihnen lag. Am Strand kniete er sich hin und hielt seine Nase in den Sand. Jule schüttelte den Kopf, was er denn habe, die Ostsee rieche man einfach nicht, auch sie rieche die Ostsee nicht, sagte sie, zuwenig Salz. Sie sprang ihm auf den Rücken, umarmte ihn von hinten, er schüttelte sie ab. 

Wir werden, sagte Jule, über New York fliegen, Delta Airlines, und dann, weiter nach Santiago de Chile, von Santiago den Bus, Richtung Süden. Sie sassen beim Abendessen im Restaurant  auf dem Pier, draussen, die Ostsee war ein hellblauer Lappen, flach und ohne Bewegung. Jule summte seit dem Morgen der Tag als Conny Cramer starb, sie trug ein gelbes Kleid und hatte sich geschminkt. Moritz Leu roch am Wein, am Ragout, am Kaffee. Beim Kaffee sagte Jule, wenn du willst, können wir auch ein, zwei Tage in New York bleiben. Sie drückte ihm ein grell pinkfarbenes und mit Palmen bedrucktes Couvert in die Hand, strahlte. Wir werden im Oktober fliegen, sagte sie, wenn da Sommer ist oder wenigstens Frühling und hier Herbst oder Winter.

Im Restaurant spielte ein Blasorchester viel zu schnell einen Blues. Er musste daran denken, dass im Französischen Sonnenuntergang coucher du soleil heisst, und am Tisch neben ihnen, sassen zwei sich auf italienisch unterhaltende Italiener, weiss der Teufel, was Italiener hier oben zu suchen haben. Einer rauchte eine Zigarre.

Ein Blindgänger, meine Nase, dachte er, es ist nicht zu fassen, ich rieche nicht einmal die Zigarre. Hey, Moritz, hallo, hörte er Jule von weitem, und sah ihre Hand winken vor seinen Augen, unscharf, wie zum Abschied oder um seinen Blick zu fangen.

Er nahm ihre Hand. Jule trug keinen einzigen Ring. Unter ihren Fingernägeln klebte Sand. Pit aus der Buchhandlung, sagte sie, der blonde, weisst du, der mit dem Pferdeschwanz, der ist schon dreimal in Patagonien gewesen, überall da, mit dem Fahrrad, er macht einen schönen Abend für uns, einen patagonischen Diaabend mit patagonischer Musik und echt patagonischem Essen.

Moritz Leu nahm Jules Zeigefinger in den Mund und putzte mit der Zunge den Sand unter dem Nagel hervor. Es knirschte, als seine Zähne auf den Körnern mahlten.

Bitte, sagte Jule, hör auf.

Er bestellte Sekt. Ich glaube wir müssen, sagte er, jetzt endlich auf Patagonien anstossen, auf dieses Ödland am hinterletzten Rockzipfel der Erde, man ist da noch nie gewesen und man will da auch gar nicht hin, Jule, glaubst du im Ernst, man kann sich an Orte wünschen, an denen schon andere gewesen sind? Fürst von Metternich trocken, auf dich, meine Jule, und auf unsere zukünftigen Reisen zu zweit. Du hast recht, sagte er, gegen einen Diaabend ist nun wirklich nichts einzuwenden.

Im Sommer fuhren sie für zwei Wochen in die Ferienwohnung seines Onkels in die Berge.

S`ist nicht immer so ein Wetter, sagte Carla vom Konsum tagtäglich, seit fast zwei Wochen, wenn er morgens die Milch holte. Schöne Scheisse, fluchte Jule schon am zweiten Tag. Ihm war das Wetter recht, er schlief viel, las, schlief wieder. Er war froh, nicht wandern zu müssen in der schönen Landschaft, er kennt sie, kennt jeden Weg, die Aussicht von jedem Punkt aus. Man kann nicht in Ruhe lesen, wenn draussen der Sommer brutzelt und so erwartet niemand von ihm, dass er aufsteht, kein normaler Mensch steigt in die Berge hinein bei Regen und Nebel noch dazu, bis auf Jule.

Er stand auf und zog sich an. Die Regenjacke, die Regenhose über die Jeans. Jule hatte schon Wasser für den Tee aufgesetzt und schmierte jetzt Proviantbrote.

Als sie aus dem Haus traten, hielt das Postauto auf dem Dorfplatz. Es war leer. Der Fahrer stieg aus, um eine Zigarette zu rauchen. Sonst war niemand zu sehen. Sie gingen durch die Gassen bis zum Wegweiser hinter dem Salihaus, Cadrin, drei Stunden, Pass da la Duana, sechs Stunden. Ich will auf mindestens zweitausend Meter rauf, sagte Jule, über die Waldgrenze, ich war noch nie über einer Waldgrenze, sie hüpfte auf und ab wie ein ungeduldiges Kind.

Er ging voraus, eine grob behauene Granittreppe, danach die Kastaniengärten vor dem Wald. Er trug den Rucksack, sie ihren Fotoapparat, wozu, wusste er beim besten Willen nicht. Für die Waldgrenze vielleicht, aber eine Waldgrenze lässt sich nicht fotografieren, weil eine Waldgrenze immer franst. Man kann nicht sagen, hier, schau mal, ist die Waldgrenze, hier Bäume, dort keine Bäume mehr, wie sich Jule das vielleicht vorstellte. Sowas ist nun mal nur von einer andern Talseite aus zu sehen, von weitem.

Die erste Pause machten sie nach einer Stunde im Schutz einer Kapelle im Wald, Mittag, der Glockenschlag aus dem Dorf war schon nicht mehr zu hören. Nach einer weiteren Stunde die erste Alpwiese. Dann Tannenwald. Sie gingen hintereinander, wie auf Treppen den felsigen Weg hinauf, langsam, langsam, mussten haushalten mit ihrem Flachlandatem. Das Dach der Tannen hielt den gröbsten Regen ab. Moritz Leu war froh um Jules Atem hinter seinem Rücken, um ihre Geräusche in diesem Wald. Nach einer Weile kam leises Geläut durch den Nebel; die Ziegen auf der oberen Alp. Jule wurde lebhaft, verliess den gemeinsamen Rhythmus ihrer Schritte, überholte ihn, rannte fast. Ein heller Schimmer war jetzt zwischen den Stämmen, mehr zu erahnen als wirklich zu sehen. Die Waldgrenze, rief sie von oben, endlich, juchzte sie, endlich. Moritz Leu wusste, dass es nicht stimmte, es war nur eine Weide, zu steil für jede Kuh, durchsetzt von Felsbrocken, krüppligen Bäumen und zwei, drei Ställen.

Ich warte, sagte Moritz Leu, da drüben im Stall auf dich, wenn du weitergehen willst, das hier ist keine Waldgrenze, diese Weide ist die letzte Weide vor dem letzten Wald, ehrlich, ich kenne mich aus. Die Ziegen waren näher gekommen, rülpsten halbverdautes Gras in die Mundhöhlen, kauten wieder. Jule verzog das Gesicht. Du brauchst einfach nur diesen Weg weiterzugehen, sagte er, und vielleicht findest du oben eine Sonne. Manchmal, sagte er, ist das so in den Bergen, man weiss nicht wie und woher die Sonne plötzlich kommt oder der Schnee, das Eis.

Ich bin oft, sagte Jule, allein gereist, in Australien und sogar in Marokko. Da werde ich jetzt auch noch eine Waldgrenze finden, oder?  Jule ging ohne Abschied, sie drehte sich nicht um oder sie drehte sich erst um, als der Nebel ihn schon geschluckt hatte, drei oder vier Schritte zu spät.

Dohlen schossen aus glaslosen Fenstern, als Moritz Leu sich am Riegel der Stalltür zu schaffen machte, sie schliesslich aufbekam und in den Dämmer des niedrigen Raumes trat. Er wusste, es röche scharf nach Urin und Ziegenmist, wäre seine Nase nicht vollkommen taub.

Er könnte schlafen bis Jule zurückkam, sie würde ihn dann wecken, Moritz, riefe sie, ohne jede Rücksicht auf eine mögliche Stille, schon von draussen. Vielleicht würde ihn auch ein gekrächzter Song zuerst wecken, wenn sie ihre Enttäuschung darüber, dass sie nirgendwo eine Waldgrenze hatte finden können, lauthals fortsang. Ein lustiges Lied würde es sein, ein dummes Lied,  come on baby light my fire, zum Beispiel. Er wollte sich hinlegen, schlafen. Er blieb stehen. War da nicht ein Geräusch gewesen? Gerade eben.

Moritz Leu sieht sich stehen, den Rucksack am Rücken, er sieht seine Lippen sich bewegen und das Geräusch ist seine Stimme, come on baby light my fire, aus seinem Mund, leise, rauh aber richtig, oder er ist sich nicht sicher wie es richtig klänge. Ein saublödes Lied. Er schluckt zweimal. Das geht vorbei, denkt er, das muss vorbeigehen.

Er hätte nie gedacht, dass Töne einen würgen können. Man muss sich wehren dagegen, ganz entschieden, denkt er, aber wie? Andere freuen sich, wenn sie plötzlich singen können. Er hält sich abwechselnd Mund und Ohren zu.

Er muss raus, fort von hier. Man wird irr an diesem Echo von Melodien im eigenen Kopf, Jules Melodien, mit denen er nichts zu schaffen hat.

Jäh geblendet vom bleichen Licht, Schemen dunkler Köpfe vor der Tür. Beide Hände fest unter den Trägern des Rucksacks, platzt er ins Ruhen der Tiere hinein, fliehendes Geläut begleitet ihn talwärts, während er stolpert und rutscht und stolpert, über den felsigen Weg, an den Tannen vorbei. Sein Regenzeug ist ein Treibhaus, das Haar klebt ihm am Kopf wie ein viel zu dünner Helm.

Das Postauto stand auf dem Dorfplatz, als wäre es nie fortgewesen, der Chauffeur rauchte, an die Tür gelehnt, eine Zigarette.

Moritz Leu packte seine Sachen. Er schrieb keine Nachricht. Er hätte ihr, dachte er, eins der Brote im Stall lassen sollen, die rote Thermosflasche, falls sie hungrig und durstig gewesen wäre, beim Zurückkommen.

Er nahm seine Tasche, schloss die Tür. Versteckte den Schlüssel wie immer auf dem hinteren Balken, belud das Motorrad und fuhr ins Tal hinunter.

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