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Glücksspagat
Um
fünf Uhr tauscht Maat seinen Dienstanzug gegen Hemd und Hose, kämmt sich
und betritt die Gegenwart durch den Hinterausgang.
Tieffliegende Vögel kommen ihm entgegen. Zeitungen wehen an ihm vorbei.
Maat geht nach Hause. In seinem Rücken schließt das Museum. Ein Saal
nach dem anderen verlischt. Die Garderobenfrauen sammeln vergessene, noch
tropfende Schirme. Sie zählen das Trinkgeld und schlüpfen in
Übergangsmäntel. Es ist die Jahreszeit gedeckter Farben. Es wird früh
dunkel.
Maat
geht nach Hause. Tankstellen spenden Licht. Sie wachsen über der Straße
zusammen wie Alleebäume. Maat geht. Gleichförmig wird die Kulisse an ihm
vorbeigezogen. Er kann die eigenen Schritte nicht hören. Autotüren
schlagen. Markstücke springen aus Einkaufswagen. An den Ampeln pulsiert
ein metallischer Ton für die Blinden.
Zuhause
zieht Maat seine Schuhe aus. Er legt sich aufs Sofa. Den ganzen Tag hat er
gestanden oder ist gegangen, mit auf dem Rücken verschränkten Händen,
mit Schritten, die seit Jahren gleich weit ausgreifen, und seine Haare
werden langsam schütter. Maats Wohnung ist sein Hafen. Sie ist der
einzige Ort, an dem er liegen kann. Die Welt spült abgeschwächte Wellen
gegen ihre Wände.
Maat
schaltet den Fernseher ein. Die Sendung, die gerade läuft, sieht er jeden
Tag. Eine Kandidatin tastet mit verbundenen Augen nach Gewinnen. Ihre
Fingerkuppen fahren über Waschmaschinen, Spülmaschinen und
Kühlschränke. Sie rät erst lautlos, dann nennt sie fragend einige
Namen. Der Spielleiter faßt sie an der Schulter und lacht. Er zeigt auf
seinen Mund. Maat sieht, daß dort, auf heraushängenden Kassenstreifen,
die richtigen Namen der Geräte stehen. Er sieht die Finger der
Kandidatin, gerahmt vom Fernseher. Die Finger schwimmen aufgeregt hin
und her, wie kleine Fische, die nahe der Wasseroberfläche ihren Schwarm
verloren haben. Maat liegt auf dem Sofa und schnarcht.
Morgens
geht Maat ins Museum. Er geht über einen sanft ansteigenden, gelben
Hügel. Links und rechts stehen Galgen im ersten Licht. Hunde spielen.
Frauen tragen Körbe mit Obst. Maat lächelt. Er wirft Geld in den Hut
eines Blinden. Am Horizont ragt das Museum auf. Seine Fenster leuchten.
Alle Wegweiser weisen in seine Richtung. Ausgestreckte Arme aus Holz;
verwitterte Kompaßnadeln; Steine, die halb umgesunken sind, die mit ihren
eingeritzten Pfeilen halb auf das Museum und halb auf den Himmel zeigen.
Maat folgt ihnen. Er geht querfeldein.
Aus
anderer Richtung kommen die Garderobenfrauen. Von ihrer Haltestelle, an
der sie aus dem Bus steigen, bis zum Museum reden sie wenig. Sie haben
Kopftücher umgebunden. Sie zählen ihre eigenen Schritte. In ihrem Bauch
schwanken zwei Tassen heißer Kaffee. Sie begrüßen sich mit kurzen,
schwarzen Sätzen.
Maat
sieht die dunklen Silhouetten, weit vor ihm, gegen den Himmel:
Scherenschnitt der Garderobenfrauen. Sie werden gleichförmig
vorwärtsgezogen. Darüber steht die große rote Sonne. Das Museum
wartet. Das Museum, freigelegt von der Ebbe des Morgens, wartet auf den
Museumswärter Maat.
*
Maat?
sagen die Kollegen. Maat ist immer pünktlich. Maat, sagen die Kollegen,
kommt auf Zehenspitzen ins Gebäude. Maat, sagen die Kollegen, ist still,
niemals krank, scheitelt seine Wünsche, bis sie eng am Kopf anliegen, so
eng, daß man sie nicht erkennt. Unser Kollege Maat, sagen die Kollegen,
ernährt sich von Luft.
Maat
zieht seinen Dienstanzug an. An den Wänden des Umkleideraums steht
Schwitzwasser. Der Putz blättert ab. Stockflecken verteilen sich, bilden
Muster, in denen Maat manchmal Bauern zu erkennen glaubt, die mit Pflügen
ihre Felder bestellen. Er sieht ein Delta, über dem die Sonne aufgeht.
Die Heizung pocht. Maat öffnet die Vorhänge des Umkleideraums. Er trägt
sich in den Dienstplan ein. Jeden Tag unterschreibt er in derselben
Spalte. Jeden Tag schreibt er: Maat, Aufsicht Sammlung Mittelalter. Seit
Jahren kreist er durch dieselben Räume. Seine Kollegen haben sich vor ihm
eingetragen. Sie bewachen die Neuzeit. Sie stehen zwischen Portraits und
Landschaften, Schlachten und schwellendem Fleisch, Farbspritzern und
Ausrufezeichen und schielen nach den Beinen der jungen Frauen. Niemand
macht Maat das Mittelalter streitig. Er ist dort allein.
Maat
betritt sein Reich. Die Wände sind mattgrün bespannt, in einer Farbe,
die an sterbende Topfpflanzen erinnert. Es ist die Farbe, die Topfpflanzen
annehmen, wenn sie vergessen haben, wo sie sind, wenn sie schon aus der
Ferne zusehen, wie man sie noch gießt. Auf der Bespannung hängen die
Bilder wie gelähmt. Maat blinzelt. Er hat gelernt, die grüne Fläche
nicht zu sehen. Seine Schritte knarren auf Parkett. Er liest, einen nach
dem anderen, die Hygrometer ab. Sie ticken so schnell, als mäßen sie
Zeit, tropfende Zeit, aus einem winzigen Leck auslaufend. Ihre Nadeln
schreiben Profile. Maat sieht Gebirgszüge, Ebenen, Hochplateaus, die in
Abgründe übergehen, und Berge, die langsam aus dem Meer aufsteigen. Maat
schmeckt Gischt und Sandstürme. Erdbeben kommen und gehen. Maat sieht
Landschaften, die unter dem Glas des Hygrometers in alle Richtungen
ausschlagen. Er beugt sich über die Nadeln. Beflügelt von seinem Atem,
zeichnen die Geräte fünf Millimeter hohe Berge.
Maat
beginnt seinen Rundgang. Aus den Augenwinkeln kontrolliert er, ob die
Bilder alle hängen. Er watet durch die stehende Luft und öffnet die
Vorhänge. Morgens führt er den Bildern Tageslicht zu; mittags, wenn die
Sonne hoch steht, schirmt er sie wieder ab und bringt sie zurück in eine
mittlere, weiche Dämmerung. Sie müssen geschont werden. Blendet man sie,
erschrecken sie und verschwinden.
Maat
sieht auf seine Uhr. Er legt die Hände auf dem Rücken zusammen. Sie
passen ineinander. Sie sind zwei lang vertraute Tiere, die die Tage
zusammen verschlafen. Sie bewegen sich kaum im Schlaf. Er spürt ihre
weiße Haut. Er spürt, daß sie tagblind träumen; daß sie leer sind;
daß sie ihn loslassen, während sie schlafen. Maat beherrscht keine
Handgriffe. Maat zerhackt seine Tage nicht zu Brennholz. Seine Hände
liegen still.
*
Wenn
Maat sich auf dem Sofa ausstreckt, wenn der frühe Abend auf die
Hausdächer sinkt, hängen an allen Häusern Schüsseln und sammeln
Bilder, die direkt aus dem Himmel herabkommen. Sie zeigen Glückspartikel
auf Glastischen, so beleuchtet, daß sie zu schweben scheinen. Sie zeigen
Kanndidaten, die sich an Ratepulten festhalten, weil der Wind des
Schicksals durch die Sendung weht. Maat sieht eine himmlische Stadt.
Menschen haben Leitern an die Stadtmauern gelegt und versuchen, ihren Weg
zu machen, aber die Leitern sind sehr lang und schwanken. Auch ihm werden
die Augen verbunden. Er muß ein Stück auf den Sprossen nach oben
klettern, dann spürt er, wie ihn zarte Schwingen in Empfang nehmen. Er
riecht das Parfum der Assistentinnen, das sich wie der pfauenäugige
Flügel eines Seraphs ausbreitet. Wir werden sie, sagt der Spielleiter, an
unser Glücksrad fesseln, aber sie brauchen keine Angst zu haben. Maat
hört das Publikum klatschen. Als das Rad sich zu drehen beginnt, stehen
ihm die Haare zu Berge. Er ruft Vokale. Die Assistentinnen überprüfen,
ob er der Lösung näherkommt. Als das Rad hält, schreit Maat immer noch.
Die Assistentinnen nehmen ihm die Augenbinde ab.
Maat
öffnet das Fenster. Er riecht die Erde des Vorgartens. Nachtfalter
sammeln sich als glänzender Kegel im Licht der Peitschenlampe. Ein
entferntes Rauschen, wie befestigt am Himmelsgewölbe, kreist um die
Stadt. In den Rückspiegeln geparkter Wagen spiegeln sich geparkte Wagen.
Unter den Sternen ziehen in lautlosen Schwärmen die Satelliten. Maat
hört das Klirren von Hundemarken, wenn letzte Spaziergänger sich
nähern.
Im
Fernseher sausen Wörter durch die Luft. Manchmal ist das Glück ein
Sprichwort, ein kleines Wissen um die Welt, eine Klugheit, die vor der
eigenen Haustür kehrt; manchmal ein Wort mit vielen Buchstaben, das sich
um die Ecken windet und den Kandidaten die Luft abdrückt. Manchmal ist es
der Name eines Menschen, der mit angelegten Ohren vorwärtsgekommen ist,
weiter als andere, und von dort unsterblich zurückwinkt. Das Glück muß
erraten werden. Es versteckt sich im eigenen Kopf, kauert hinter den
Vorsprüngen, hinter den Wänden aus Erinnerungen, die jetzt Hindernisse
sind. Die Kandidaten reißen sich Arme und Beine danach aus.
*
Maat
geht leicht vorgebeugt. An seinem Gürtel hängt das Funksprechgerät. Am
Funksprechgerät hängt das große Schlüsselbund. Die Schlüssel öffnen
den unsichtbaren Teil des Museums. Das Magazin, die Betriebsräume, die
Werkstatt des Restaurators. Maat benutzt sie selten. Er wohnt in seinem
Dienstanzug. Er füllt ihn ganz aus. Sein Dienstanzug umhüllt ihn wie die
verwitterte, vor langer Zeit entstandene Erdkruste ihren Kern. Maat geht
auf seiner Bahn. Er wetzt den Boden des Museums ab. Berechenbar, immer in
der gleichen Reihenfolge, begegnet er den Bildern. Sie sind die einzigen
Planeten, auf denen andere Menschen wohnen.
Die
Königin von Saba ist durch den Staub der Wüste, durch gelben Sand
gezogen; sie streifte Felsen und Dornen, um Salomo zu sehen. Sie ist
gekommen, um ihn mit Rätselfragen zu prüfen. Der König sitzt auf
seinem Thron, als wäre er eine kostbare Pflanze. In strengen grünen
Falten liegt sein Gewand. Alles Mühen der Menschen, sagt Salomo, ist für
seinen Mund, aber sein Verlangen bleibt ungestillt. Die Königin von Saba
trägt einen großen blauen Umhang. Salomo sieht sie an. Seine Brauen
neigen sich ihr zu. Sie reicht ihm einen Kelch. Die linke Hand des Königs
streckt sich danach aus, liegt in der Mitte des Bildes, vor dem Goldgrund
angehaltener Zeit, mit der Handfläche nach oben, so daß der Tau sich
darin sammeln kann und die Luft. Er greift nicht nach dem Kelch. Er hält
seine Hand in der Schwebe.
Maat
zählt Staubkörner. Vormittags, wenn das Licht schräg steht, sieht er
den Staub als stillen Sturm über die Bilder fluten. Er streift den
Firnis, streicht über Risse und Sprünge, kitzelt die einst versiegelten
Gesichter, wird schwer und sinkt auf den Boden, wird von Maat
aufgewirbelt, steigt über der Heizung in Wolken auf, fliegt wieder auf
die älter gewordenen Bilder zu. Die Linke Salomos streckt sich
unbeirrt aus.
*
Wie
eine Meute gut gezogener Hunde werfen die hilfreichen Hände der
Assistentinnen sich ins Geschehen. Sie schieben Rollwagen herein; sie
öffnen Zauberwürfel; sie stöbern nach dem Glück, ohne abzusetzen. Sie
sind schlank gezüchtet, damit sie es aus dem engsten Winkel treiben
können. Maat verfolgt sie. Die Hände sind darauf abgerichtet, die
Kandidaten gezielt zu packen und ins Bild zu treiben. Sie ziehen sie auf
den richtigen Platz, dorthin, wo sie von ihrem Gewinn ganz umschlossen
sind, wo er sie umgibt wie ein Heiligenschein. Sie stoßen die Kandidaten
leicht an und fügen sie so ins Bild, daß niemand mehr zwischen dem
Kandidaten und seinem Gewinn unterscheiden kann. Die Kandidaten werden
eingefaßt. Sie lächeln aus einem Medaillon. Die Hände der
Assistentinnen sind schon unterwegs, um neue Beute zu machen.
*
Maats
Schritte knarren auf Parkett. Die Sonne steigt langsam höher. Sie erfaßt
gemalte Äpfel. Im Paradiesgärtlein wachen Pflanzen und Tiere auf. Jeder
Millimeter ist von gefiederten Träumen bedeckt. Löwen und Rehe trinken
aus einer Quelle. Fische und Vögel schwimmen in der blauen Luft. Blumen
winden sich um die Füße der Bäume, schenken Erdbeeren, Milchsterne,
Honig aus. Die Zeit steht schmetterlingsbestäubt zwischen Himmel und
Erde. Keine Erinnerungen bilden Wolken. Keine Ängste kommen als Gewitter
nieder. Das Paradies atmet gleichmäßig in seinem Rahmen. Maat behütet
es vor den Menschen. Stecken sie ihre Nasen zu tief hinein, geht Alarm.
Maat kommt um die Ecke mit flammenden Schuhsohlen.
Der
Geist Gottes schwebt auf den Wassern. Sein karmesinroter Mantel weht. Er
schöpft die Welt aus der Tiefe. Sie ist kreisrund, eine Scheibe, mit der
er spielt. Gott überschlägt sich. Die Welt ist schwer. Er bringt sie an
ihren Platz. Noch kreisen in ihr die vier Zustände unvermischt; noch
drehen sich Feuer, Wasser, Erde und Luft gegeneinander als Ringe. Gott
betrachtet sein Werk. Er prüft es zurückgebeugt. Er sammelt das Wasser
unter dem Himmel an besondere Orte, daß man das Trockene sieht. Er
scheidet die Erde vom Meer.
Gott
steht in einem Landschaftsstück. Die Welt wächst. Er segnet sie mit drei
ausgestreckten Fingern. Es erheben sich immer mehr Geschöpfe. Erdbeeren
leuchten wie Blutstropfen zwischen den Stämmen von Bäumen.
Zickzackförmig schieben sich Felsen auf den Abgrund zu. In der Ferne
entsteht das Dunkel des Waldes. Gott macht zwei Lichter: ein großes
Licht, das den Tag regiert, und ein kleines Licht, das die Nacht regiert,
dazu die Sterne. Er hüllt sich fester in seinen Mantel. Die Gestirne
treiben auf den Wellen des heranflutenden Himmels. Achtzackig kommt der
Stern von Bethlehem ins Bild. Gott segnet die Ausfahrt seiner Schiffe. Das
Himmelsmeer ist bewegt. Er schafft Walfische, auch Hechte und Krebse, die
mit ihren Scheren drohen. Alle Tiere kreisen um ihn, der sie im
Niederbeugen belebt. Sein karmesinroter Mantel wogt. Fische schwimmen im
Gold, Vögel öffnen ihre Schnäbel, Raubtiere, Grasfresser und
Fledermäuse erscheinen. Gott steht am Rande einer Schlucht. Noch kennt
die Erde keine Schwerkraft. Noch fliegt alles auf ihn zu, weil er der
Mittelpunkt der Welt ist.
*
Der
Spielleiter verbreitet geföntes Licht. Er wartet auf etwas. Seine Hände,
unfreiwillig rastend, lagern vor seinem Bauch, Abzählreime murmelnd und
versunken. Keine von ihnen springt vorzeitig auf. Sie wissen, daß sie
manchmal nutzlos sind und oberhalb der Scham angebunden warten müssen,
bis es weitergeht. Sie langweilen sich, aber sie sind bemüht, sich ihre
bleichen Gedanken nicht anmerken zu lassen. Maat spürt, daß sie ihn am
liebsten zerreißen würden, nur um freizukommen, nur um nicht mehr im
gefönten Licht zu sein. Als der Spielleiter aufwacht aus seiner
Erstarrung, sieht er wieder aus, als wolle er jeden umarmen.
Maat
liegt auf dem Sofa. Der Feierabend, eine große Schwärze, die sich über
die Erde schiebt, füllt Maats Wohnzimmer ganz aus. Das Dunkel weicht kaum
zurück, auch wenn es vom Bildschirm bestrahlt wird, vom hellen Studio, in
dem das Publikum auf Bänken ohne Rückenlehnen sitzt und die Füße
leicht nach innen stellt. Aus der vorletzten Reihe winkt es. Es grüßt
die Daheimgebliebenen. Heimlich wedelt es mit den Armen, bis sie
schmerzen. In der letzten Reihe entrollt es ein Transparent. Auf dem
Transparent steht: Wir sind da.
*
Im
Museum ticken die Hygrometer. Maat ist mit den Bildern allein. Wieder und
wieder buchstabiert er sie, in der Reihenfolge, in der sie ihm begegnen.
Er ist umschlossen von einer einzigen Geschichte. Manchmal sieht Maat sie
wie zum ersten Mal, wie gerade erst aufgetaucht, wie schwer zu
entziffernde Tafeln, die jemand aus den Wolken reicht.
Gott
beugt sich nieder zur Erde. Der erste Mensch wächst ihm entgegen. Engel
drängen vom Firmament und schwingen Weihrauchfässer. Der Mensch ist erst
zur Hälfte aus der Erde aufgewachsen. Ein sanfter Wirbelsturm beginnt.
Adams
Hände scheren auf. Er ist bereit zu leben. Aber Gott schläfert ihn
wieder ein. Er läßt einen tiefen Schlaf fallen auf ihn. Er bettet ihn
auf grasbewachsenem Fels. Ein Wald spendet Schatten. Die Bäume haben
gewundene Stämme. Adam umarmt sich selbst in seinem ersten Schlaf.
Gott
macht ihm einen Gefährten. Ein kleines Weib wächst aus Adams Rippe.
Unter dem mächtigen Ärmel Gottes öffnet das Weib seine Hände.
Er
läßt die ersten Menschen allein. Die Bäume nicken sich hoch über ihnen
zu und breiten ihre Kronen aus. Die beiden Menschen gehen umher und
betasten die Stämme. Sie wissen nicht, wo sie sind.
Maat
hört Schritte. Eine Schulklasse verteilt sich in den Sälen. Im Museum
beginnt es, nach Kaugummi zu riechen. Maat ist aufgeschreckt. Er bewegt
sich so, daß er die Schüler immer im Auge behält. Dann redet eine
Museumsführerin, die er nicht kennt. Die alten Meister, sagt sie,
konnten durch die Zeit hindurchgehen wie durch nachgiebige Mauern. Wir
wissen nicht, wer diese Bilder gemalt hat, sagt sie, darum nennen wir die
Maler nach ihren Bildern. Wir geben ihnen Hilfsnamen. Eigentlich, sagt
sie, sind Namen nicht wichtiger als ein Hut: zieht man ihn vom Kopf,
vermag der Geist ungehindert in den barhäuptigen Maler einzudringen und
unter seinem Pinsel zu erscheinen. Hier seht ihr, wie er erschienen ist.
Hier seht ihr eine lebende Schrift, die ihre Worte mit Fleisch bedeckt.
Maat
beobachtet die Führerin. Sie beginnt, die Hilfsnamen der Maler
aufzuzählen: Meister des Kalvarienbergs der Familie Wasservaas.
Bartholomäusmeister. Meister des Hausbuchs. Meister der
Vergänglichkeitsallegorie. Meister der Landsberger Stadtansicht. Meister
von 1477. Meister der tabula magna. Meister des Londoner Gnadenstuhls.
Meister
vom Mondsee, ergänzt Maat. Meister der Darbringungen. Die
Museumsführerin dreht sich nach ihm um.
*
Maat
träumt. Er zieht die Dinge an Fäden zu sich herein. Rings um ihn
rascheln Hände und sammeln Vorräte für den Winter. Es riecht nach
aufgewärmtem Essen. Rolläden fallen wie Guillotinen. Leise zitternd,
weit draußen, stehen die Sternbilder vergangener Epochen.
Der
Spielleiter nähert sich einer Frau. Sie spielen mit! sagt er. Am Busen
der Frau klebt ein Schild mit ihrem Namen. Der Spielleiter geht ein Stück
in die Knie. Gisela! ruft er, erzählen Sie uns eine wahre Geschichte, die
Sie nachts erlebt haben!
Ich
war auf der Autobahn, sagt Gisela, und schob mein gerade geborenes Kind
vor mir her. Mein Kind lag in einem Einkaufswagen. Autos überholten mich.
Die Leute in ihnen glommen grünlich. Sie saßen klein zusammengesunken im
Blech. Ich schob meinen Einkaufswagen. Das Kind darin war nackt. Im Licht
der Leuchtschriften, die neben der Autobahn anfragten, sah ich, daß das
Kind seine Fäuste öffnete und schloß, ganz regelmäßig, wie
Herzschläge.
Gisela!
ruft der Spielleiter dazwischen, und hüllt die Kandidatin in eine kurze,
fürsorgliche Geste. Der Moment wölbt sich. Ein Mann und eine Frau
berühren sich angesichts fallender Würfel und blinkender Zahlen. Dann
hat der Spielleiter die Kandidatin wieder auf die richtige Kamera
ausgerichtet. Gisela! ruft er, Sie haben vier neue Winterreifen gewonnen!
*
Maat
geht. Gebärden streifen ihn wie Zweige. Sie grüßen Ereignisse, die in
keine Hände passen. Sie wachsen nur in dieser Gegend. Jahrhundertelang
haben sie sich hier fortgepflanzt.
Vor
der Tiefe des Goldgrunds landet Gabriel. Seine blauen Flügel sind
zerzaust von der Reise. Er legt sie zusammen. Er hat einen Auftrag. Seine
Linke entrollt ein Spruchband zur Begrüßung; seine Rechte hebt sich und
deutet auf das erste Wort. Ave, heißt es. Die Schrift umschließt Marias
Kopf als plötzlich sichtbar gewordene Aura. Maria ist aufgeschreckt aus
dem Studium der Bücher. Von drei Lesepulten sind die Schriften der
Menschen auf sie gerichtet. Maria soll nicht mehr lesen. Schon
verschwimmen die Seiten, in denen sie blättert. Die Bücher sind nur noch
Papier, fortgeweht von der Druckwelle des Engels. Maria senkt ihre Lider.
Sie erfährt, was man mit ihr vorhat. Sie neigt ihren Kopf. Am oberen
Bildrand reißt das Gold auf. Gott beugt sich aus blauen Wolken. Die
Ewigkeit ist ein Meer, ein schwarzblauer Rocksaum, von dem ein Zipfel ins
Bild fällt, wenn Gott auftaucht. Eine Taube und ein Kind mit
geschultertem Kreuz erscheinen. Sie sind im jähen Sturzflug göttlichen
Willens.
Marias
rechte Hand liegt vergessen in dem Buch, das sie las. Ihre Linke stützt
ihr eigenes Herz in den Wogen der Verkündigung: Sie schließt sich
fraglos um das Unbegreifliche.
*
Der
Spielleiter war eine Weile nicht zu sehen. Jetzt ist er aus der Versenkung
aufgetaucht, ganz der Alte, und nimmt seinen eigenen Platz wieder ein bis
an die Ränder. Er geht umher und schaut nach dem Rechten. Hinter der
Kulisse, dort wo die Kabel entlanggeführt werden, wollen die Zwerge ihn
begrüßen. Sie springen von den Kulissenrückwänden, wo sie als lebende
Klammern hängen, um sie zusammenzuhalten; sie fallen von der Decke, wo
sie umherlaufen und dem Spielleiter bei jeder Bewegung starke Lampen
nachführen; sie kommen gerannt, stellen sich einer auf die Schultern des
anderen und beginnen, den Spielleiter zu frisieren. Er schüttelt ihnen
die Hände und klopft ihnen auf den Rücken. Ihr seid gewachsen, sagt er.
Die Zwerge lachen verlegen. Sie haben alle ein Hemd an, auf dem der Kopf
des Spielleiters abgebildet ist. Sie legen sich auf dem Fußboden zusammen
zu dem Wort Hurra. Zwischen ihnen ragt der Spielleiter auf, eine
wiedergewonnene Hoffnung.
*
Maat
lehnt an der Wand. Im Museum ist nichts zu hören außer dem leisen
Knacken der Heizkörper und einer dicken Fliege, die hier zu überwintern
sucht. Sie tastet mit ihrem Rüssel die gemalten Himmel ab. Sie läuft
über fünfhundert Jahre alte Gesichter. Maat sieht, daß sie das
Mittelalter mit ihren Facettenaugen betrachtet und auf Tauglichkeit
prüft.
Manchmal
glaubt Maat, er sei der letzte Mensch auf der Welt. Manchmal glaubt er,
alles sei abgestorben, nur die alten Bilder lebten noch, geschützt von
ihrem Firnis, hinter dem sie Landschaften aufbewahren, die einmal die Welt
waren.
Maat
kennt Tage, die nicht vergehen. Er bewegt sich langsam in ihnen, wie in
einem Glas Honig. Er hebt die Füße und tritt doch immer auf dieselbe
Stelle. Er schließt die Augen und sieht doch immer noch dieselben Bilder.
Er dreht den Kopf und ist doch immer noch im selben Leben. Maat liebt die
Tage, die nicht vergehen. Sie umschließen ihn wie Bernstein.
*
Bleiben
Sie dran! hört Maat eine Stimme in seinem Wohnzimmer rufen. Er kommt aus
dem Halbschlaf hoch. Auf dem Bildschirm wirbeln Kamillenblüten. Eine Uhr
wird eingeblendet, deren Zeiger aus Knochen sind. Maat sieht drei
abgeschälte Finger, die auf drei Dinge weisen: auf das Mundwasser, das
siebzehn Stunden lang desodoriert; auf die Lotion, die den ganzen Tag in
die Haut einzieht; auf die Binde, die kompromißlos Blut auffängt.
*
Maat
geht durch einen knisternden Wald aus Gesten. Während der
Mittagspause hat er seine Abteilung verlassen. Es zieht ihn nach
nebenan; dorthin, wo Menschen und Götter aufbewahrt werden, die ihn fremd
mustern, aber eigentümlich vertraut ihre Hände heben.
Wenn
Maat das Treppenhaus überwunden hat, kommt er nach Afrika. Er muß sich
erst an die Dunkelheit gewöhnen. Sein Kollege, Aufseher über Afrika,
steht regungslos vor dem großen Umriß des Kontinents. Afrika ist an die
Wand genagelt, ein gerupftes, schwarz verkohltes Huhn, das kopfunter
hängt und die Schuhe des Aufsehers betrachtet. Ratternd wälzt eine
Belüftungsmaschine warme Luft um. Maat geht weiter. Der Wald beginnt sich
um ihn zu schließen. In Vitrinen, an Fäden aufgehängt, schweben
Arbeitsgeräte, Musikinstrumente, Waffen, Kopfbedeckungen. Sie werden von
unten beleuchtet, gleichmäßig und fahl, so daß sie aussehen, als
hätten sie niemals Schatten geworfen. Sie sehen aus, als hätte sie nie
jemand berührt außer dem Restaurator. Die Dinge vor Maats Augen sind
numeriert und verhungert, aber er sucht solange, bis er die ersten Gesten
findet: Gesten aus dunklem Holz, aus Kupfer, aus Elfenbein. Hände reichen
ihm Kalebassen, ernten Kokosnüsse, führen Lasttiere am Zügel. Frauen
halten ihre eigenen Brüste. Männer halten mit beiden Händen ihren Bart.
Trommeln schlagen. Und mitten in Afrika, auf einem schwarzen Podest über
Teppichboden, steht einer, um den sich alles zu drehen scheint; der seine
leeren Hände vor sein Sonnengeflecht gehoben hat und sie mit den
Handflächen voran Maat zeigt, ihn abwehrt und gleichzeitig grüßt. Es
ist ein Gott aus Bronze. Er zieht Maat an und weist ihn zurück – so wie
jeder Gott die gegen ihn anbrandende Zeit abweist.
Maat?
fragen zwei Kollegen. Sie lehnen auf dem Informationstresen zwischen
Indien und der Mongolei. Maat gehört doch ins Mittelalter, sagen sie.
Eine Kurve, erzählt der eine, die du mit 120 nehmen kannst, auch mit 130,
aber da muß einer 160 gefahren sein. In der Kurve steht jetzt ein Schild
mit 80, sagt der andere. Dann gehen sie um die Ecke und verschwinden in
den vollgestellten Weiten der Mongolei.
Maats
Taschenlampe leuchtet im Museum. Das Licht streift die Bilder. Hände
züngeln wie milchweiße Flammen hoch. Maat geht. Er ist unterwegs an den
Grenzen seiner sphärischen Welt; er hört Wellen schlagen; er verliert
allmählich den Boden unter den Füßen. Er ist überflüssig geworden.
Maat ist ausgesetzt. Er irrt durch eine Gegend, die nachts zu erwachen und
sich auszudehnen scheint. Maat erkennt das Museum kaum wieder. Seine
Wände sind verschwunden. Überall tauchen die Bilder auf, an Orten, die
nichts mehr mit ihrer Hängung zu tun haben. Sie haben sich
zusammengeschlossen zu einem nächtlichen Horizont. Maat sucht nach einem
Bild, das ihm entgegenkommt, das still die Segel bläht, das bereit ist,
ihn an neue Ufer zu tragen. Er sucht nach einem Platz, der für ihn
freigehalten wurde. Vor ihm erstreckt sich Die Irrfahrt auf dem Meer. Wie
ein großes Fischnetz liegt das Meer ausgebreitet, grüngolden unter
lückenlos goldenem Himmel, mit Wellen, die haarfeinen Firnisrissen
ähneln, opak und weit. Es scheint auf Maat zu warten. Draußen vor der
Küste schimmern Felsen. Maat tritt etwas zurück, um die ganze Landschaft
sehen zu können. Sie reicht tief in die Vergangenheit. Sie verliert sich
in der Ferne. Zwischen den der Küste vorgelagerten Felsen wird das Wasser
heller und geht in das große Weltmeer über. Plötzlich hört Maat hinter
seinem Rücken Schritte. Er hört, daß außer ihm noch jemand im Museum
ist. Maat richtet den Kegel seiner Taschenlampe gegen die Schwärze. Als
er ihn erfaßt hat, blickt Maat in die wächsernen Augen des
Museumsdirektors. Bis auf den Wellenschlag ist es im Museum vollkommen
still. Weder Maat noch der Direktor bewegen sich. Dann hebt der Direktor
seinen rechten Arm und beginnt, lautlos ein weißes Tuch auf und ab zu
schwenken.
In
der Mitte eines Bildes ragt ein bekreuzter Mast auf. Ein Boot ist bereit.
Das Meer erwartet Die Irrfahrt der Heiligen. Maat tritt näher heran.
Unter den im Boot zusammengedrängten Menschen hat er ein Gesicht erkannt.
Die Jahrhunderte vergessend, erkennt Maat das Gesicht der Museumsführerin
neben dem Mast eines wartenden Bootes. Sie lächelt, als sie ihn sieht.
Maat spürt, daß etwas in ihm aufspringt und gegen das Gitter seiner
Rippen stößt. Er hört die Museumsführerin reden. Der Meister von
Tiefenbronn, hört er sie sagen. Ein geheimnisvoller Maler, sagt sie. Das
Meer, sagt sie, ist in einzigartiger Weise auf eine Zinnfolie aufgetragen.
Ein Altar des Abschieds. Auf dem Rahmen, sagt sie, steht eine Inschrift,
die niemand deuten kann. Maat liest: Schri * kunst * schri * und * klag *
dich * ser * din * begert * iecz * niemen * mer. Schrei, Kunst, schrei,
sagt die Museumsführerin, und klage sehr, dich begehrt jetzt niemand
mehr. Maat sieht sie an, dann blickt er wieder auf das Meer, das sich in
der hellen Ferne verliert. Das Boot, in dem die Museumsführerin sitzt,
schaukelt leicht hin und her. Sie lächelt Maat an. Er läßt die
Taschenlampe fallen. Er geht an Bord.
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