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Tage
1
Verschlampte
Stunden morgens, regennasse Vögel stürzen vors Fenster wie zum Gebet,
die versäumte Zeit kriecht, dicht an die Dielen gepreßt, durch Zimmer
und Flure: weite Räume, in denen anmutslos und zärtlich der Tag vergeht;
könnte mein Kopf mich tragen, wohin ich will, in die Langeweile von
Februartagen, zu langen Spaziergängen mit nassen Füßen, zuweilen
Küsse, und zwischen feuchten Mäntelkrägen berühren klamme Finger den
Hals, wo er am weichsten ist, so weich, daß er seine Verlockung
zurücknimmt, sich den nassen Zweigen überläßt, und später die
Striemen, rote Leuchtzeichen, die kleinen Verwundungen, ihr Plappern noch
Jahre danach, Narben, die so vertraut sind wie ein anderer Körper nach
der Liebe und wie ihr Geruch mittags oder noch später. Alles, was ich
vergessen habe, Verrichtungen, Geschirr, Bettdecken, Briefe, leise Träume
huschen scheu an Wörtern und Farben vorbei, ich rauche und warte, auf ein
Knacken der Öfen, ein Klopfen, stelle mir vor, wie ich im Bett liege,
noch immer, noch immer morgens, während schon Dämmerung zwischen den
Wolken zögert, zögernd die sanfte Berührung zweier Finger nachahmt, und
Elstern auf der Dachrinne wippen, keckern. An die ruppige
Februarlandschaft erinnere ich mich, die Wunden des Winters, die schwarzen
Baumstämme, an die riesige Pfütze nicht weit vom Haus auf der Wiese, das
rote Haus im Blick nur noch ein roter Fleck, mürbe, bereit zu vergessen,
die Pfütze fast schon ein See, jedes Jahr, an grüne, blaue, schwarze
Gummistiefel, die großen Schritte für Abenteuer, an die Wachsamkeit
erinnere ich mich, das Pfeifen des Windes treibt die Stimmen aus dem Kopf,
dem Mund, einzelne Grashalme, Zweige, ein fauliges Blatt oder rote Beeren
spiegeln sich in anderen Pfützen, halten den Herbst, den Geruch
sonnenwarmen Waldbodens, Hochsitze und die Angst. Noch immer wundere ich
mich über die Spiegelung in einer Pfütze, über die Grashalme und
Steinchen unter Wasser, darüber, wie klar sich etwas erkennen läßt,
selbst heute, selbst jetzt, während ich dasitze, rauche, über die
Sehnsucht wundere ich mich, über Februarwiesen und darüber, wie Farne im
Erdboden verschwinden, wundere mich über den eintönigen Himmel, der sich
in einer Pfütze spiegelt, groß wie ein See, sitze ganz still, noch
immer, rauche, spüre atemlos die Berührung der Hand eines Geliebten,
noch immer Morgen, schlampig, ungewaschen, während schon Dämmerung in
die Hauswände sickert, in die Trägheit des Hirns, die nachlässigen
Stunden. Ich prüfe mein Gesicht im Spiegel, ich wundere mich nicht; sitze
still, die Finger suchen, was sie zählen könnten und finden nichts.
Wie Farne vergehen, spurlos, Farne, größer als ich,
zehnjährig, eine Waldlichtung, zwischen den Farnen hindurch mit dem
Steckenpferd, und im Frühjahr ihr Grün, enge Spiralen, angespannt. Davor
der Februar, die Bäume kahl, geschunden, schlammig die Wiesen, jahrelang,
während ich hier sitze, lachend, traurig, noch immer Morgen, bis in den
Abend hinein, bis in die Nacht, der warme Wind, wie Farbflecken die
Erinnerung, die Spiegelung des eintönigen Himmels in den Pfützen, bald.
2
Nachts
hängt im Treppenhaus eine Spinne, taumelt an ihrem Faden auf Höhe meines
Mundes, vorsichtig gehe ich vorbei, Fußabstreifer
vor den Türen vier Stockwerke lang, und durch die Fenster kalte Luft,
davor das zitternde Gestrüpp des Knöterichs, in der Hand die Schlüssel.
Ein Hund könnte jetzt bellen, das Licht angehen im Nachbarhaus, manchmal
höre ich laute Schritte von
der Straße, einen Schrei, laufe zum Fenster, lausche; dann klirrt
Schotter, Autotüren schlagen zu, oft ist es der Wind, der mich täuscht,
derselbe Wind, der im Juni den Geruch blühender Bäume bis in den Hof
bläst. An die Tage denke ich, an denen ich das Fenster offen stehen
lasse, an warme Nächte und daran, daß ich die Morgendämmerung abwarten
werde; lange ist es nicht mehr hin. Ein milder Winter, sagt mir der
Obstverkäufer freundlich und zeigt auf eine Kiste mit Äpfeln draußen in der Sonne.
Ein milder Winter, sage ich nachts, und die Bäume, die zu früh knospen,
müssen nicht Schaden nehmen in einem späten Kälteeinbruch, es soll
vorkommen, daß der Winter ausbleibt, eine unverdiente Freundlichkeit. In
der U-Bahn nebeneinander die Füße, die Schuhe, dicke Sohlen, Beine
übereinandergeschlagen, die Muster der Sohlen, gefederte Räume unterm
Fuß, leichte Schritte, daneben das plumpe Schuhwerk einer alten Frau,
unsicher unter dem schweren Leib und einem großen männlichen Gesicht.
Der Winter ist ein sicheres Versteck, denke ich, und daß die Traurigkeit
des Abschieds leichter ist als Wünsche, die ausbleiben, und ich
wünsche mir das große, männliche Gesicht der alten Frau, einen leichten
Körper dazu, flüchtige Schritte, während meine Hände müde sind und
zärtlich, als berührten sie einen Schläfer, der leise spricht in seinem Schlaf.
3
Über
den Hof fahren gespenstisch Kinderfahrräder, und hinter einer Mauer höre ich die Kinder lachen, so fern, als hätten sie aus
ihrem Tod den Rädern zu fahren befohlen. Im Keller stehen Umzugskisten, ein
Handschuh liegt daneben im Staub, achtlos Fußspuren darüber hinweg. Was,
wenn man alle Handschuhe zugeschickt bekäme, die man je verloren hat?
Im letzten Winter, als alles gefror, hat eine Nachbarin ihre
Zimmerpflanzen in den Hof gestellt. Jetzt zündet sie manchmal in der
Küche eine Kerze an, stellt sie ans Fenster, und ich frage mich, warum
die Flamme so unruhig flackert, obwohl das Fenster doch geschlossen ist. Den
ganzen Tag schon beobachte ich die Schatten im Zimmer, suche lange
nach einer Schere, als sollte ich Teile meines Lebens
ausschneiden, wie Papier zerschneiden die Tage das Gesicht, und es ist gut
zu wissen, daß das Herz ein Muskel ist, daß man geduldig zusehen kann,
wie die blauen Flecken auf den Armen, den Beinen blaß werden, die Narben
nicht zählen muß und nicht das Stolpern, die Stürze, daß letztlich nur
selten ein Unglück geschieht. Fast jede Nacht tut ein Freund kein Auge
zu, liegt wach mit offenen Augen, und das Warten ist die kürzeste Strecke
zwischen den äußersten Punkten, die sich langsam und unaufhörlich
auseinanderdriften im All.
4
Auch
als ich zum dritten Mal, zehn Uhr mittlerweile, aufwache, ist es nicht
heller geworden, nur eine Täuschung, denke ich, und daß ich nicht
eingeschlafen bin, nicht geträumt habe, als wäre in diesem Licht an
Schlaf nicht zu denken, und ich schleppe die Träume hinter mir her und
das Entsetzen, wie Pferde den Fluß herauf Kähne schleppen,
oder Schiffe andere Schiffe, und das Licht klammert sich an die
Schläfen, als wäre es längst verloschen in seiner Entfernung. Zu spät
an diesem Morgen, zu wenig, und mir fällt ein, daß eine Freundin Pappeln
aus ihrem Fenster sieht, Eisenbahngleise, seit einigen Tagen erst, und
daß Bücher, Sommerkleider noch in den Umzugskisten lagern. Morgen machen
wir dicht, sagt mir die rothaarige Inhaberin des Kaufladens, winkt ab, als
ich ihr die Äpfel zum Wiegen reiche. Kaum einer der Läden, die es gab,
als ich hierherzog, existiert noch, und ich frage mich, wem die alte Frau
mit den weißen Locken die Fotos ihrer Enkel zeigen wird. Manchmal sehe
ich sie auf der Straße, dick und mit dem zögernden Gang der Kurzsichtigen, so spricht sie Passanten an, den
Briefträger, einen
Bauarbeiter, Kinder auf dem Weg zum Spielen, und kaum einer bleibt stehen.
Daß sie achtzig Jahre alt ist, weiß ich, Omnibusfahrten, Einkaufsfahrten
unternimmt fast jede Woche, nichts kauft, daß ihr Hals faltenlos ist wie
der einer jungen Frau, und jedesmal beäugt sie meine Schuhe, als könnte
sie nicht glauben, daß ich von alleine so groß bin. Am Nachmittag
beginnt es zu schneien, und es schnürt mir das Herz zu; die blinden
Fensterscheiben der ausgebrannten Wohnung gegenüber starren in den Hof
wie die eigenen Augen in Träumen, die Namen, Versäumnisse zu grotesken
Geschichten verflechten, ein Steckenpferd, ein
blinder Korbflechter an einem anderen Ort, vor Jahren, und in die Lider
graben sich Zeichnungen ein, wortlos und deutlich,
der tote Nachtfalter mit den akkurat gefalteten Flügeln über der
Tür, der Staub auf den alten Plakaten
im Treppenhaus, der blinde Korbflechter. Den ganzen Tag über kein Tageslicht, denke ich abends, an Eisenbahngleise,
an Pappeln, und Landschaften außer Sichtweite schieben sich ineinander,
Erdplatten, langsamer noch als Kontinente, brechen sich wie Eisfelder,
Einöden an der Schädelseite, einzelne Gedanken werden vorbeigetragen,
Totemtiere, Mumien, sehr alte Gefäße, auch Steine, die nie preisgeben
werden, ob sie behauen sind
oder nicht.
5
Kälteeinbruch,
Passanten in sich zusammengezogen, Drahtgestelle, die
der Wind biegt; im Gesträuch eine Kohlmeise, aufgeplustert und rund wie
ein Spielzeug. Die Annahmen widerlegt, Kälteeinbruch, der
Winter wird hart, sagt die Besucherin, und daß sie jetzt geht; ich weiß nicht mehr, ob wir uns kennen und woher, doch auf
dem Tisch stehen zwei Tassen,
ein Schälchen Zucker, die Teekanne, und
vielleicht beginnt die Verwüstung mit einem
zersprungenen Glas, mit Schürfwunden, dem zerbrochenen Duschkopf oder
damit, daß man sich nicht erinnert an einen Liebhaber, an sein Gesicht
und nicht einmal mehr an die Stadt. Ostwind, zwischen fahrigen Wolken der
Mond, blaß noch, und in der Dämmerung klirrt das Licht, als wäre es mit
dem Wasser gefroren: Vielleicht schneidet die Luft entzwei, was
zusammengehört, und vielleicht bleibt in
dieser Kälte zitternd ein Satz in der Luft stecken, eine Art Zeppelin
oder einer von diesen Vögeln, die geduldig nach Beute ausspähen. Ich
öffne das Fenster, höre das Lärmen von Baumaschinen, die Holzdielen
beben, jetzt ist der Himmel klar, und gerne würde ich durch die Stadt
fahren im Taxi, Nachtbusse zuweilen oder ein anderes Taxi, einige Ampeln
schon ausgeschaltet, kaum ein Fußgänger, nur vor den Botschaften gehen
Wachmänner, Polizisten auf und ab, hinter einem Bauzaun schlägt ein Hund
an, bellt lange, bellt, und
vor einem Geldautomaten steht eine Frau im Neonlicht, zögert, richtet ihr
Haar, geht weiter. Es hat geschneit, und als ich aus dem Fenster schaue,
ist der Mond längst untergegangen, leuchten die Dächer, nur die
Schornsteine ausgespart, die Dachrinnen und dunklen Zwischenräume von
Haus zu Haus.
6
Ob
ein Jahr länger ist als ein Tag, frage ich mich, schaue auf die
Einschußlöcher in der Hauswand schräg gegenüber, ein Stück Mauer
herausgebrochen, der Putz abgefallen, und vor zwei Jahren lag, während
wir telefonierten, auf den Ziegelsteinen täuschend das Sonnenlicht;
früher Nachmittag war es und kalt, aber die schmalen, länglichen Ziegel
leuchteten rot und braun, als wäre es später, später im Jahr und
später am Tag, ein Sommerabend, bliebe noch lange hell, ich würde das
Fenster gleich öffnen und die Luft wäre warm. Später seilte sich ein
Mann vom Dach ab, hing dann an meiner Hauswand und schlug mit einem Hammer
den losen Putz herunter, ich erschrak, als er plötzlich vor meinem
Fenster auftauchte, damit kein Unglück geschieht, erklärte er mir
beruhigend durchs Fenster und verschwand. Danach lagen drei Ziegel im
Treppenhaus, in der Wand klaffte ein Loch, groß wie ein Kopf, und es war
still, als gingen alle auf Zehenspitzen und stumm ein und aus. Oft
überlege ich auszuziehen, habe den Dreck satt, die Toilette auf halbem
Stockwerk, die Brandmauer gegenüber, habe genug von der maroden Wand im
Zimmer und von der Sorge, die Leitungen könnten einfrieren. Aber
letztlich kommt das gar nicht in Frage, im vergangenen Sommer ist,
während ich fort war, der Knöterich ins Zimmer gewachsen, ein dünner
Trieb, durchs alte Doppelfenster hindurch, eine Woche darauf waren es
schon vier Blätter oder auch fünf, genau erinnere ich mich nicht, denn
dann knickte der Zweig doch
ab, der Winkel war vermutlich zu spitz, der Druck der Fenster zu
groß, nicht genug Wasser letztendlich, und inzwischen sind die Fenster
repariert, jetzt kann der Winter kommen, sagte der Schreiner, bevor er
ging. Ich glaube, es war das letzte Mal, daß wir telefonierten, oder doch
jedenfalls ein Abschied, ich
sagte, wie sehr das Licht täusche und daß es nachts wieder Frost geben
werde; beide waren wir traurig, aber es ist schwer zu wissen, was
zulässig ist, und dann ist die Müdigkeit leichter, und
der Abschied ist letztendlich immer leicht. Wenn ein Jahr länger wäre
als ein Tag oder einige Tage, dann wären sie nichts, mit einem Tag
könnte man nicht ein ganzes Leben ausschlagen, es wäre ganz sinnlos,
jeden Tag zuzuschauen, wie es dämmert, und längst wäre ein Satz
vergessen, der den Abschied verschwieg und diesen Kummer, der
viele Tage später die Erinnerung an eine Hauswand ist und
an die Täuschung des Lichts.
7
Seltsame
Geräusche in der Wand am Kopfende des Bettes, Glaskugeln klingen so oder
hohle Knochen; unter dem Haus müssen Keller sein, unter dem ersten Keller
ein weiteres Gewölbe, wer weiß, was sich in den Mauern verbirgt,
zuweilen hört man beklommene Schritte, kann nicht sicher sein, ob sie
wieder herausfinden aus dem Keller und was dann sein wird. Auf der Straße
hält einer mich an, sagt, daß jeden Moment etwas anderes zerbirst, die
Satelliten aus Glas, die Raumschiffe, das Weltall schon voller
Glassplitter, es ist ein Betrug, sagt er, die Milchstraße ist längst
zerstört; und er versucht, die Augen mit den Händen zu schützen. Daß
er sich irren könnte, räumt er im Gehen ein, und zweifellos sei der Mond
ein Gestirn und nichts weiter; wiederholt es zweimal, aber seine Hände sind
unruhig dabei. Manchmal sind es auch Rufe; ich weiß nicht, wo einer ruft,
vielleicht gibt es ein Wasserrohr, vielleicht fangen sich Stimmen im
Rohr, der da spricht ist weit weg oder längst nicht mehr da, hat gestern
etwas gesagt, und
manchmal schrecke ich hoch, nehme schließlich ein Buch, lese laut daraus
vor, man kann ja nicht wissen, wer dort ist, bemühe mich, langsam und
deutlich zu lesen, wie man Kindern vorliest, wenn sie nicht einschlafen
wollen. Ein paar Tote kenne ich, aber die Lebenden sind in der Überzahl.
Immerhin scheint die Erde zu schlingern, verwischt die Unterschiede
zu Gunsten der Toten, und nachts bleibe ich zuweilen wach, als würde ich
sonst mein Gesicht vor ihnen
verlieren. Gesichter werden
einander ähnlich, wie man von alten Eheleuten behauptet, daß
sie am Ende einander ähneln, genauso die Lebenden und die Toten, unter
den Lebenden diejenigen, die man erst gestern oder vor einer Woche gesehen
hat, und andere, die verreist sind; diejenigen Toten, die es seit
langem sind, und die anderen,
und sowieso ist Leben im Überfluß vorhanden, wenn auch die Luft knapp wird, Bewegung von Fischkörpern, die
emporschnellen, nach Luft schnappen, ein großes Netz ausgeleert, ihre
verzweifelten Bewegungen im Kopf zwischen anderen Bildern, und daß auch
hier die Grenzen verwischen und die Augen weiterhin, weiterhin gut
funktionieren, Registraturbeamte in einem kleinen Büro, alles hat seine
gute Ordnung, die Daten notiert, eine Kopie angefertigt, und sollte ein
Brand auftreten, ein Wasserrohrbruch, so läßt sich der Schaden
begrenzen, ein paar Tage geschlossen, Aufräumarbeiten, und auch ein
Gesicht ist manchmal verwüstet. Morgens etwa oder spät nachts ist nicht
auszuschließen, daß die Erde doch eine Scheibe sei und die Schwerkraft
eine Erfindung, daß sie uns wegschleudert, voller Ekel,
ich behalte den Globus im Auge, und die Verwüstung läßt sich
verschweigen, sowieso war es Zeit, Inventur zu machen, die Aktenordner neu
zu beschriften, und Suchscheinwerfer, Nachtsichtgeräte, Fernsprechanlagen
anzuschaffen zur besseren Überwachung, jetzt werden auch Ratten auf Minen
angesetzt, und am Ende kann man den Augen allein nicht trauen, spät
nachts sind die Augen verwüstet und leer, die Furcht treibt langsam
vorbei, und auf dem Globus balancieren die Tage wie dressierte Bären auf
einer Kugel, täppisch, gelangweilt, bis ich den Globus ausschalte und es dunkel wird im Zimmer.
8
Der
Wind stürmisch, es regnet, solch
ein Wetter eben, ganz passend für diesen Monat, noch kein Vogel zu
hören, und ich stelle mir vor, daß einer auftritt, ein Ausrufer, Clown
oder Herold, die Namen von Vögeln, die man hier niemals sieht, mit
lauter Stimme in den Höfen ausruft, Goldammer, Rotkehlchen, Dompfaff,
Wiedehopf vielleicht hat er das Paradiesgärtlein vor Augen, auf der Mauer
sitzen die Vögel und auch in
den Bäumen hinter der Mauer, man kann sie genau erkennen, die
Tage dagegen verschwimmen manchmal an solchen Tagen, zersetzen sich wie Holz, wie welke Pflanzen oder eine Matratze
im Regen, haben keinen Aufenthalt in der Zeit, ein beinahe sanftes Mißlingen über einige Stunden hinweg,
zwischen den Dämmerungen, den
Dunkelheiten, zwischen den Abenden, sagt man im Hebräischen, und es
regnet jetzt unablässig, vor den Mülltonnen durchweicht Zeitungspapier, dicker Karton, Nieselregen, unentschlossen klappen Leute den
Regenschirm zu, spannen ihn
wieder auf, solch ein Regen wird sehr lange dauern, und es ist gut, daß
einer ruft, ein Ausrufer, Clown oder Herold, die Vogelnamen klingen schön
in seinem Mund, er zieht durch die Höfe, in
der Stadt bleiben vom Schnee Steinchen zurück, Steinchen knirschen unter
seinen Tritten, nach drei
Straßen hat er es satt, ist auch müde, kauft sich zu essen und sucht
Schutz vorm Wind, der Regen immerhin hat nachgelassen, wird wohl auch
heller, er lehnt in einem
Hauseingang, wartet, kaut.
9
Ein
Strauß Tulpen auf meinem Tisch, seit mehr als einer Woche, rote, weiße, und
anders als Tulpen sonst schließen diese wieder ihre Blütenköpfe, die
weißen müde, gelblich, sehr sanft, die
roten Tulpen begnügen sich nicht mit einer Farbe, verblassen an den
Rändern, verlieren ihr Leuchten, tauschen es gegen mattes Purpur, eine
Frage des Stolzes, vermischen es schließlich mit Schwarz, als trügen sie
sich selbst zu Grabe, in Abgeschiedenheit, begleiteten den eignen Tod. Geschenk
eines Freundes, mittags brachte sie ein Bote, musterte mich erstaunt, da
er mich im Nachthemd antraf, ich war verlegen, wenn
du sie im Wasser abschneidest, erklärte mir der Freund, und
später begreife ich, daß er die Hand hebt, und
weiß nicht, gegen wen, und schlägt nicht zu, ein steter Kampf, ein
undurchdringliches Geflecht aus Sanftmut und Verzweiflung, und in der
Stadt tritt plötzlich Ruhe ein, als sagte einer, es ist Nacht, das Licht
der Züge lautlos, nachsichtig, als wäre Reisen leicht wie eine Hand, die
in der Luft kreist, während die andere still daliegt. Unbekannt die
Anzahl der Gesetze und wie sie uns bestimmen die Entfernung zwischen zwei
Menschen, und darum vielleicht reisen wir, weil dann die Abstände für
überbrückbar gelten, der Mensch ein fester Körper, der unbeschadet von
einem Ort zum nächsten gelangt. Ebenso die Boten, die
Briefe, Blumen transportieren, ganz ohne Zweifel, Nachrichten; besonders die Fahrradboten sehr kühn und furchtlos, in ihren
knappen Kleidern und mit den
Helmen fast wie Ritter, die dünnen Körper angespannt wie starke Federn,
Springteufel etwa oder anderes Spielzeug, das sich hüpfend fortbewegt,
besonders schnell in den leeren Straßen, vorbei an neuen Verglasungen,
dahinter nichts, auch der Asphalt noch glatt und ohne Widerstand,
flüchtige Figuren, die aufmerksam ihren Funkgeräten lauschen, davon
sind.
10
Der
Kopf wie ein geschlossenes Behältnis, vielleicht aus Leichtmetall, die
Abmessungen müßte man berechnen, denn die Gewohnheiten des Stillstands
sind seltsam, die plötzlichen Bewegungen, wie kleine Portionen Gift vor
Zeiten, in einem Kreuzgang ausgetauscht, nicht weit von Grabplatten, die,
gegen eine Wand gelehnt, ein Unterschlupf für Kellerasseln sind,
abgeschlossene Räume, die Schritte zählbar, doch sind sie das am Ende
immer, nichts anderes als Reisen, große Container, Umzüge um den halben
Erdball, sorgfältig verpackte Gläser, die nicht zerbrechen bis zur
Ankunft, und Eisenspäne richten sich nach Magneten aus. Daß Kakerlaken
da, wo Ecken sind, schneller rennen als alle anderen Geschöpfe, hat man
gefunden, Küchenschaben, denke ich bei mir, die kleinen, denn die
geflügelten werden wohl schwerfälliger sein mit ihren großen Körpern.
Es regnet nun schon seit dem Morgen; ein Tag, sich alles aus dem Kopf zu
schlagen, sehr rasch, bevor die Wünsche alten Tieren ähneln, die
behutsam ihre Flügel tragen und lange vor uns existierten, uns ähnlich
in dieser oder jener Hinsicht, so wie der Tod uns ähnelt und wir den
Toten, während wir erschrecken über unseren Anblick, ein Festzug, und
wenn alles lautlos bleibt, dann hört man Rascheln, Zirpen, selbst
Fratzenschneiden, ein Knistern wie von alterstrockener Haut, dazwischen
Schellen, Zimbeln, Triangeln, dünnes Kichern oder Zischeln, ein leiser
Aufruhr, spöttisch, trotzig, der durch die Zimmer zieht an solchen Tagen,
im Kopf das unablässig boshafte Palaver, und wie an Flaschenzügen unsere
unterschiedlichen Gesichter in einem steten Auf und Ab. Es ist schon
spät, als ich zurückkehre, von irgendwo dröhnt Tanzmusik, wie Ungetüme
hausen die monotonen Schläge in den Wänden, ich frage mich, ob dieser
Tag vorbei ist, woher die Masken kommen, die an den Türpfosten
vorüberhuschen, woher das
vielfältige Gewimmel, warum im Rauch verzerrte Münder, die Stimmen dringlich, warum sie mir gefolgt sind, durchwachte
Nächte, Alkohol, die Küsse und Umarmungen, das grelle Licht über den
Spiegeln, danach ein fremder Anblick und tagelang Gerüche, bis man die
Laken wechselt, Münzen für eine andere Geschichte oder die Zungen
derjenigen Toten, die das Fährgeld ausspucken. Sehr kläglich der Kopf,
wie ein geschlossenes Behältnis, aus Leichtmetall vielleicht und silbrig
glänzend, ein Irrlicht, Wachposten an einer weit entfernten Grenze,
traurige Spukgestalt unter vielen anderen, ein plumper Riese, lauthals
lachend, ein müdes, uraltes Insekt, das seine abgedienten Flügel wie
einen Schutzschild vor sich hält.
11
Das
Licht sehr leicht, schon Abend und noch immer hell hinter den Wolken, die
sich rötlich färben, als wäre es bald Sommer, ich stehe an der Heizung,
schaue hinaus, fürchte, daß ich es vergessen habe, Sommerabende,
vielleicht verlernt, ein
schleichender Wechsel, oder auch unachtsam, wie man am Ende Landschaften vergißt,
die Linie eines Hügels, Krümmung der Straße dort, wo sie vor zwanzig
Jahren die Apfelbäume abgehauen haben, links eine Senke bis zum Wald,
meist Gerste angepflanzt, später Mais, eine Stunde Wegs, mit vielen hier
entlang, ein dicklicher, gebeugter Rücken vor mir, nur flüchtig das
Gesicht, aber die Stimme deutlich, längst ein alter Mann, zurückgekommen,
rechtzeitig geflohen, klettert geduldig mit mir auf jeden Hochstand,
später dann tot, auch andere, und andere, die ich nicht mehr kenne, kaum
die Namen, und wieder andere noch vertraut, vertrauter als die Landschaft,
Jahre, die Schädelwände innen, Kratzer, grobe Linien und Kritzel
eingeätzt, fast todesmutig, komisch, dazwischen erste Kätzchen, die
Blätter an den Bäumen noch eingerollt, beinahe gelb und so zart, daß
man um sie fürchtet, dazwischen Waldboden, grau vom Winter, und durch die
trocknen Nadeln Gras, später auch Sommer, Sommerabende, Gewitter, es
wäre nichts dagegen, zu ersticken, an einem Kirschkern oder einer Nuß,
ganz lächerlich und überflüssig, vielleicht auch Mückentanz und morgen
schönes Wetter, nackte Körper, die sich aneinanderschmiegen, schlafend,
bis sie erwachen, so ruhig und heiter, als hätte jedes endlich seinen
Platz gefunden. Kein Einwand, denke ich, kein Einwand, und immer weniger,
bei zunehmendem Zorn, der rasch ermüdet, und Atem pfeift am Ende warnend,
verbunden wollen Hände eines
Freundes nach den Schläuchen tasten, um die Infusionen wegzureißen,
verbunden Hände, Arme, blindes Getier, das hilflos, zäh ins
Leere beißt, der Tod selbst beiläufig dagegen, man teilt gerade Essen
aus, ein dünner weißer Stoff vors Bett gespannt, dahinter Teller,
Löffelklappern, und aus dem Fenster karge Berge, dahinter, unsichtbar,
das Tote Meer, dahinter Moabs blaue Berge. Daß der Verlust kein Ende
nimmt, ein schäbiges Gepäckstück, wird am Ende auseinanderfallen,
verliert schon unterwegs zuweilen Bilder, Stimmen, noch immer Abend,
eine allmähliche Bewegung und geduldig, im Osten jetzt der Mond, als
gälte es, auf Ausgewogenheit zu achten, gerade noch ein Tag, ein
freundliches Gefährt, sehr langsam und ein wenig spöttisch und läßt
sich nicht beirren und ist davon.
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