Baden-Baden  

Während einer unschlüssigen Phase nach dem Abiturium litt ich pünktlich an literarischen Entzündungen, die ich abends immer mit Bier kühlte. Am folgenden Tag stand ich spät auf und paukte mit Eifer, bis zur nächsten Abkühlung, einen, von hier aus betrachtet, doch ziemlich vermatschten und in Nebensachen zerzausten Gemütskleister in eine Schreibmaschine, die 'Gabriele' hieß: Alles streckenweise von kühner Bauart und humaner Bedachtsamkeit, im Effekt aber ein Imponierklumpen, ein umgehexter Brinkmann mit Rosei-Schmuck und erfundenen Personennamen und dazwischengeklebten Zeitungsausschnitten. Frauen, die besser Beate Spitzvogel geheißen hätten, die nannte ich Ingeborg Baumann und ließ sie unfaßbare Sachen zu mir sagen, z.B.: "Kapielski! Dein betontes Interesse an Hinterteilen und Fetischfrauen verbirgt nichts als ein homosexuelles Begehren und die Angst vor der Penislosigkeit der Frau!" Na Prost! Darunter verleimte ich dann, damit's allen einleuchtete, eine ausgeschnittene Arschbacke mit Gurken, die ich selbst geknipst hatte.  Das Buch sollte hervorstechen, dick sein und "Sex mit Möbelstücke" heißen: Eine in die Läufigkeit meines Lebens verfummelte Angelegenheit, mit viel angelesenem Unfug garniert, im Grunde aber gutartig und förderträchtig, um nicht zu sagen: begabt! Es ist klar, daß man sich für was Besonderes hält, wenn man groß herauskommt, obwohl man schlecht ist. Aber man hält sich auch für was Besonderes, wenn man nicht groß herauskommt, obwohl man Klasse hat!  
Ich kopierte ein paar meiner Ansicht nach besonders starke Stellen und schickte sie ohne Rückporto mit wichtiger Nachricht an alle bedeutenden Verlagshäuser: "Sehr geehrter Herr Unseld! Dies sind Ausschnitte aus "Sex mit Möbelstücke". Das Manuskript wiegt 312 Seiten, enthält neben Orginalfotos orginal Montagen und ist heute um 15:30 Uhr an die wichtigsten deutschen Verlage verschickt worden. Im Falle anständiger Vergütungsofferten werden Erstantworten mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtet. Kürzungen kann ich keinesfalls hinnehmen. Bis denne! Euer Dichter" Zu meinem Erstaunen reagierte keiner!  
Damals dachte ich: Das gefällt keinem. Die Alten verstehen dich nicht! Heute vermute ich: Obwohl sie inzwischen jünger sind als ich, verstehn sie mich immer noch nicht, aber ich begreife, daß sie diese Einsendungen gar nicht lesen können. Sie stopfen sie in den Manuskriptmüllshredder, damit sie Ruhe für die Zeitung haben, woraus sie erfahren, was los ist in der Welt, auch des Buches. Und sie telefonieren den ganzen Tag, weil sie froh sind, wenn ihnen jemand fernmündlich steckt: Hier, druckt das mal, das ist gut! Da können sie gleich wieder rüber zum Italiener, Zeitungen lesen oder saufen.  Hätte das Fatum damals telefonisch auch an mir protegierend gewirkt, dann bräuchte ich mich heute, mit fast fünfzig, nicht als debütierende Hochstirn auf verderbende Weise unter die klagenfurter Jugend mischen und von Jury-Fuzzis durchleuchten lassen, die meine Nachkommen sein könnten!  
Dennoch bin in ich froh, daß es nichts wurde. Man wußte damals nicht, daß man, zum Vorteil aller, noch langwierige Reifeprozesse würde durchstehn müssen. Ich war dann auch nicht weiter beleidigt sondern kaufte Pinsel und malte wieder mehr. Dann aber kam - sehr verzögert - o ha! - doch noch Handschriftliches auf Rautenformblatt von 'Merve'. Ich las deren Ausgaben kultisch damals. Man deutete in hehren Zirkeln wie besessen an den kryptischen Rhomben dieses schlauen Verlages herum, und ich hatte es deshalb für comme il faut gehalten, auch ihnen den Brocken zu schicken, ohne in diesem Falle ans Ködern zu denken. Das war mehr Verehrung; da kamen mir meine Faszikel denn doch zu bunt für vor. Dennoch schrieben sie mir: "Lieber Kapielski! Drucken wollen wir das Möbelstück nicht. Aber wir machen mit Kippenberger eine Zeitschrift 'Schlau sein - dabei sein!' und könnten uns vorstellen, daß Du dabei bist..."  
Aha! Dachte ich, die Künste rufen! Die Neuanschaffung eines Pinsels war instinktsicher gewesen und die Kunst meine wahre Berufung! Mein Leben wechselte sein Flußbett! Ich wurde über Nacht ein hoch bemühter Künstler und fast plemplem. Denn der kippenbergersche Drang und Arbeitssturm riß uns alle beinahe in den Drallkasten. Der Mann schlief nie und trieb uns in taglange Umnachtung! Mit aufgerissenen Augen klebte ich fürs Kippenbergersche Kunstblatt einen illustrierten Aufsatz, der dann aber komischer Weise nicht im Kunstbetrieb, sondern in naturwissenschaftlichen Kreisen für Furore sorgte, weil er eine Variante der Navier-Stokes-Gleichung enthielt, die stimmte, obwohl ich davon nicht viel Ahnung hatte. Nach diesem Überraschungserfolg sah ich mir all die Kippenbergers und Baselitze schon mal gefestigter an und dachte: Sowat könnten wa eigentlich och! Ich ließ mir einen Stempel machen: "Ditt könn wa och!" Diesen stärkend wirkenden Größenwahn haute man dann immer zum Verdruß der Rivalen in diese Vernissagenkladden rein. Und dann konnte man es auch! Man merkte, in dieser Branche läßt sich zwar auch viel Effekt in Affekt und Affekt in Effekt umzaubern, und es bedarf, um vorzurücken, immer auch einer gelungenen Ausdeutung und glücklichen Förderung durch gewisse Zelebritäten, aber in der Kunst sahen die sich den Blödsinn, und zwar den unfaßbarsten, im Wahne ihres ewigen Trendverpassens immer doch erst wohlwollend an, bevor sie die Daumen kippten.  
Nun ist es müheloser, ein Bild denn ein Buch zu beurteilen. Bei der Bildbesprechung kann nicht viel schiefgehen: Eine verwegen hermeneutische Tüchtigkeit vergoldet jedwedes monochrome Rätsel. Bei Büchern klappt das nicht so; Bücher quatschen zuviel; der Blödsinn ist schriftlich. Kunst aber stellt sich doof und profitiert so von der Gutwilligkeit des Spekulanten. Und so setzt gute Kunst sich durch, weil man gut nennt, was sich durchsetzt. Und das lief dann auch beim Künstler Kapielski recht gut; man rangierte alsbald wie Meppen oder Unterhaching im oberen Teil einer zwoten Liga, ömmelte auch ab und zu als Aufsteiger noch weiter oben rum, aber dann verstärkten sich mir zwei böse Wirklichkeiten: einmal war mir der Betrieb immer transparenter, also idiotenhafter geworden, andererseits ging mir langsam die gute Einfallspuste aus: Der Pinselschwung hatte nicht mehr die Kraft des begeisterten Idioten von neulich. Dazu kam auch noch, daß mein Galerist Petersen, ein großer Kunstkenner, in händlerischen Belangen sehr uninteressiert blieb. 
In diese Verdrossenheit jodelte mein Fernsprecher. Kiepenheuer & Witsch planten einen postmodernen Kunstreiseführer durchs alte West-Berlin, und es hatte denen jemand am Telefon von Kapielski erzählt: Der schreibt ganz keck und kennt die Kunst, und nun riefen sie an, baten um ein Stück zur Lage der Performancekünste im subventionierten Irrenhaus der westlichen Welt. Also gut, man konnte wieder nicht richtig jein sagen und so erzählte ich vom Freunde Norbert, dem großen Performer. Dabei war Norbert gar kein Künstler, Norbert war arbeitsloser Möbelpolsterer, aber er war auf naturwüchsig verschlagene Art jederzeit auch ein Wiener Alltagsaktionist und Situationsakrobat.  Ich hatte mich mit ihm mal aus Gründen eines dringenden Durstes in irgendein vornehm blödes Restaurant verirrt. Wir standen im gleißenden Licht schicker Lampen, welche haushohe Langusten und ein hocherotisches Dienstpersonal bestrahlten, das uns ignorierte, weil sie bemerkten, Vorsicht!, die zwo neuen Herrschaften, die sind wohl ein bißchen angebraten. Wir blickten uns ratlos einäugig um. Da erfaßte Norbert die Lage und brüllte plötzlich: "Frollein! Können Se mir mal einen Blasen?" Und als sich der ganze Saal verschreckt umschaute, nach genialer Pause: "- - Und Nierentee bringen?!" Sie hatten keinen, also durften wir gehen, und der Witz wurde geklaut. Nun hatten wir Freund Norbert mal anläßlich einer Veranstaltungsreihe 'Neue Aktionskunst Berlin', wo sie gewöhnlich irgendwelche in Plastikfolie verpackten Peinlichkeiten zelebrierten, solange bearbeitet, bis er einwilligte, eine offizielle Nudel-mit-Tomatensoße-Aktion aufzuführen, wo er beim Essen dann eine Rede hielt, wieso es nämlich habe sein sollen, daß er in der Küche, vorhin beim Kochen, in die Tomatensoße habe wixen müssen. Bumm! Alle saßen sie in Kunststarre da und glotzten 'al dente' den Norbert an; ein paar kotzten und ein paar freuten sich! Ich erzählte davon unter dem Titel 'Kotzen-Nutzen-Rechnung' und sie druckten das.  Daraufhin bekam ich eine Anzeige. Aber nicht wegen Norberts Maggispritzer, sondern wegen Wielands Sensibilität. In einer Nebengeschichte war ich über den Kunstbetrieb der Stadt hergezogen und hatte von Wieland berichtet. Er war damals in Berlin ein institutioneller Kunstoberst und man hörte Unglaubliches von ihm. In der Presse nur Gutes, aber man kannte einige seiner künstlerischen Hilfskräfte und hörte von dort unerhört Halblautes mit dem Zusatz: "Kapielski! Erzähl bloß nich, von wem du das hast!" Also dachte ich: Warum sachlich bleiben, wenn man auch persönlich werden kann?! Und berichtete, wie er Weihnachten beim Büro-Julklapp, wo er als Boß die Geschenke verteilen durfte, noch nicht mal die Namen seiner langjährigen Dienerschaft wußte! Und daß er bei Kalten Buffets, die er gelegentlich über seinen Kunstverein hat veranstalten müssen, daß er da immer bei seinem Kohlenhändler eine Schubkarre ausborgt haben soll, womit er im Vorfeld die Hälfte des Gratisfresserchens in sein Haus schaffte.  Die Sache schien so daneben zu liegen, daß er mir den Staranwalt Raue hinterherhetzte, bei dem ich dann Abbitte leisten mußte, was auch wieder etwas schief ging, weil ich aus Versehen seinen Namen ständig falsch schrieb. Da Feigheit bei mir den solidesten Teil meiner Tapferkeit ausmacht, dementierte ich den Quatsch sofort, gab aber eine Famosschrift zum Vorfall 'Deutschland gegen Kapielski' heraus, die ich 'GSP' nannte, was eine Abkürzung für 'Große Scheiße passiert!' war, und die wie ein Ferkelheft die große Runde durch alle berliner Kunstamtsschubladen machte.  Verbotenes und Privates lesen die Beamten und Angestellten nämlich in der offenen Schreibtischschublade; da liegen Montag die 'Spiegel' drin und wenn jemand reinkommt, stehen sie schnell auf und schieben mit dem Schambein die Schublade mit dem 'Playboy', der 'Brigitte' oder der Kapielskischen Schmähschrift zu und rufen kühn: "Hallöchen! Womit kann ich dienen?"  Das war literarische Wirksamkeit! Und ohne stilistischen Firlefanz. Die Angelegenheit mit Wielands geklauten Käseigeln wurde schnörkellos berichtet, die Leser hatten es mit Leben, Hüttenkriegen und gestörtem Palastfrieden zu tun und ich war, ohne es zu bemerken, wieder Schriftsteller geworden und schrieb irgendwie schöner als früher.  Und schrieb mit Feuer auch sofort noch drei im Untergrund dann sehr beliebte Bücher, die von Leuten herausgegeben wurden, die einen Knall haben mußten, da sie Geld in kleine Verlage steckten, an Gerechtigkeit glaubten und ihren Autor mit Anwälten umstellten, die sich an unseren regelmäßigen Niederlagen mästeten, während wir uns langsam auf die Krücken soffen! Da beschloß ich friedlich zu werden und machte ein Gelübde! Ich las in Fortsetzung meines Lebenskunststudiums zwei Jahre Theologie und schrieb nebenher Gottesbeweise. Sie erschienen dann, als Treppenwitz der Literaturgeschichte, recht umwegig wieder beim Merve Verlag, und ich wurde berühmt und sie wurden reich.  "Das machen wir!" hatte der Merve Verlag einfach gesagt: "Aber nur in zwei Bänden!" Das fand ich gut: Zwei Bände! Kierkegaard, Die heilige Schrift, Schleiermachers Glaubenslehre, der Untergang des Abendlandes, die Goeth'schen Doppel-Fäuste - alles zwei Bände. Und nun auch Kapielski mit einer Links-Rechts-Kombination! Die Sache schien abgemacht. Dann aber war ich aus Gründen der auflohenden Ruhmsucht doch noch umständlich geworden. Denn auch Kiepenheuer hatte wieder angerufen, weil wiederum sie einer angerufen hatte! Also waren die plötzlich auch wieder interessiert! Du Liebesbißchen! Ein großer Verlag! Da sieht man sich plötzlich schon auf ganzseitigen Anzeigen in der 'Zeit' neben Böll ein weises Backpfeifengesicht und sechsstellige Auflage machen. Ich sprach salbungsvoll aber offen zu Merves: "Ich warte jetzt noch auf die Antwort von diesem Kiepenheuer und dann werde ich mich entscheiden!" Gut. Also ich habe die Gottesbeweise zum Kiepenheuer geschickt - diesmal mit Rückporto, so als Kontenancegeste eines Abgebrühten - und es kam aber wieder nichts. Wie früher! Ich also einmal etwas angetütert dort angerufen: "Sagen Se mal, wat is denn nu?" - Eine durchaus freundliche Dame figurierte als telefonischer Abfangjäger: "Tut mir leid, Herr Kapielski, haben Sie Geduld mit ihrem Roman." Ich blaffte erschrocken damang: "Moment mal! Roman? Nicht, daß wir uns hier falsch verstehn: Das is kein Roman! Mit sowas will ich nicht in Zusammenhang gebracht werden. Mein Ruf geht flöten! Ich bin doch kein Dichter, der Urlaub auf lau in Sulzbach macht und in Worpswede rumhockt und die Bachmann anbaggert!" - "Ach?!", sagte eine nett verblüffte Stimme.  Pause. Wir wußten nicht mehr, was wir noch sagen sollten. Dann war die Dame aber doch neugierig: "Es ist kein Roman, aber was ist es dann?" Und icke nun wieder grob: "Das weiß ich doch nicht!" (Technische Universität. Prüfer: "Was ist Elektrizität?" Prüfling: "Herr Professor, ich wußte es, aber ich hab es vergessen." Prüfer: "Sehr bedauerlich. Nur zwei Personen haben je gewußt, was Elektrizität ist, der Urheber der Natur und Sie. Jetzt hat es einer von Ihnen vergessen.") Hinter mir hatte während dieses eigenartigen Ferngeredes mein Weib gestanden: "Bist Du blöd? Rufst da besoffen an und machst so einen ekligen Wichtigtuer! Wer bist Du denn? Und Höflichkeit ist doch das Mindeste!" Sie hatte recht, aber ich erklärte ihr, daß sich gezielte Unhöflichkeit mitunter als präzises Hilfsinstrument bei Entscheidungsschwächen bewährt. Und: "Ick geh jetzt zu Merve, soviel steht fest!" Der gutgemeinte Ehrgeiz unserer lieben Künstlerfrauen ließ sie, kurz bevor sie abtrat, dann noch hintanfügen: "Ja, du Eierkopp, und ick kann dann wieder drei Jahre dein verkanntes aber immerdurstiges Genie durchfüttern!" Das saß! Aber ich dachte in anderen Dimensionen: Erstens hätte sie nicht "durchfüttern" sondern "durchsäugen" oder "durchtränken" sagen müssen. Zweitens: Die beiden Merves waren famose Leute, die kannte ich gut, sie trieben ein zärtliches Lektorat und redeten nur im guten Sinne rein. Der Verlag hatte Klasse! Es gab die klare Raute und keinen dieser heut unvermeidlichen Designdeckel, für die man sich bis in alle verramschte Ewigkeit würde schämen müssen. Und dann wollte ich vor allem nicht so umstandslos in diese Belletrickkiste sortiert werden. Das sollte eine Fortsetzung meiner komischen Kunst mit erzählerischen Mitteln bleiben und so auch den Sortierbetrieb foppen. Und das galt auch für Merve, denn es würde mit Kapielski nun endlich auch einmal Merve für Doofe geben!  Aber ach, man war den Kunstbetrieb geflohen und geriet nun in den Schlick des nächsten Idiotenbetriebs. Bei einem Abend der 'Corona bavarorum berolini' im Prenzlauer Bergprater, mit Biermusik, Brezeln und Schunkeln, brüllte mir ausgerechnet Blixa Bargeld über drei Tische ein rätselhaft freudenreiches "Kapielski! Du bist auf der Südwestfunk-Bestenliste!" entgegen. - "Was?", wunderte ich mich, woher wußte er sowas? Und jetzt schon, nach paar Wochen, im Südwesten auf der Bestsellerliste!? Mann, war ick doof! Ich kannte diese Dinge gar nicht, als Mann der Sachbücher. Von diesen belletristischen Usancen wußte ich nicht viel. Das waren Zeitungsseiten, die man entlastet nach links schaufelte. Anstatt vor aktuellen Tausendseitlern aus Süd- oder Nordamerika zu achtundsiebzig Mark, saß ich lieber vor Frischbieren aus Franken, das Stück zu Dreiachtzig und las B.Z. Ich bin einer, der noch bis neulich Cees Noteboom: "Cheese Note-bumm" ausgesprochen hätte! Und nun sollte ich als Romancier nach Baden-Baden kommen, wo sie ihre Besten monatlich im Fernsehn vorführen. Es war unglaublich! Als Neuling unter großen Toten, kniff man sich entgeistert in den Oberarm: denn ich rangierte auf dieser Liste irgendwo zwischen Fontane und Max Frisch! Da konnte etwas nicht stimmen! Ich war unsicher, ob ich da hin paßte. Da ich nun aber bis dato in Büchern alles erzählt hatte, was in meinem Leben passiert war, dachte ich: Gut, biste jetzt Romancier, fährste hin. Kommste mal wieder raus aus der Kneipe, erlebst du mal wieder was! Dieser Schönschreibbetrieb wird erzählerisch nicht unergiebiger sein als das wundersame Kunstwesen. Haste was zu erzählen, überholste langsam erzählerisch die zu erzählenden Ereignisse mit dem Flugzeug.  Man wurde nämlich auf Fernsehkosten ins Flugzeug verladen. Dann wurde man in Baden-Baden vor einer brutalen Geranienanmache namens 'Badhotel Zum Hirsch' ausgeladen, wo auch schon wieder neue Anweisungen vorlagen, wie und wann man abends zum Begrüßungs- und Bekanntschaftsfresserchen mit den Fernsehfritzen in eine dieser badenser Spätzlewirtschaften verfrachtet werden würde.  Es blieb Zeit, um sich nach den Reisestrapazen zu erfrischen. Ich sah mich um in der Suite. Sie hatten sich nicht lumpen lassen! Eine nobel parfümierte Absteige. Ich inspizierte die Minibar und beschloß, daraus einen Teil meiner ehrlichen Fernseh- und Rundfunkabgaben wieder in meinen Besitz zu überführen! Aufs erste in Gestalt eines Bocksbeutelchens. Dann knipste man wie üblich die Kiste an und entweihte mit einer Arschbombe die Kissen.  Im Bad - welches in etwa so groß war, wie die Wohnung, in der ich mal sechs Jahre zu zweit gewohnt und die drei Bücher für Kleinverlage geschrieben hatte - dröhnte einem die Sanitärpracht eines unter Waschzwang jauchzenden Jagdschlosses entgegen, wo reihum schlohweiße, mit röhrenden Hirschen bestickte Frotteevierpfünder an geweihähnlichen Aufhängungen bammelten, und überall lagen kleine, dicke, flauschige Fußmatten herum, damit man sich beim Pullern die Füßchen nicht verkühlte. Am meisten verblüffte mich die Badewanne, ihre Geräumigkeit ließ vermuten, daß sie nur an Gäste mit Freischwimmer vergeben werden durfte. Darüber ein stattlicher Kran und: drei Paar Wasserhähne! Auf Messingschildern stand: Trinkwasser, Brauchwasser und - Thermalwasser! Jeweils rot und blau.  Ich lutschte mal dran: Tatsächlich, leicht salzige Kurtunke, die sie auf vornehme Weise vom Erdinneren bis rauf ins Hirschklo sprudeln ließen.  Ich bade sonst nie, aber hier hatte ich sofort den Fimmel: Thomas, du warst nie auf Kur, jetzt gehst du sofort mal auf Kur! Die zahlt der Südwestfunk! Zügig betankte ein armdicker Thermalstrahl den Badebottich und ich plantschte vergnügt mit Badethermometer und Bocksbeutel in dieser dampfenden Sole umher. Prachtvoll! Ich geriet erst in einen Zustand euphorischen, dann matten Wahnsinns. Ich bekam so eine Art Dachschaden der sowohl sedierenden als auch anfachenden Sorte. Als ich dem Zuber entstieg, stand ich krebsrot vor einem Spiegel und entdeckte mit Entsetzen darin mich und ein neuerliches Messingschild, in das sie eine spiegelverkehrte Warnung graviert hatten: "Verehrter Gast! Thermalbäder nicht ohne ärztliche Erlaubnis, nie wärmer als 35 Grad, nicht länger als fünf Minuten!" Dampfend und altrosa aussehend kroch ich rüber aufs Bidet, hockte wie ein schwitzender Lappen auf dem Klodeckel während sich meine Zunge wie Auslegeware anfühlte. Ich hatte dreißig Minuten in dieser Lauge mariniert und jetzt war klar, warum es ein Badethermometer gab; ich hatte es beim Schiffchenspielen durch nachlaufende Dampfsole zum Schluß auf stolze 46 Grad getrieben! Im Liegen nahm ich ein Beruhigungsbier und fraß eine halbe Platine Aspirintabletten.  Dann erwartete man unten die Taxe zum Kennlernfresserchen. An der Rezeption hielt sich ein altgedienter Hotelportier mit Zwitscherblick und überkämmter Glatze bereit. Schwitzend wie ein Gaul hielt ich mich am Tresen fest und fragte harmlos: "Sagen Sie mal, was bewirkt dieses Thermalwasser eigentlich?" - Er sah mich entsetzt an: "Ist Ihnen schlecht?" - Also, wenn er mich nun so fragte, war mir natürlich gleich noch schlechter! Um aber ihm und mir Umständlichkeiten zu ersparen, sagte ich: "Nein! Ich will nur mal so allgemein wissen, was das für 'ne Flüssigkeit ist." Da beugte er sich rüber und machte ein paar allgemeine Erklärungen: Es seien schon ältere Herrschaften und andere Idioten hier in den Bottichen am Herzkasper verendet, vor allem, weil die beim Baden söffen! - "Nee?", sah ich ihn entrüstet an! - "Doch!", beschwor er, und hohe Blutdrücke - hatte ich natürlich! - würden noch höher, während tiefe gewöhnlich weiter absackten. Abschließend behauptete er noch, das Thermalwasser sei leicht radioaktiv! In solch strahlender Verfassung kutschierte ich mit einem Sprecher namens Bögel und einer Pressedame Aufermann, beide auch Hirsch- und Badhotelgäste,  im Taxi hinaus zum Spätzlewirt. Hier begrüßte uns der Moderator Hubert Winkels, ne janz ne jute kölsche Jong, welcher ja morgen früh vor der Kamera mit allen würde möglichst leger plaudern müssen und nun beim Essen und Trinken schon mal ausloten wollte, welch Temperamente uns Kandidaten zugeteilt waren.  Und da saß ich nun, fraß leicht verstrahlt einen wortkragen Zwiebelrostbraten und begrübelte mühsam, ob's besser wäre, für Herz, Gemüt und Fassade, wenn ich mir hier jetzt einen ansöffe, und wenn ja, womit? Das sah hübsch nachdenklich aus. Äußerlich ließ ich mir nichts anmerken, schwitzte nur stetig. Die müssen sich dennoch gewundert haben: Das ist nun also dieser ulkige Erzählonkel Kapielski?! In Wahrheit is er wohl ein dumpfer Stoffel. Eine taube Nuß! Sowas soll es geben. Ich spürte diesen Argwohn und versuchte wenigstens ab und an ein blöd verbindliches, an allen Gesprächen interessiertes Grinsen aufzusetzen.  Dann hatte ich alles schön aufgegessen und erklärte, daß ich sofort mal wieder heim ins Hotel müsse! Alle waren verblüfft! Ich auch! Unter normalen Umständen gehe ich als letzter! Nun aber schloß ich mich - obwohl's mir ungeheuer peinlich war - dem Sprecher Bögel an, welcher - nicht so der Säufertyp - zum Glück auch früh zu Bett wollte, damit er anderntags gewisse Krüger-Gedichte umso bedachter zu rezitieren in der Facon sein würde. Matt lief ich diesem mir völlig fremden Typus des Frühheimkehrers ins Taxi hinterher. Da guckten wieder alle verwundert: Das also soll diese saufende berliner Stimmungskanone sein?! In Wahrheit ein seniler Bettflüchter! Wir trafen gegen halb zehn im Hotel ein. "Ich leg mich hin", sagte Herr Bögel. - "Ich auch." Ich legte mich vor den Fernseher. Dann stand ich immer mal auf und kotzte. Kotzen-Kotzen in Baden-Baden! Das hatte ich mir anders vorgestellt. Ich erwog, ob ich, als Gegengift, nochmal so ein taktisch gesetztes Extrembad nehmen sollte, aber sie hatten die unberechenbare Lauge, wahrscheinlich aus Sicherheitsgründen, bereits seit neun abgedreht. Erschlagen und fiebrig zugleich spukte ich entgeistert die Nacht in meiner Suite herum. Um etwas Besinnung zu erlangen, trat ich gegen fünf Uhr früh einen elenden Latsch durchs geranienverhangene Baden-Baden an. Aber es half nichts.  Mit solcher Gemütsfärbung, also doof bis halbtot, hockte man dann ab elf Uhr morgens in den Fernsehstudios und wurde in der Maske zunächst mal etwas aufgepudert. Dann saß man mattrosa da und wartete auf die Aufnahmen. Auch war ein Wilhelm Genazino eingetroffen, welcher ebenfalls auf dieser Südwestliste stand, und welcher, ebenso gepudert wie ich, ein wenig ratlos auf mich zutrat und, während wir uns schüttelten, zugab: "Ich kenne Sie gar nicht, Herr Kapielski!" - "Das macht gar nichts", sagte ich, "ich kenne Sie doch auch nicht!" Erleichtert ließen wir uns fortan in Ruhe.  Derweil stritten sich im Bereich des Zentralgeschehens der Moderator Winkels und ein wichtig wirkender Hugenotte um allerhand Detailquatsch. Durch das Gezänk stellte - oder sollte sich herausstellen, daß er der Regiseur dieser Sendung war. Als ich etwas lauter: Wozu man für sowas hier denn einen Regisseur brauche?, ins Studio sprach, sahen mich alle ganz erschrocken an. Ich erschrak ebenfalls und schlich zurück an den Rand, wo ich rag bedauerte.  Es war scheißegal: Ich würde hier im Fernsehn eben den kranken Kurgast geben, der Moderator würde zum Erstaunen des Fachpublikums einen sprachlosen Schwitzer über seine Sendezeit bugsieren und die breite Öffentlichkeit würde eine neuerliche Niete im Fernsehn kennenlernen. Alles nichts Ungewöhnliches! Und dann Feierabend! - Ich hatte es so gewollt! Ich wollte ja partout kein Romancier sein! Lieber wieder scheitern. Plötzlich leuchtete in meiner inneren Ödnis ein geradezu gnostisches Fünklein auf! Moderator Winkels hatte mir an diesem desolaten Vorabend irgendwann erzählt, daß es im Funkhaus in der Kantine das berühmte 'Rothäuser Tannenzäpfle Bier' gäbe. Auf dieses Thema war ich prompt mit aufgesprungen! Vorübergehend geöffnet, hatte ich mit ihm eine kurze Strecke blitzgescheite Gespräche geführt, war dann allerdings schnell wieder weggeknickt; er wunderte sich kurz, fragte, ob es mir gut ginge und unterhielt sich, als ich gnadenlos bejahte, lieber mit wem anders weiter. Ich schlich also, da sich alles Fernsehtechnische und Mitmenschliche so endlos hinzog, fort in die Kantine der Fernsehanstalt, kaufte drei 'Rothäuser Tannenzäpfle' und drei 'Kümmerling' und soff die drei 'Rothäuser' und die drei 'Kümmerling' unverzüglich, Stück um Stück, auf dem verriegelten Herrenklo, damit keine unnötige Besorgnis im Funkhaus aufkommen konnte.  Die Wirkung dieser Erfrischung war kolossal. An meinem Auftritt konnte sowieso nichts weiter vermatscht werden. Aber siehe da, mein Blutdruck regulierte sich, mein Geist frischte auf und da bekam ich dann doch noch eine recht gesunde Darbietung hin. Der Moderator setzte die Vermutung in die Öffentlichkeit, das Bier spiele eine gewisse Rolle in meinen Büchern. Ich erwiderte charmant, das könne man so nicht sagen. Und Klappe zu! Fünf Stunden warten, zwei Minuten quatschen! Und alle raus! Hurtig stopften sie mich wieder in ein Taxi und ich eilte zurück nach Berlin, denn ich hatte an diesem Abend schon wieder Verabredung auf ein Arbeitsessen. Es wurde langsam ungemütlich. Ständig mußte irgendwas beim Essen besprochen werden, nur weil man ein Buch geschrieben hatte. Wir hockten in einem gehobenen Berlin-Mitte-Imbiß und plötzlich gingen drüben in Kreuzberg Raketen hoch! Die Türkei hatte in Bursa die deutsche Nationalmannschaft mit eins zu null besiegt.  Na gut! Meine Tischdame unter den Arbeitsesserinnen hatte es mir besonders angetan. Ich bot mich an, sie mit der Droschke daheim abzusetzten; wir entschlossen uns dann aber beide angesoffen noch eine Rentnerkneipe zwischen SPD-Haus und Jüdischem Museumszickzack im westlichen Kreuzberg aufzusuchen.  Trotz Fußballniederlage eine köstliche Stimmung dort! Mit Auffordern und Abklatschen betanzten ein paar Zahnlose aktuelle Schlager. Ein gutes Dutzend beladener Menschen war entschlossen zu feiern und seine Sozialhilfeschreie auf Morgen zu verschieben. Während ich beim Ententanz meiner Tischdame großspurig vom Auftritt in Baden-Baden erzählte, betraten ganz unerwartet drei junge Männer die Gaststätte und befahlen allen, sich auf den Boden zu legen. Man tat dies sofort wegen ihrer Masken und Revolver. Nun schlug einer von den dreien mit dem Brecheisen auf einen leider sehr störrischen Geldspielautomaten ein. Das steigerte den Zorn der drei. Der zweite Mann begann am anderen Ende der Kneipe Einzelbetreuungen vorzunehmen, indem er den Liegenden nach und nach und besonders intensiv auch der Wirtin seinen Adidas-Turnschuh in den Leib trat und einen jeden aufforderte: "Geld! Oder isch leg eusch um!" Der dritte Mann stand in der Mitte, hielt mit einem verchromten Riesenpüster alle übrigen in Schach und brüllte sehr hysterisch, weil er am wenigsten zu tun hatte und voller Ungeduld mitansah, wie der erste Mann weiter erfolglos auf diesen Spielautomaten einschlug. Dann kam ich an die Reihe. Der Einzelbetreuer trat einsatzfreudig auf mir herum und ich übergab ihm meine Fernsehgage, wofür er sich mit "Scheiß deutsche Faschistenschwein!" bedankte. Ich kroch zurück unter eine Bank, hatte gerade meine dritte Sterbeszene seit gestern überlebt und dachte: Mich kriegt irgendwie keiner tot!  Dann gab der Spielautomat nach, die Front flog auf, wobei Plastikschalen mit Geldstücken auf den Boden fielen. Meine Begleiterin wurde aufgefordert krauchend Münzen einzusammeln. Dabei trieb sie der Mann mit dem verchromten Revolver zur Eile an, indem er "Schnell, deutsche Nutte!" und ihr in den Arsch tretend "Votze!" sprach.  Da lag man nun - gottlob angesoffen! - unterm Tisch und schaute herzlos zu, wie drei miese Metöken die mir zugeteilte Tischdame entehrten. Unter den Stühlen klebten jede Menge Kaugummis, die man sonst nicht so bemerkte.  Und dann standen alle langsam wieder auf, setzten sich aber gleich wieder hin und saßen nun da, wie alle blöden Opfer hinterher immer dasitzen. Fassungslos und lächerlich.  Und dann kam man langsam in Rage, forderte Bewaffnung für Unbescholtene (ich nur Bewaffnung für Unbescholtene mit Hochschulreife) und Todesstrafe! "Ich knall die ab!" kreischte ein Gasttrinker arabischer Herkunft: "Die scheiß Kanacken!" Sie hatten ihm einen Ring abgezogen, an dem angeblich irgendwie die Ehre seiner Familie klebte. Ich mußte kichern. Meine Tischdame heulte vor Wut.  Dann traf ein hilflos umhertappendes Polizistenpärchen in Plusterkleidung aus 'Goretex' ein und füllte mit uns Fragebogen mit drei Durchschlägen aus. Das beruhigte alle ein wenig. Als ich eine Anzeige wegen Inländerfeindlichkeit machen mochte, bedauerten beide, so etwas gäbe es so nicht. Na gut, da gehen wir eben alle mal nach Hause! Man soll auch nicht alles so ernst nehmen im Leben! Höhö! Ende April komme ich nach Hause, da steht auf einem Zettel: "Eine Frau hat angerufen, ob du nach Klagenfurt zur Bachmann-Preisverleihung kommen würdest." Ich dachte: "Jetzt wird's happig! Es ist immer schön, wenn früh und freigiebig Chancen vergeben werden, und nun gleich so als Jurymitglied nach Klagenfurt Preise verteilen? Ehrt mich!"  

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