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Terézia
Mora
DER FALL OPHELIA
Ich
schwimme fünfzigmal quer. Das ist noch gar nichts, ruft die
Schwimmbadputzfrau. Letztes Jahr, da war hier ein Mädchen, das schwamm
fünfzigmal längs. Die Schwimmbadputzfrau ist dick wie ein Buddha.
Längs sind es fünfundzwanzig Meter, quer
zwölf. Längs ist mir zu lang. Ich schwimme erst seit einem Jahr. Nach
fünfzigmal Querschwimmen ruhe ich mich aus. Ich lege mich aufs Wasser,
breite die Arme aus. Das ist noch gar nichts, ruft die Schwimmbadputzfrau,
aber ich höre ihr nicht zu.
Ophelia
hatte mich der Meister genannt. Ich mußte Meister zu ihm sagen. Ophelia,
sagte der Meister, was schwebst du dahin? Ist das alles, was du kannst?
Die
Bilder, die ich sehe, sind immer andere. Gesicht nach oben sind sie
orange, gelb, dann grün, lila, wie die Sonne, wie Feueröfen,
Brandflecke. Nach unten sind sie alles, was ich will. Silberne
Schriftzeichen auf schwarzem Grund. Gebäude, Straßen, Tiere, die es
nicht gibt. Nach unten liegt mein Gesicht im Wasser. Ich halte die Luft
an: Mississippi eins, Mississippi zwei, Missisippi drei, ... vier... Ich
schwebe. Still. Das Wasser greift mir in die Ohren, drückt und hält mich
fern vom Rand. Meine Arme und Beine fliegen wie Wasserpflanzen. Ich sehe,
wie mein Herz unter dem Badeanzug schlägt. Ich höre die Luftblasen, die
aus meinem Mund hinaufsteigen, an der Oberfläche zerplatzen und Kreise
ziehen. Ihre Wellen kratzen hell an der Beckenwand. Der Wind stößt sie
an, sie fallen in den Abfluß, in die Rohre zurück, gurgeln hinunter in
die Kanalunterwelt. Ich sehe sie: silberne Spuren auf schwarzem Grund. Sie
verlassen mich. Das Schweben schrumpft, fließt aus den Fingerspitzen,
zieht sich zurück in die Brust. Die letzte Luftblase steigt aus meinem
Mund. Ich drehe mich ihr hinterher. Hinter geschlossenen Lidern ist der
Himmel rot. Kühl. Ich atme hinauf. Es schmerzt ein wenig. Ophelia, ruft
mich der Meister, aber ich höre ihn nicht.
Eine Kneipe, ein Kirchturm, eine Zuckerfabrik.
Ein Schwimmbad. Ein Dorf.
Niedrige,
zweiäugige Häuser, grüne Tore, und hinter jedem der Tore ein Bastard an
die Kette gelegt. Die Ketten sind unterschiedlich lang. Zehn Monate im
Jahr Dauerregen, Wind und Melassegeruch, und Fabrikruß, der auf die
Weißwäsche fällt. Der Rest ein weißer Sommer, Puderzuckerwinde und
schmelzender Straßenteer. Frühmorgens, unterwegs zum Schwimmbad, gehe
ich barfuß darüber. Am Ende der Straße kurz umgeschaut und unter dem
Schlagbaum durch, die Abkürzung über die Bahnschienen nehmen, den
Geranienbahnhof rot-weiß-grün rechts liegenlassen und mit hohen Knien
über das ölige Gleisbett gestakst. Mein morgendlich schlanker Schatten
springt stufig über das Schienenpaar. Ein Strichmännchen mit Knubbel als
Knie. Die Gleise teilen sich vor und hinter dem Dorf, hier gibt es nur
zwei davon, wie es Züge gibt am Tag. Die Drähte neben den Schienen
summen. Ich denke an Strom und hebe die Knie hoch. Meine Schattenhaare
schweben wie Flügel um mich.
Wackersteine
in die Taschen, sagte der Meister immer zu mir. Sonst bläst dich mir der
Wind noch davon. Er konnte meine Knöchel mit zwei Fingern umfassen. Du
solltest fliegen lernen, Ophelia, nicht schwimmen.
Sie
ist zu schwach, sagte die Krankenschwester, als wir hierherzogen, und
griff mir an Wangen, Augenlider, Waden, Brust. Irgendein Sport wäre gut.
Eine
Kneipe, ein Kirchturm. Den Fußballplatz habe ich vergessen. Quadratisch
neben dem Quadrat des Schwimmbads, je von einem genauen Viereck
einreihiger Pappeln und einer Mauer umfaßt. Einmal zwei Fußballtore und
einmal zwei Wasserbecken, einmal warm, einmal kalt, in genauen Quadraten
aus Gras. Drüben die Jungs von Tor zu Tor, und hier ich von Wand zu Wand.
Quer. Frühmorgens bin ich mit dem Meister allein.
Ein
Dorf. Ein Schwimmbad. Das hat mich dann doch überrascht.
Man bohrt nach Wertvollerem und findet Wasser.
Es kommt gelb unter dem Moor hervor und riecht danach: Schwefel, Chlor,
Salz, Kohlensäure. Wasserstoff. Vierzig Grad. Es heizt das warme Becken,
fließt durch die Rohre unter uns, durch das Gewächshaus neben dem Bad.
Hinter den niedrigen Fenstern dicht gedrängt fleischblättrige Pflanzen.
In den Badepausen drückt das Dorf seine Gesichter an die Scheibe.
Unbekannte Blüten atmen von innen, sie von außen die Scheibe feucht.
Schwefel, Chlor, Salz, Kohlensäure. Ich gehe
nie ins warme Becken. Nichts für Leute wie wir, hat der Meister immer
gesagt. Er ist ein Säufer, sagt man, aber Schwimmen habe er bisher jedem
beigebracht. Im zweiten Becken ist Leitungswasser, Temperatur: vierzehn
Grad. Ich schwimme darin fünfzigmal quer. Frühmorgens kalte Luft, mein
Körper darin fühlt sich lau an, später heiß. Ohne Schweiß kein Preis,
Ophelia, sagt der rotgesichtige Meister neben mir. Er sitzt, die
Bierflasche steht am Beckenrand. Das beste Bier auf dem Kontinent. Aus
unserem Wasser gebraut. Jetzt weiß ich auch, wieso es so gelb ist. Davon
verstehst du nichts, Ophelia. Paß lieber auf, daß du mir nicht
untergehst. Am besten, du hältst die Klappe, solange du schwimmst.
Fünfzigmal quer, aber schnell. Die Füße des Meisters hängen ins
Wasser, ich schlage neben ihnen an. Die letzten Tropfen aus der Flasche
fallen auf seine Zunge, er zieht sie hinein. Jetzt komm mal wieder zu
Atem, sagt er, ich hol mir ein neues Bier. Und geht.
Ich schwebe mit roten Augen himmelwärts,
bodenwärts. Ich bin leicht und heiß. Das Wasser trägt mich kühl.
Scheiße
schwimmt oben, sagt der Sohn der Krankenschwester zu mir. Er ist groß und
weiß wie sie. Er kommt mit den Jungs über die Mauer geklettert. Er ist
mein Feind.
So,
sagt er, und preßt Zeigefinger und Daumen zusammen. So könnte ich dich
zerquetschen. Der Apfelkern quillt zwischen seinen Nägeln hervor, stülpt
sein weißes Inneres heraus. Er schnappt es mit den Lippen auf und zerkaut
es. So, sagt er. Und weißt du auch, warum? Weil ihr Faschisten seid.
Darum, sagt er.
In der Geschichtsstunde drehen sich alle um und
starren mich an. Die Lehrerin hat es gerade erklärt: Wer spricht, wie man
in meiner Familie spricht, ist ein Faschist. Wer bei meiner Mutter in die
Privatstunde geht, lernt die Sprache des Feinds. Die muß man doch als
erstes wissen, sagt meine Mutter. Und: Mach dir nichts daraus. Wir sind
die einzige fremde Familie im Dorf, wenn man das eine Familie nennen kann,
diese drei Generationen Frauen. Alle geschieden, erzählt man sich, kommen
hier her, Kommunisten wahrscheinlich, christlich auf keinen Fall. Sprechen
fremd und beten nicht. Man dreht sich um zu uns und ist ganz still.
Hier
ist Ruhe, sagte Mutter, als wir kamen. Das brauchen wir. Eine Kneipe, ein
Kirchturm. Ein Schwimmbad für den Sport.
Ich
gehe barfuß hin. Der Straßenteer ist weich, er klebt in Flecken an
meinen Füßen. Priester, Lehrerin und Postfräulein im voraus grüßen,
hat Großmutter gesagt.
Guten Tag, sage ich zu Herrn Priester, aus
Versehen in unserer Sprache. Er versteht es trotzdem, bleibt stehen, über
mir. Und fragt mich, warum ich ihn denn nicht lobe, anstatt ihm einen
guten Tag zu wünschen. Ich stehe vor ihm, mein Badeanzug ausländisch und
lila, seine Soutane schwarz und schwer. Ob er wohl schwimmen kann? Wie mag
es sein: sein weißer Körper mit dem ärmlichen schwarzen Haar, die
dünnen Waden im Wasser. Der Glatzkopf wie eine Boje darauf. Der Teer
unter meinen Füßen kocht, die Sonne über mir sehr weiß, Herr Priester
trägt sie statt eines Kopfes auf dem Hals, und sein Hals ist kein Hals,
nur ein Kragen, um die Soutane gelegt. Ich muß ihn loben dafür. Er
drängt darauf.
Ich
verstehe nicht, sage ich in unserer Sprache. Guten Tag.
Das
Geräusch, wenn sich meine Füße aus dem flüssigen Teer reißen. Bei
jedem Schritt etwas weniger.
Schneller,
Ophelia, ruft mir der Meister zu. Meine Teerfüße treten das Wasser. Der
Meister grinst: Das hast du gut gemacht.
Mein
Badeanzug ist ausländisch und lila. Im kalten Schwimmbecken bin ich damit
allein. Umsonst hat der Meister alle schwimmen gelehrt. Das Dorf bevorzugt
das warme Schwefelbad.
Sie
kommen mit dem Gongschlag, im Puderzuckergeruch, im Laufschritt aus der
Fabrik und über das Schienenpaar, ihrem kurzen Abendschatten hinterher.
Schnell noch für eine Stunde in die Brühe, bevor das Becken geschlossen
wird. Und Sonntags nach der Messe in aller Ruhe. Das Wasser frisch
eingelassen bis Dienstag, und dann wieder bis Donnerstag. Wenn sie kommen,
bin ich schon da und bin fünfzigmal quer geschwommen. Ohne Gebet. Ihr
werdet in die Hölle kommen, sagt der Sohn der Krankenschwester und macht
den Streichholztest mit mir. Denn nur gottesfürchtigen Menschen ist es
gegeben, rotköpfige Streichhölzer an schwarzer Reibefläche zu
entzünden. Zur Erschwerung hat sie der Krankenschwestersohn ins Wasser
getaucht.
In
Schwefel, Salz, Chlor, Kohlensäure, Wasserstoff.
Sie
sitzen alle darin. Das Wasser ist gut, gut wie Hühnersuppe. Es hat die
Farbe davon und den Geschmack. Der Geruch weht aus der Kantine der Fabrik
herüber. Dünne, helle Suppe, man trinkt es wie Heilwasser hier.
Sonntags
nach der Messe Picknick am Beckenrand: panierte Hühnerkeulen, saure
Gurken und Quittenkompott. Die Männer fassen sich nur an den
Fingerspitzen an, um genau einmal, schwingend, die Hand zu schütteln.
Für nichts davon steigen sie aus dem Wasserleib. Eine große Familie,
eine Familienbadewanne, alle in der Fabrik, alle zur Messe. Abends gehen
alle Kinder mit Einkaufsnetzen: aus den Löchern aller Netze lugen
Bierflaschenhälse. Warum ihr nicht? fragt mich der Junge, mein Feind.
Warum müßt ihr alles anders machen, nicht in der Kirche, nicht im Bier,
nicht in der Badewanne, fünfzigmal quer, fleißig, was Besseres.
Atmen,
Ophelia, hat der Meister immer zu mir gesagt. Du mußt atmen, sonst machst
du schlapp. Siehst du nicht, wie ich es mache? Luft aus dem Himmel beißen
und hinunteratmen. So tief es geht. Los, fünfzigmal quer.
Das
Wasser im Schwimmbecken ist azurblau. Es ist azurblau, weil man Boden und
Wände des Beckens azurblau gestrichen hat. Jeden Tag blättert etwas mehr
Farbe ab und sinkt hinunter auf den Grund. Das Becken schuppt sich, die
Ränder seiner Abszesse zerschneiden einem Fingerkuppen und Fußsohlen.
Ich schwimme trotzdem bis zum Anschlag, als wäre es ein Wettkampf. Ich
sehe alles, was du machst, Ophelia. Bloß keinen Meter zuwenig, Hände und
Füße fleißig an Rasierklingen legen und zurück. Und hinterher auf
Hacken laufen, die blutenden Zehen in die Luft gereckt, meine blauen
Finger hängen neben mir. Der Junge, mein Feind wartet schon mit
Streichhölzern auf mich.
Du
bist dämlich, sage ich zu ihm.
Ich weiß es von Mutter: Der Sohn der
Krankenschwester hat kein Gehör, er kann keine Sprachen lernen. Die Worte
kehren sich um in seinem Mund. Darüber lachen wir. Die Eingebildeten,
sagt die Krankenschwester mit verzerrtem Gesicht und notiert meinen Atem
literweise. Dürftig, sagt sie. Äußerst dürftig. Kein Wunder, diese
alleinerziehenden Frauen.
Wenn’s nur das ist, sagt der Meister, immer
her damit. Ich werde deine Mutter heiraten. Sie macht sich nichts aus
Männern, sage ich. Dann deine Großmutter, sagt der Meister, die paßt
sowieso besser zu mir. Auch sie nicht, sage ich. Deshalb sind wir hier.
Fünfhundert Seelen, ein Dorf. Wo die Auswahl klein ist, bleibt die
Enttäuschung gering. Dann dich, Ophelia, sagt der Meister und lacht. Das
wollen viele, sage ich.
Mein
Badeanzug ist ausländisch und lila, an meinen Füßen Blasen und Teer.
Ein Mann nimmt mich auf die Fahrradstange: Du bist die Schwimmeisterin,
hab ich gehört. Er schafft es, zu fahren und mich dabei mit den Knien an
den Schenkeln und mit den Armen an der Seite zu streicheln. Er fährt
langsam und schafft es, daß wir nicht umfallen. Als ich absteige,
verlangt er noch einen Kuß.
Die
alte Schwuchtel, sagt der Meister. Und du, sagt er zu mir, bist dämlich,
Ophelia. Los, schwimm mit den Füßen voran.
Bevor
er mich anschiebt, seine Hand unter mir, biegt er, langsam und tief, den
Daumen ein, dorthin, wo Platz ist, am Ende der Pobacken. Nochmal, sagt er.
Nochmal. Schwimmen mit den Füßen voran. Langsam und tief.
Betrunkener
alter Bock, schreit die Schwimmbadputzfrau. Sie hat die Ausmaße eines
Buddha. Ihr Körper sitzt im geblümten Kittel in der Gluthitze unter
einem Schirm. Die überreifen Aprikosen, die sie verkauft, faulen vor ihr
im Gras. Und sie schreit nach mir. Ihre Stimme zersägt mich, und ich
glaube nicht, daß sie mich mag. Aber irgendwie gehört sie doch dazu, zum
Schwimmbad und allem. Sie ist so groß und laut, man kann sie nicht
übersehen oder vergessen, man muß sie immer anstarren, ihren feisten
Körper, dem stetig Hitze entströmt und ein Geruch nach Schweiß,
Nylonkittel und Aprikosen. Und ihre Ellbogen, diese zwei rissigen Kreise
in der Mitte ihrer Arme, die so schwarz sind wie der Teer an meinen
Füßen. Die Frau, von der ich das erste Mal in meinem Leben das Wort
bodymilk gehört habe. Komm her, schreit sie. Was ist das, was ihr da
sprecht? Kroatisch? Ich sagte ihr, es sei deutsch, und sie ruft: Das ist
wenigstens eine anständige Sprache. Nicht so, wie was meine Kinder lernen
müssen: russisch, die Sprache des Feinds. Mir
- eta nadjeschda narodov, denke ich. Und Buddha von den Ausmaßen
einer Schwimmbadputzfrau versichert mir, gegen Fremde wie uns habe sie
nichts. Danke, sage ich. Ach was, sagt Buddha und lacht.
Wir
sollten es vielleicht tun, hat Großmutter gesagt. Was auch die anderen
tun. Das Abzeichen unter den Kragen gesteckt. Die Sprache des Feinds
sprechen, die zuallererst. Der Zuckerrübensilo ist hellblau, der
Kirchturm kanariengelb.
Herr
Priester steht in der Mitte. Zwei große Schwingen sind an seine Schultern
geklebt. Die Schwingen sind golden und weiß: sieben Ministranten im
Meßgewand. Sie singen wie Engel, aus Kehlen wie Feueröfen, laut wie
geschmolzenes Eisen. Es weht aus ihnen heraus, klingendes Erz, es weht
über die Köpfe der schwarzen Mütterchen hinweg, die sich mit zittrigen
Stimmchen im Fluß des Engelsatems mühen, um mit ihm vorangetragen zu
werden, vielleicht, zum Himmel. Ich schwebe.
Großmutter
konnte sich an manches noch erinnern. Wie an das Vorausgrüßen der
Dorfmächtigen aus der Kinderzeit. Aber die Worte kehren sich uns um im
Mund, wir verfehlen das Gebet. Unter dem kanariengelben Turm drehen sich
alle um.
Zur
Hölle, sagt Herr Priester, zur Hölle werdet ihr alle fahren. Vor ihm und
seinen Schwingen sind noch zwei goldglänzende Engel aufgestellt. Allein,
sie sind aus Kupfer, und in ihre Rücken sind, zum Geradehalten,
Holzpflöcke gerammt.
Himmelsakrament,
sagt der Meister, aber nur leise. Warum gehst du da hin, wenn du nicht
mußt. Sei froh, daß du Kommunistin bist. Bin ich nicht, sage ich. Ist
auch egal, sagt er. Eins wie das andere.
Mutter
winkt ab: Versucht haben wir es, was soll’s. Versammlungsfreiheit gibt
es bei uns nicht, aber Glaubensfreiheit sehr wohl, und
Nichtglaubensfreiheit auch.
Der
Herr Priester hat der größten Ministrantin zu seiner Rechten, der mit
den blonden Engelslocken, einen roten Badeanzug geschenkt. Sagt man.
Hhhh,
ein-n-n-s, zwa-a-a-a-i, hhhh ein-n-n-s, zwa-a-a-ai, hhhhh, eins, zwei. Und
Luft beißen, wie es der Meister getan hat. Sein großer roter Mund. Zu
einer Fratze verzogen steigt er aus dem Wasser. Luft aus dem Himmel
abbeißen. So mache ich es auch. Herabbeißen und hinunteratmen. Vom
Himmel in die Hölle.
Zwischen den Pappeln weht der Geruch von
Schienen, Öl und Zuckerrüben herein. Die Fabrik liegt zwei Schritt über
die Gleise. Über dem warmen Becken hebt sich die Wolke des
Schwefeldampfs. Zwanzig Minuten nur, um das Herz zu betäuben. Hier hält
man es tagelang aus. Für nichts verläßt man den Wasserleib. Hinter der
Mauer die Stimmen der gruppenbildenden Jungs, zwischen den Häusern
heiseres Hundegeheul. Wenn die Jungs nicht Fußball spielen, gehen sie die
Bastarde quälen. Sie ärgern sie, bis sie sich erhängen an ihren Ketten.
Manchmal geht es schnell und manchmal über Wochen hinweg: die Ketten sind
unterschiedlich lang.
Das
Wasser greift in meine Ohren, ich höre nichts von dem, was im Dorf
passiert. Ich höre, wie mein Atem geht: von Wand zu Wand ist es
unterschiedlich lang. Meine Arme heben sich, nochmal, nochmal, zäh. Der
Himmel kriecht dahin. Die letzten zehn Längen vom Rücken endlich wieder
auf den Bauch und kraulen. Noch zehn Längen, noch neun.
Atmen,
Ophelia, sagte der Meister immer zu mir.
Mississippi
eins, Mississippi zwei, Missisippi drei, ... vier. Luftanhalten. Das
Leitungswasser hat vierzehn Grad, aber es erwärmt sich schnell. Der
Wasserspiegel im Schwimmbecken ist nicht gespannt. An den Seiten schwappt
das Wasser durch kinderarmhohe Schlitze, in die Rohre hinunter, die kreuz
und quer überall sind, ihr Inneres von scharfgelbem Schwefelstein
überzogen, wie die Ränder des warmen Beckens auch. Gelb wie Urinstein,
sagt der Meister und zwinkert mir zu. Wenn ich schwebe, höre ich sie, die
Kanäle, ihr Leichenröhren dringt durch die Schlitze herauf. Mit Gesicht
nach unten sehe ich sie genau: gelbes Geflecht auf schwarzem Grund. Ich
werde flach, wie eine Comicfigur. Ungespannter Wasserspiegel. Ich
schlüpfe mit ihm durch den Spalt.
Buddha
schreit nach mir. Endlich, schreit sie. Ich dachte, du kommst nie. Sie
steht in ihrem Kittel am Rand des Kanals. Ich treibe an ihr vorbei, die
runde Decke des Abflußrohrs über mir. Oh, sage ich, wie komme ich hier
wieder heraus. So, sagt Buddha und zeigt mit ihrem Mop in den Kanal.
Plötzlich stehe ich neben ihr. Mit meinen Blasenzehen umklammere ich den
Rand, um nicht hineinzufallen. Die Gruppe der Jungs kommt vorbei. Sie
treiben auf dem Rücken im gelben Wasser auf dem Grund des Rohrs, winken
uns zu. Buddha lacht und winkt zurück. So, sagt sie. Der Junge, mein
Feind ist auch dabei. Er winkt mir und lacht, und dreht sich aufs Gesicht,
wie ins Kissen, ins Wasser hinein. Luftblasen steigen auf, danach rührt
sich nichts mehr. Die Gruppe der Jungs treibt unter einer Wand hindurch.
Was ist draußen, frage ich die Frau neben mir, die Aufseherin, dick wie
ein Buddha. Du weißt, was draußen ist, sagt sie. Die Belohnung. Das
Leben. Sie ertrinken doch, sage ich. Ja, sagt sie. Hier ist es Ertrinken
und draußen ist es Leben. Nun spring. Meine Knubbelknie zittern am Rand.
Die Jungs fließen unten dahin. Unbeweglich unter der Mauer hindurch. Ich
denke, das kann kein Wasser sein, was sie treibt. Das ist sicher Gift. Du
hast nicht mehr viel Zeit, sagt Buddha neben mir. Ich kann nicht springen,
sage ich. Der Meister ist enttäuscht von mir. Ich kann nicht zu
Wettkämpfen, weil ich den Kopfsprung nicht kann. Ach, sagt Buddha, und
fängt an, aufzuwischen. Kopfüber ist kein Gesetz, plump wie ein Stein
ist eins so gut wie das andere. Meine Zehen umklammern den Rand des
Kanals. Ich sehe, wie die letzten hinaustreiben, und daß das, was da
unten fließt, ob Wasser oder Gift, langsam versiegt. Tja, sagt Buddha, so
bricht sich der Feigling das Genick. Sie geht weg und läßt mich da
stehen, alleine am Beckenrand, und ich würde so gerne ertrinken, wie die
anderen, aber ich kann es nicht.
Was
bist du für ein Schwächling, Ophelia, sagt der Meister. Das hätte ich
nicht von dir gedacht. Jemand, den ich unterrichte. Los, hol mir ein Bier.
Achtundneunzig,
neunundneunzig, Mississippi hundert. Luftanhalten ist wichtig. Ersticken
ist der schlimmste Tod. Ich öffne die Augen: chlorrot.
So,
hat der Sohn der Krankenschwester gesagt und den Kopf der Maus unter
Wasser gedrückt. Ihre Füße traten vorne das Wasser, hinten die Luft,
nur der Kopf war eingetaucht. Eine Pfütze voll Wasser reicht für eine
Ratte aus, hat der Junge, mein Feind gesagt. Als sie tot war, ließ er sie
los. Sie trieb in die Beckenmitte zu mir.
Die
Nacht im Dorf ist lauter als der Tag und fast so hell. Die Lichter der
Zuckerfabrik fallen durchs runde Akazienlaub, in die Schlafzimmer,
zeichnen schattig die Bettdecken. Die Hunde bellen bis in die Früh. Die
Jungs haben sich für die Bastarde etwas neues ausgedacht: ein Rohr, das,
wenn man hineinbläst, Wolfsgejaul imitiert. Die Hunde werden verrückt
davon, sie brechen sich die Zähne an den Ketten ab. Früher sind die
Jungs nachts über die Mauer zum Schwimmbad geklettert. Aber das hat
aufgehört: man ist vorsichtiger, seit die Sache mit dem Meister passiert
ist.
Keine
Zeit für dich, Ophelia, sagte er. Er schleppte hinkend einen Kasten Bier.
Ich habe einen wichtigen Gast. Der Gast des Meisters soll ein berühmter
Turmspringer gewesen sein, und der Meister sprang auch selbst: vom
Startblock ins kalte, azurblaue Becken. Die Zuckerfabrik ist zwei Schritte
über die Gleise, ihre Lichter hinter der Pappelreihe zeichnen wellig die
Beckenwand. Alles nur Ausreden, sagte Buddha hinterher zu mir. Der alte
Bock war betrunken, wußte nicht mehr, ob er wacht oder schläft. Es war
die Nacht zum Dienstag, da wird nachts das Becken aufgefüllt. Es waren
vielleicht zwanzig Zentimeter drin, als der Meister kopfüber sprang. Er
hatte einfach vergessen, daß es Dienstag war, wie er mich oft vergaß.
Ich schwamm dann alleine. Man sagt, der Halsstarrige hat es überlebt.
Aber man sagt auch, er wird nicht mehr zurückkommen. Der betrunkene alte
Bock, sagt die Schwimmbadputzfrau. Den würde ich auch nicht wieder
zurücknehmen.
Ich
nehme mich zurück. Ich schwebe. Ich bin flach wie eine Comicfigur.
In
der Nacht, als die Jungs das erste Mal die Wölfe heulen lassen, gehe ich
zum Schwimmbad. Die Knie hochgehoben über singende Schienen. Der Schatten
meiner Mondhaare springt stufig über sie. Ich klettere über die Mauer.
In
den Lichtern das Viereck der Pappeln, die Graskante, der Beckenrand scharf
und kalt. Das Wasser im Schwimmbecken sieht wie Quecksilber aus.
Gefährlich, blind. Ich stecke einen Finger hinein. Es fühlt sich zu
leicht, zu samtig an. Eine Bettdecke, die im Fieber aus den Fingern
läuft. Ich ziehe die Hand zurück: da traue ich mich nicht hinein. Der
Wind fährt darüber, über Quecksilber, Pappeln und Gras. Ich rieche es
wieder: Puderzucker und kaltes Hühnersuppenfett. Es weht aus dem Dorf
herein, wo sie, ich höre es, schreiend umherrennen: sie jagen die Hunde,
die Wölfe, die Jungs. Ich stecke den Fuß in die braunen Kräusel des
warmen Beckens. Das Wasser wie ein stacheliger Ring um meinen Knöchel. Es
brennt auf der Haut. Heilwasser. Im Mondschein sieht man: kleine Teilchen
schwimmen darin. Das Heil. Ich ziehe meinen Fuß wieder heraus.
Ihr
seid Faschisten. Und Kommunisten. Ich habe versprochen, dich zu töten,
sagt mein Feind.
Deine
Mutter hat was mit dem Priester, sage ich. Ich habe es von Buddha gehört.
Sein
Gesicht verzerrt sich. Ich habe es versprochen, sagt er. Wenn du noch
einen Fuß ins Schwimmbad setzt.
Eine
Kneipe, ein Kirchturm, ein Bad. Wo die Auswahl klein ist, bleibt die
Enttäuschung gering. Das Wasser ist gut, gut wie Hühnersuppe. Schwefel,
Chlor, Salz, Kohlensäure, sonntags nach der Messe sitzen alle darin.
Zwanzig Minuten, um das Herz zu betäuben. Der Schwefel krönt ihre
Häupter mit Dampf. Ihre Glieder sind glitschig und weiß, gelb die
Ablagerungen darauf. Sie sitzen nah bei nah und fassen sich unter Wasser
an. Aus den Rohren rülpst die Quelle hoch, sie halten ihre Rücken
darunter, lassen sich peitschen und schreien vor Glück. Herr Priester ist
nicht dabei. Er hat seine eigene Badewanne. Ich bin im kalten Becken
allein. Ich treibe auf dem Rücken. Ich höre Wellen in Rohre fallen. Ich
höre meinen Herzschlag, eingeschlossen in meinem Kopf. Ich atme in den
Himmel hinauf. Hinter meinen Augenlidern rot.
Und
dann kalt und schwarz: das Wasser schlägt zusammen über meinem Gesicht.
Ich habe dich gewarnt, sagt der Krankenschwestersohn. Meine Teerfüße
treten das Wasser, ich höre, wie es spritzt. Ich winde mich an der
Oberfläche, zehn Zentimeter Wasser nur über mir, aber für eine Ratte
reicht’s. Ich höre, wie die Luftblasen nach oben brechen und zertreten
werden von mir, von den Jungs. Das Wasser greift in meine Ohren, drückt
und hält mich fern vom Rand. Ich höre, wie die Wellen am Abfluß
kreischen. Warum sinke ich nicht hinab. Warum nicht, wie in den Träumen,
majestätisch ins Meer. Ich trete sie, ihre Körper verrutschen an mir.
Die Kraft schrumpft, fällt zurück in die Brust, ins Herz. Meine Arme und
Beine fliegen mir weg.
Einen
Traum habe ich dem Meister vor seinem Sprung nicht erzählt. Ich lag auf
dem Grund eines Sees und sah hinaus. Von unten war das Wasser süß und
klar, ich konnte sie draußen sehen. Sie standen mit flachen Gesichtern
über dem Wasserspiegel und sahen herab, aber sie sahen nur sich selbst.
Sie ist tot, sagten sie und liefen weg. Und ich lag da, am
marmeladeweichen Grund des Sees und atmete hinauf. Aber es war nur ein
Traum.
Das Wasser hält mich fern vom Dorf, vom
Geräusch. Die Jungs verschwunden, die Laute nach oben geschlüpft. Hier
ganz schwarz und still. Silberne Zeichen auf schwarzem Grund. Häuser,
Tiere, die es nicht gibt. Ich bin alleine hier. Frühmorgens, spätabends.
Das Wasser ganz nah bei mir, meinem Körper, meiner Membran. Ich sinke,
ich schwebe. Ophelia.
Hier
ist es Ertrinken, da draußen Leben, sagt Buddha zu mir. Mit dem Kopf
voran. Mit einem zögernden Klopfen auf den himmelblauen Boden kommen.
Zuerst der Schädel, dann die Knie. Und dann das Sprunggelenk. Kein
Kopfgesetz, aber die Freiheit des Instinkts. Ich stoße mich ab. Ich
breche durch. Die Luft scharf, kalt und schmerzlich wie der erste Atemzug.
Aus dem Himmel gebissen.
Ich
tropfe vor die Füße meines Feinds. Ich sage zu ihm, und das Sprechen
schmerzt in der Brust: Selbst dazu bist du zu blöd.
Er
schaut mir hinterher, die ich barfuß über die geschmolzene Straße gehe.
Im Puderzuckerduft. So schwach und dünn im weißen Sonnenschein, daß ich
bald nur noch ein Strich vor seinen Augen bin, der über dem Teerspiegel
schwebt.
Und Mutter sagt: Du hättest ihn nicht so erschrecken sollen.
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