Peter Stamm

Passion

Immer wenn ich an Maria denke, fällt mir ein Abend ein, an dem sie für uns gekocht hatte. Wir anderen sassen schon am Tisch im Garten, und Maria stand in der Tür, in den Händen eine flache Schüssel. Ihr Gesicht glühte von der Hitze der Küche, und sie strahlte vor Stolz über ihr Werk. In diesem kurzen Augenblick tat sie mir unglaublich leid und mit ihr die ganze Welt und ich mir selbst, und zugleich liebte ich sie mehr als jemals zuvor. Aber ich sagte nichts, und sie stellte das Essen auf den Tisch, und wir assen.

Zu viert waren wir nach Italien gekommen, Stefan und Anita, Maria und ich. Es war Marias Idee gewesen, in das Dorf ihres Grossvaters zu fahren. Der Grossvater war vor vielen Jahren als junger Mann in die Schweiz ausgewandert, und schon Marias Vater hatte die alte Heimat nur noch von Ferienaufenthalten her gekannt.

Wir wohnten in einem kleinen, etwas verkommenen Ferienhaus, mitten in einem Pinienwald am Meer. Überall im Wald standen Häuser, die meisten waren grösser und schöner als unseres. Nicht weit von der Siedlung gab es eine Uferpromenade mit Restaurants, Hotels und Geschäften. Der alte Teil des Dorfs lag etwas im Landesinnern, am Fuss der Hügel. Aber wir blieben die meiste Zeit im neuen Teil, in unserem Haus, weil wir kein Auto hatten. Einmal nur nahmen wir nach einem späten Frühstück ein Taxi und fuhren in das alte Dorf.

In den Strassen war niemand zu sehen. Dann und wann fuhr ein Auto vorüber. Aus einem geöffneten Fenster hörten wir Küchengeräusche, und einmal sahen wir zwei schwarzgekleidete Frauen. Maria wollte sie nach ihrem Grossvater fragen, aber als wir näher kamen, verschwanden sie in einem Haus. Wir fanden eine kleine Bar, die geöffnet hatte. Wir setzten uns an einen Tisch und tranken etwas. Maria fragte den Besitzer, ob eine Familie mit ihrem Namen im Dorf wohne. Er zuckte mit den Achseln und sagte, er sei aus dem Norden, er kenne hier nur die Leute, die in sein Lokal kämen. Und selbst von denen wisse er oft nur die Vornamen oder Spitznamen.

Dann gingen wir auf den Friedhof, aber auch dort erinnerte nichts an Marias Familie. Auf keinem Grabstein und keinem der Urnengräber fanden wir ihren Namen.

"Bist du sicher, dass wir im richtigen Dorf sind?" fragte Stefan. "Die meisten Italiener kommen doch aus Sizilien."

Maria gab keine Antwort.

"Alles schläft", sagte Stefan. "Deine Verwandten hätten wenigstens aufstehen können, wenn du sie besuchen kommst."

"Enttäuscht?" fragte ich.

"Nein", sagte Maria. "Es ist doch ein schönes Dorf."

"Hast du etwas gespürt?" fragte Anita. "Ich weiss nicht, Wurzeln. Da leben vielleicht noch ... wie nennt man die Cousins von Cousins?"

Wir hatten erst länger bleiben wollen, aber es gab nichts mehr zu tun hier, und wir fanden kein Restaurant, in dem wir hätten essen können. Zu Fuss gingen wir zurück, wanderten endlose Feldwege entlang über eine heisse Ebene ohne Zuflucht. Einmal fuhr ein Mann auf einem Mofa an uns vorüber. Er winkte und rief etwas, das wir nicht verstanden. Wir winkten auch, und er verschwand in einer weissen Staubwolke.

"Vielleicht war das ein Verwandter von dir", sagte Stefan und grinste.

Seit wir in Italien waren, war es heiss, so heiss, dass selbst der Schatten der Bäume kaum mehr Abkühlung bot. Tagsüber waren wir schläfrig, aber in der Nacht schliefen wir kaum, weil es so heiss war und weil die Grillen laut schrien, als sei ein Unglück geschehen. Ich glaube, wir wären alle lieber daheim gewesen, in den kühlen Wäldern oder in den Bergen, auch Maria. Aber es gab keinen Ausweg aus der Hitze, wir waren gefangen in ihr, in unserer Trägheit, und unsere einzige Hoffnung war, dass das Wetter bald umschlagen oder dass die Ferien schnell vorbeigehen würden.

Tagelang hatten wir nichts unternommen. Dann erfuhr Anita, dass es in der Nähe einen Reitstall gab. Sie war als Kind eine Zeitlang geritten und wollte es noch einmal versuchen. Stefan hatte keine Lust, und Maria sagte, sie fürchte sich vor Pferden. Schliesslich versprach ich Anita mitzukommen. An diesem Abend erzählte sie uns alle möglichen Reitgeschichten, und ich musste mich rittlings auf einen Stuhl setzen, und sie zeigte mir, wie ein Pferd zu lenken sei und was ich tun müsse, wenn es mit mir durchgehe.

Als sie die Pferde am nächsten Morgen sah, war sie enttäuscht. Es waren alte schmutzige Tiere, die teilnahmslos vor dem Stall standen und die Köpfe hängen liessen. Wir bezahlten die Miete und stellten uns zu einer kleinen Gruppe von Wartenden. Nach einer Weile trat ein Mädchen in hohen Stiefeln und engen Hosen zu uns. Sie sagte etwas auf italienisch, reichte jedem von uns eine Reitpeitsche und wies uns unsere Tiere zu. Sie spielte sich vor uns auf und sprach zu den Pferden, als seien sie es, die uns gemietet hätten. Ein junger Mann schlenderte über den Platz auf uns zu. Noch bevor er uns erreicht hatte, rief er uns einen Gruss zu und fragte, ob alle Italienisch sprächen. Als einige verneinten, sagte er: "We will explore the beautiful landscape on horseback."

Er half uns auf die Pferde, stieg dann selber auf und ritt los. Er hatte uns kurz erklärt, wie die Tiere zu lenken seien, aber egal was wir taten, sie trotteten langsam hintereinander her. Ich kam mir lächerlich vor.

Wir ritten durch einen dichten Wald. Überall zwischen den Bäumen lagen Abfälle im Unterholz, leere Plastikflaschen, irgendwo ein altes Fahrrad und eine ausgediente Waschmaschine. Die Pfade, denen wir folgten, hatten sich von den vielen Ritten tief in den Boden eingegraben. Ich ritt zuhinterst in der Kolonne, und manchmal stand mein Pferd still und frass Blätter von den Sträuchern am Wegrand. Dann drehte sich unser Anführer um und rief: "Schlagen!" Und wenn ich das Pferd nicht hart genug schlug, schlug er selbst sein Pferd und rief: "Fester schlagen!"

Anita, die vor mir ritt, schaute zurück und lachte. Sie sagte: "Es tut ihm nicht weh."

Ich spürte die Wärme des grossen Tieres unter mir und an den Beinen, die ich in seine Flanken presste, die Bewegungen seiner Muskeln. Manchmal legte ich meine Hand an seinen Hals.

Der Ausritt dauerte kaum eine halbe Stunde. Anita und ich hatten unsere Badeanzüge mitgebracht. Im Wald zogen wir uns um.

"Die Kleider kann ich nicht mehr anziehen", sagte ich, "so wie die stinken."

"Ich mag den Geruch", sagte Anita. "Am liebsten würde ich wieder mit Reiten anfangen. Nur die Reiter mag ich nicht. Die interessieren sich nur für Pferde. Und Sex."

"Das macht der Geruch", sagte ich, und Anita lachte.

Wir stiegen die steilen Dünen hinauf. Unsere Füsse versanken tief im lockeren Sand. Anita ging vor mir, und ich schaute ihr zu, wie sie durch den Sand watete, und dachte, ich würde gern meine Hand an ihren Hals legen und ihre Wärme spüren. Dann rutschte sie aus. Ich fasste sie von hinten um die Taille, rutschte selbst, und zusammen fielen wir hin. Wir lachten und halfen einander aufzustehen. Wir hatten geschwitzt, und Sand klebte an unseren Körpern. Bevor wir weitergingen, wischten wir einander den Sand von Rücken und Armen.

Wir blieben nicht lange am Strand. Er war schmutzig hier, und das Wasser war trüb und zu warm und roch faulig. Es war viel zu heiss jetzt, und es waren zu viele Leute da. Als wir ins Haus zurückkamen, waren Stefan und Maria ausgegangen. Die Rolläden waren heruntergelassen. Drinnen war es dunkel, aber nicht kühler als draussen.

Träge lagen wir nebeneinander auf dem Bett von Maria und mir. Wir trugen noch immer unsere Badeanzüge. Ich schaute Anita an. Sie hob die Arme über den Kopf, streckte sich und gähnte mit fast geschlossenem Mund.

"Das ist meine liebste Zeit", sagte sie, "wenn man am Tag im Dunkeln liegt und nichts muss."

"An solchen Tagen möchte ich ein Tier sein", sagte ich, "nur schlafen und trinken. Und darauf warten, dass es irgendwann kühler wird."

Anita drehte sich zu mir. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und legte den Kopf in die Hand. Sie sagte, sie und Stefan hätten sich auseinandergelebt. Ihre Beziehung langweile sie, Stefan langweile sie. Er könne sich nicht mit ihr begeistern. Dass er nicht mit reiten gekommen sei, das sei typisch. Obwohl es ihr eigentlich ganz recht gewesen sei. "Mit dir macht es viel mehr Spass."

"Ich habe immer gedacht, ihr seid das perfekte Paar."

"Ach ja", sagte Anita, "vielleicht waren wir das auch. Und jetzt sind wir es nicht mehr. Und ihr?"

"Auf und ab", sagte ich, "ich schaue wieder anderen Frauen nach. Das ist kein gutes Zeichen, denke ich. Maria muss es merken, aber sie sagt nichts. Sie schluckt alles. Und ich habe ein schlechtes Gewissen."

"Mir ist es aufgefallen", sagte Anita, lachte und liess sich auf den Rücken fallen.

Dann wurde es noch heisser. Am Morgen war die Luft klar, aber schon gegen Mittag verschwand alles in einem milchigweissen Dunst, als verbrenne das Land unter uns langsam in einem Schwelbrand. In den folgenden Tagen unternahmen wir nichts mehr. Manchmal badeten wir frühmorgens oder am Abend, wenn die Sonne unterging. Wir kauften ein, bevor die Geschäfte für den Nachmittag schlossen, Käse und Tomaten, ungesalzenes Brot und billigen Wein in grossen Flaschen. Dann setzten wir uns in den Schatten der Pinien vor dem Haus und versuchten zu lesen, aber meistens dösten wir nur oder führten belanglose Gespräche. Am Abend kochten wir, und beim Essen stritten wir uns laut über Themen, über die wir alle einer Meinung waren. Maria schwieg meist, wenn wir diskutierten. Sie hörte zu, wenn wir uns stritten, und wenn wir uns versöhnten, stand sie auf und verschwand, um zu lesen.

"Ich liebe diesen Sommergeruch", sagte sie einmal, "ich weiss gar nicht, was es ist. Es ist eher ein Gefühl als ein Geruch. Man riecht es mit der Haut, mit dem ganzen Körper."

"Früher habe ich mehr gerochen", sagte Stefan. "Ist das nicht seltsam? Sogar die Luft habe ich gerochen, den Regen und die Hitze. Jetzt rieche ich nichts mehr. Das muss die Luftverschmutzung sein. Ich rieche nichts mehr."

"Du rauchst zuviel", sagte Anita.

"Manchmal", sagte Stefan, "manchmal, wenn ich am Morgen ausspucke, ist Blut in meinem Speichel. Aber ich glaube nicht, dass es etwas zu bedeuten hat. Vielleicht ist es auch nur der Wein."

"Hunde brauchen mehr als die Hälfte ihres Gehirns nur für das Riechen", sagte ich.

"Es ist alles so kompliziert", sagte Anita. "Früher war alles viel einfacher."

Maria sagte, sie gehe an den Strand. Wir anderen redeten noch eine Weile, dann folgten wir ihr. Es dauerte lange, bis wir sie in der Dunkelheit fanden. Sie sass im Sand und schaute hinaus auf das Meer. Das Rauschen der Wellen schien jetzt lauter zu sein als am Tag.

"Wenn ihr euch vertragt, seid ihr noch unerträglicher, als wenn ihr euch streitet", sagte Maria.

Manchmal kochte Maria für uns italienische Gerichte. Dann kaufte sie selber ein und verbrachte Stunden in der Küche und liess niemanden hinein. Sie wäre gern eine gute Köchin gewesen, aber sie war keine.

Maria litt am wenigsten unter der Hitze, und ich merkte, dass sie von Tag zu Tag ungeduldiger wurde. Eines Abends sagte sie, sie habe für den nächsten Tag ein Auto gemietet, sie werde einen Ausflug machen. Wir könnten mitkommen, wenn wir wollten. Anita und Stefan waren begeistert, aber ich hatte keine Lust, irgendwohin zu fahren, und sagte es. Maria sagte nicht viel, nur dass sie mich nicht zwingen könne. Ich hatte zuviel Wein getrunken wie jeden Abend und sagte, ich ginge schlafen. Als ich im Bett lag, hörte ich durch das offene Fenster, wie die anderen den Ausflug besprachen, was sie sehen, wohin sie fahren wollten.

"Wir müssen früh los", sagte Maria, "damit wir da sind, bevor es heiss wird."

"Ich nehme den Fotoapparat mit", sagte Stefan, und Anita sagte, sie wolle sich einen Hut kaufen, einen Hut aus Stroh.

Ich dachte, so möchte ich immer liegen, unter dem offenen Fenster, und zuhören, wie andere Pläne machen. Dann löschten sie die Kerzen und brachten das schmutzige Geschirr herein, leise, um mich nicht zu stören. Als Maria neben mich unter die Decke kroch, tat ich, als schliefe ich schon.

Das war der Abend gewesen, an dem mir Maria so leid getan hatte, an dem ich jenes tiefe Mitgefühl gehabt hatte mit ihr und mit mir und mit der ganzen Welt. Und als ich nun im Bett lag und nicht einschlafen konnte und neben mir Maria atmen hörte, hatte ich wieder das Gefühl absoluter Sinnlosigkeit, das zugleich traurig und befreiend war. Ich dachte, ich würde nie mehr etwas anderes fühlen als dieses Mitleid, diese Verbundenheit mit allem.

Die anderen waren schon aufgebrochen, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Im ganzen Haus roch es frisch nach Seife und Deodorants. Ich setzte Kaffee auf. Gestern waren mir die Zigaretten ausgegangen, und ich hatte mir vorgenommen, jetzt endlich das Rauchen aufzugeben. Dann sah ich draussen auf dem Tisch Stefans Zigaretten liegen und nahm mir eine. Ich trank den Kaffee, dann ging ich durch den Wald ins Zentrum, um Zigaretten zu kaufen. Es war noch nicht neun, aber es war schon heiss, und überall waren Menschen unterwegs zum Strand.

Als ich zurückkam, wirkte das Haus verlassen, als habe lange niemand darin gewohnt. Aus dem benachbarten Garten hörte ich Kinder spielen und aus der Ferne Autos und Motorräder vorüberfahren. Die Gartenstühle standen unter den Pinien, wo wir sie auf der Suche nach Schatten stehen lassen hatten. Darauf lagen Zeitschriften, Bücher, geöffnet und umgedreht. Im Wipfel eines Baumes schrie ein Vogel laut und nur ganz kurz. Die Kinder waren jetzt still oder waren im Haus oder hinter dem Haus verschwunden. Ich hatte ein leeres Gefühl im Magen, aber ich hatte keine Lust zu essen und rauchte noch eine Zigarette.

In den Tagen, die wir hier gewesen waren, hatte ich viel weniger gelesen, als ich mir vorgenommen hatte. Jetzt, wo ich endlich Zeit hatte, sehnte ich mich nach Leben und war doch froh, nicht im heissen Auto zu sitzen oder durch eine schläfrige Stadt zu gehen, durch Fussgängerzonen voller schwitzender Touristen, oder Kaffee zu trinken auf einer überfüllten Terrasse. Ich fühlte mich einsam, wie man sich nur im Sommer einsam fühlt oder als Kind. Es war mir, als sei ich einzeln in einer Welt, in der es nur Gruppen gab, Paare, Familien, die zusammen waren, irgendwo, weit entfernt. Ich las, aber ich legte das Buch schon nach kurzer Zeit wieder weg. Ich blätterte in einigen Illustrierten, dann machte ich noch einmal Kaffee und rauchte. Inzwischen war es Mittag geworden, und ich ging ins Haus, um mich zu rasieren, seit Tagen zum erstenmal.

Ich hatte mir Sorgen gemacht, als die anderen am Abend endlich zurückkamen. Sie schienen ein schlechtes Gewissen zu haben, weil sie einen so schönen Tag verbracht hatten. Das Auto hatten sie schon zurückgegeben.

Sie kamen durch den Garten zum Haus, beladen mit Taschen und Plastiktüten. Anita trug einen Hut aus Stroh, Stefan einen bunten Drachen. Maria küsste mich kurz auf den Mund. Sie war erhitzt von der langen Autofahrt und roch nach Schweiss.

Wir gingen ans Meer, wo jetzt kaum noch Leute waren. Die Sonne stand dicht über dem Horizont. Die anderen liefen ins seichte Wasser hinaus. Ich sass im Sand, rauchte und schaute zu, wie sie einander nassspritzten. Anita trug noch immer ihren neuen Hut.

Nach einer Weile kamen sie aus dem Wasser. Maria blieb dicht vor mir stehen und trocknete sich ab. Im Gegenlicht sah ich nur ihre Silhouette. Dann warf sie mir das feuchte Badetuch an den Kopf und sagte: "So, du Langweiler, hast du einen schönen Tag gehabt?"

Erst jetzt erzählten die drei von ihrem Ausflug. Einen Moment lang bedauerte ich, nicht dabeigewesen zu sein. Nicht, weil sie etwas Besonderes erlebt hätten, sondern weil ich gern die Erinnerung mit ihnen geteilt hätte. Ich sagte, ich hätte den ganzen Tag gelesen, und vielleicht beneideten auch sie mich ein wenig. Anita sagte, sie hätten mir etwas mitgebracht, ein Geschenk. Stefan rannte mit seinem Drachen den Strand entlang, aber es wehte kein Wind, und schliesslich gab er es auf. Wir blieben am Meer, bis die Sonne untergegangen war, dann gingen wir zurück zum Haus, um zu essen.

Während des Essens machte Maria Anspielungen auf meine Trägheit, bis ich wütend wurde und sagte, sie solle endlich aufhören damit. Sie werde wohl einen Tag ohne mich auskommen. Aber sie sagte, ich sei immer so, ein Langweiler, auch zu Hause.

Ich stand auf und ging in den Garten. Ich hörte die anderen drinnen schweigend weiteressen. Dann kam Maria heraus. Sie blieb in der Tür stehen und schaute in die Bäume. Nach einer Weile sagte sie: "Sei nicht kindisch."

Ich sagte, ich hätte keinen Hunger mehr, und sie sagte, sie wolle mit mir spazierengehen, an den Strand.

Es war noch nicht ganz dunkel. Wir gingen am Strand entlang, nahe am Wasser, wo der Sand feucht war und das Gehen leicht. Wir schwiegen lange. Dann sagte Maria: "Ich habe mich den ganzen Tag darauf gefreut, dich wiederzusehen."

"Du hättest etwas sagen sollen, gestern", sagte ich. "Ich hatte zuviel getrunken und keine Lust, irgend etwas zu unternehmen. Die Hitze tut mir nicht gut."

"Wir sind zu verschieden", sagte Maria. "Ich weiss auch nicht. Vielleicht ..."

"Wir können doch einmal einen Tag getrennt sein."

"Das ist es ja nicht", sagte sie und fragte eher erstaunt als ärgerlich: "Was willst du überhaupt ...?"

Sie blieb stehen, aber ich ging weiter, schneller als zuvor. Sie folgte mir.

"Du dramatisierst immer gleich alles", sagte ich. "Ich will nichts."

"Ich dramatisiere nichts", sagte Maria. "Wir passen einfach nicht zusammen."

"Wie meinst du das?"

"Es ist nicht deine Schuld."

Wieder blieb Maria stehen, und diesmal ging auch ich nicht weiter. Ich drehte mich zu ihr um. Vor ihr im Sand lag eine Qualle, ein kleines, durchsichtiges Häufchen Gallert. Sie stiess es mit dem Fuss an.

"Dumme Tiere", sagte sie. "Im Wasser sind sie schön. Aber wenn sie angeschwemmt werden ... man kann ihnen nicht helfen."

Sie nahm eine Handvoll Sand und liess ihn langsam auf die Qualle rieseln. Sie wartete.

Schliesslich sagte ich: "Willst du dich ...?"

"Wenn die Sonne scheint, bleibt nichts zurück", sagte Maria. Sie zögerte, dann sagte sie, ja.

"Das ist Italien", sagte ich, "das ist nur, weil wir in Italien sind. Zu Hause sieht alles gleich ganz anders aus."

"Ja", sagte Maria, "deshalb."

Sie sagte, sie fühle sich nicht wohl hier. "Nicht die Hitze. Aber ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass ich von hier komme. Ich kann mir nichts vorstellen. Nicht, wie mein Grossvater hier gelebt hat. Noch nicht einmal, dass mein Vater hier in den Ferien war. Ich habe gedacht, hier sei irgend etwas. Aber es ist alles vollkommen fremd. Und du ... ich muss irgendwo zu Hause sein, bei irgend jemandem."

Sie drehte sich um und ging zurück. Ich setzte mich neben der toten Qualle in den Sand und zündete mir eine Zigarette an. Ich blieb lange sitzen und rauchte.

Als ich zum Haus zurückkam, sassen die anderen noch draussen, redeten und tranken Wein. Ich ging wortlos nach drinnen. Maria folgte mir. Nebeneinander standen wir vor dem Sofa im Wohnzimmer, auf dem Maria sich ein Bett gemacht hatte. Sie sagte nichts, und auch ich schwieg. Ich ging ins Schlafzimmer, zog mich aus und legte mich hin. Ich konnte lange nicht einschlafen.

Ich erwachte, weil jemand im Zimmer war. Draussen dämmerte es. Maria packte ihre Sachen. Sie gab sich Mühe, keinen Lärm zu machen. Ich beobachtete sie heimlich, aber wenn sie sich zu mir umdrehte, schloss ich die Augen und tat, als schliefe ich. Sie trug ihre Reisetasche in die Stube, dann kam sie noch einmal zurück und trat an das Bett. Lange blieb sie so stehen, dann drehte sie sich um, ging hinaus und schloss sanft die Tür. Ich hörte sie telefonieren. Nach einer Weile fuhr draussen ein Auto vor. Es blieb stehen, aber der Motor lief weiter. Dann hörte ich Türen schlagen, und das Auto fuhr weg. Ich stand auf und ging ins Wohnzimmer.

Das Sofa war leer. Die Bettwäsche lag zusammengefaltet daneben auf dem Boden. Auf dem Tisch lag ein Blatt Papier. Während ich las, kam Anita aus ihrem Schlafzimmer. Sie fragte, was los sei, und ich sagte, Maria sei nach Hause gefahren.

"Irgendwann ist etwas schiefgelaufen", sagte ich. "Ich weiss nicht, was ich falsch gemacht habe."

"Wie spät ist es?" fragte Anita.

"Sechs Uhr", sagte ich.

"So früh? Ich lege mich noch einmal hin."

Wir gingen zurück in unsere Zimmer. Neben dem Bett lag ein T-Shirt von Maria. Ich hob es auf. Es roch nach ihr, nach ihrem Schweiss, ihrem Schlaf, und für einen Moment lang war es mir, als sei sie noch bei mir und nur kurz hinausgegangen.

Beim Frühstück redeten wir nicht über Marias Abreise. Aber als Stefan später an den Strand ging, um noch einmal zu versuchen, seinen Drachen steigen zu lassen, fragte Anita, weshalb Maria mich verlassen habe: "Hat es etwas mit Italien zu tun?"

"Ja", sagte ich, ohne überzeugt zu sein, "es ist alles so kompliziert."

"Meinst du, ihr kommt wieder zusammen?" fragte Anita.

Ich sagte, ich wisse es nicht, wisse nicht einmal, ob ich das wolle.

Anita sagte, eigentlich beneide sie uns. "Das hätte ich schon lange tun sollen. Wenn ich nicht so träge wäre..."

"Ich kann mir nicht vorstellen, wie ihr Leben ohne mich aussieht", sagte ich.

"Das kann man nie, und dann geht es doch irgendwie", sagte Anita.

Dann kam Stefan zurück. Es hatte wieder keinen Wind gegeben, und als er den Drachen über den Sand schleppte, schnappte ein Hund danach und zerbiss ihn. Anita grinste.

"Du hättest ihn gleich dort beerdigen sollen", sagte sie.

"Ich habe mir als Kind immer einen Drachen gewünscht", sagte Stefan, "aber dann habe ich doch nur Kleider bekommen und Schultaschen und Bücher."

"Ihr habt mir mein Geschenk noch nicht gegeben", sagte ich, "das Geschenk, das ihr mir mitgebracht habt."

"Das hat Maria", sagte Anita. "Sie muss es mitgenommen haben."

"Was war es?"

"Ich weiss nicht. Wir waren nicht dabei, als sie es gekauft hat." Maria habe geheimnisvoll getan und es nicht sagen wollen.

"Bestimmt etwas Blödes", sagte Stefan.

"Vielleicht schickt sie es mir", sagte ich, "oder ich rufe sie an."

Es war der letzte Tag unserer Ferien. Wir packten unsere Sachen und putzten das Haus. Überall war Sand. Am Abend gingen wir an die Uferpromenade. Wir wollten in einem Restaurant essen.

"Warum haben die Italiener immer die Rolläden geschlossen?" fragte Stefan, als wir durch die Ferienhaussiedlung gingen.

"Bei der Hitze ...", sagte Anita.

"Auch bei uns", sagte Stefan. "Ich hatte italienische Nachbarn. Die hatten immer die Rolläden geschlossen. Und eine riesige Satellitenantenne auf dem Balkon."

"Vielleicht aus Heimweh", sagte Anita.

Wir spazierten die Uferpromenade entlang. Die Sonne war schon untergegangen, aber es war noch immer heiss. Vor den Restaurants standen Stühle und Tische. Auf grossen Leuchttafeln waren Bilder der angebotenen Gerichte zu sehen. Das Rot war verblichen, und alle Speisen sahen blau und unappetitlich aus. Vor einem Restaurant lagen Fische und Meeresfürchte in Körben mit gekörntem Eis.

"Könnt ihr etwas riechen?" fragte Stefan. "Ich rieche nichts. Man müsste doch etwas riechen."

"Wenn Fisch nach Fisch riecht, ist er nicht mehr gut", sagte Anita.

Wir konnten uns für keines der Restaurants entscheiden und gingen bis zum Ende der Promenade. Dort setzten wir uns auf eine niedrige Mauer. Der Himmel war leer und wie verschlossen vom Neonlicht der nahen Restaurants. Stefan hatte sich auf die Mauer gelegt und seinen Kopf in Anitas Schoss gebettet. Sie strich über sein Haar. Ich sass neben ihr. Unsere Schultern berührten sich.

"Schaut dort den Stern", sagte Stefan, "das muss ein Fixstern sein, so hell."

"Das ist ein Flugzeug", sagte Anita, "so hell sind nur Flugzeuge."

"Flugzeuge blinken", sagte Stefan, "und sie haben rote und grüne Lichter."

Langsam bewegte sich das helle Licht über den Himmel. Wir schwiegen und schauten zu, wie es gegen Westen verschwand.

"Das ist ein schönes Gefühl", sagte Anita, "dass dort oben Menschen sitzen und in den Morgen fliegen. Dass immer irgendwo ein Tag beginnt. Bei uns ist es noch Nacht, wenn sie schon die Sonne sehen. Die amerikanische Sonne."

"Es kommt mir vor, als seien wir schon eine Ewigkeit hier", sagte Stefan.

"Ich könnte hier leben", sagte Anita, "und immer nur den Flugzeugen nachschauen und essen und lesen. Ich fühle mich schon richtig zu Hause."

"Ich möchte wissen, wo Maria jetzt steckt", sagte ich. "Ich möchte wissen, was sie mir schenken wollte."

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