Innere Werte

- Wie gesagt, ich bin kein Adonis, obwohl andererseits ...

Er steht seitlich zum Spiegel und zieht den Bauch ein.

- Na, ja, vom Gesicht her, murmelt er... Also da in jedem Fall.

-  Ab dreißig ist jeder für sein Aussehen selbst verantwortlich, sage ich. Wenn jemand aussieht wie ein Zombie, dann hat er sich das redlich erarbeitet. Das Schweinsgesicht ist genauso dein Verdienst wie die in Ehren ergrauten Schläfen und das kultivierte Erscheinungsbild. Je nachdem.

Er wirft mir einen erwartungsvollen, beinahe koketten Blick zu, ich aber wechsle dennoch das Thema und komme wieder auf die Reise zu sprechen.

-     Im Flugzeug hatte ich noch Bedenken, wollte eigentlich gleich zurückfliegen, erzählt er mir. Auf dem Flughafen war ich dann wieder überzeugt, daß ich das Richtige mache. Es war vielleicht das ganze Ambiente, oder ich weiß nicht, aber ich habe gleich gedacht: hier kannst du dich beweisen, hier tritt dir nicht jeder gegen’s Schienbein, und wenn’s doch passiert, tut’s nicht so weh. Die meisten empfinden es umgekehrt, wenn sie dorthin kommen. Die Armut, sagt man, der Daseinskampf, die Mafia, Ausländer, die man ausraubt, denen man die Kleider vom Leib reißt, den Schädel einschlägt. Das alles hat mir keine Angst eingejagt...

An den Beamten und dem ganzen Formalitätenkram hat man mich vorbeigeschleust. Da waren zwei junge Männer – Mischa und Igor, die haben mich gleich erkannt, wohl nach dem Foto, das man ihnen durchgefaxt hat. Sie haben mich ins Auto verfrachtet und in die Stadt gefahren.

-     Aber warum gerade St. Petersburg, frage ich scheinheilig, ausgerechnet du, wo du dich doch schon unbehaglich fühlst, wenn du vom sechsten in den fünfzehnten Bezirk übersiedeln mußt, weil für dich am Gürtel das Ausland beginnt...

Er schweigt einige Augenblicke, während er in den Taschen seines Sakkos, immer ungeduldiger werdend, nach der Zigarettenschachtel sucht.

-     Vielleicht, sagt er schließlich, hat das unter anderem - aber natürlich nicht in erster Linie - damit zu tun, daß mein Vater fast eineinhalb Jahre lang diese Stadt vor Augen hatte, die Kuppeln der Kathedralen und die Dächer der Paläste im Visier des Feldstechers. Den Stadtplan hatte er auswendig im Kopf, wußte genau, wo er die Hakenkreuzfahne hissen muß, wenn es so weit ist. Aber er kam über die Vororte nie hinaus. Nur ein paar hundert Meter vor und zurück, immer wieder vor und zurück an denselben zerstörten Hütten über die von Bomben geackerte Erde, von September 1941 bis Jänner 1943.

Er wartete, und drinnen, in der Stadt, starben die Menschen zu hunderttausenden. Aber daran wollte er damals nicht denken. Er war ja auch sonst nie ein großer Denker in seinem Leben.

Kurz vor seinem Tod ist er dann doch noch in die Stadt gekommen, obwohl er nach Kriegsende hoch und heilig geschworen hatte, sie nie zu betreten. “Krepieren soll ich”, hatte er geschrien, “wenn ich jemals meinen Fuß dorthin setze.” Er hatte bei City-Tours eine dieser Pauschalreisen gebucht: Moskau, St. Petersburg, Kiew in fünf Tagen. Mehr hat er sich nicht leisten können bei seiner Pension, und ich hatte ihm gleich gesagt: “Papa, ich gebe dir keinen Schilling. So eine Reise regt dich nur auf.”

Die Stelle, wo er die Fahne hätte hissen sollen, wollte er unbedingt sehen, hat er mir dann später erzählt, aber man ließ ihn nicht. Der Bus hätte einen Umweg machen müssen und den Zeitplan der Gruppe durcheinandergebracht... Bald nach dieser Reise ist er gestorben.

Ich beobachte ihn. Ich sehe, wie er sich eine Zigarette anzünden möchte und wie das Streichholz bricht.

-     Als ich damals im Büro dieser Agentur gesessen bin und mir die Kataloge durchgeschaut hab, da lag St. Petersburg ganz oben, an zweiter oder dritter Stelle, unter Kiew und Nischnij-Nowgorod - die waren ziemlich willkürlich geordnet, diese Prospekte -, und ich hab gar nicht weitergeblättert, sondern gesagt: ”Da fahr ich hin! Nach Leningrad.”

Der Mann von der Agentur hat noch schwach protestiert und gemeint: ”Das ist aber bei weitem nicht unser ganzes Programm. Schauen Sie sich doch unsere Frauen in Stettin an, und auch in Plovdiv in Bulgarien haben wir seit kurzem eine Niederlassung. In Bulgarien haben wir die vielversprechendsten Bewerberinnen, diesmal besonders sorgfältig geprüft. Strengstes Auswahlverfahren... Wenn Sie schon Indonesien, die Philippinen und Thailand von vornherein ausschließen, wo unsere Erfolgsquoten am besten sind.”

Aber ich war fest entschlossen.

Du weiß ja, ich bin nicht einer von diesen Männern. Ich wollte eine Partnerin, keine Dienerin, die mir den Rücken massiert und ”Jawohl, Massa” sagt. Eine, die meine inneren Werte zu schätzen weiß. Ich habe immer nach den inneren Werten gesucht. Mein ganzes Leben lang. Ich war immer schon ein sensibler, ein besonders gefühlsbetonter Mensch. Das trau ich mich offen zu sagen. Die inneren Werte sind ja das, was das Menschsein ausmacht. Hierzulande sind sie längst verschüttet von den Süchten des Lebens, und die Beziehungen zwischen Mann und Frau sind ein ewiger Kampf. Man zieht Grenzen, und dann entgrenzt man sich wieder, und dann setzt man den Helm auf und zieht ein Schild über den Kopf und umklammert das Schwert und keiner weiß, wie das enden wird und wozu das gut sein soll. Ich habe selbst leidvolle Erfahrungen machen müssen. Du weiß es ja... Drüben gibt es das noch nicht. Man erkennt eine ausgestreckte Hand noch als solche. Man ergreift sie und geht einen Teil des Weges miteinander. Da sind Sachen selbstverständlich, über die man bei uns nur mehr zynisch lächelt.

Während er spricht, fixiert er mit dem Blick die Ecke des Zimmers, wo Sofa und Schrank sich berühren. Seine Kiefer mahlen die Luft zwischen den Zähnen. Die Zigarette hat er unangezündet im Aschenbecher ausgedrückt.

-     Das Hotelzimmer war eigentlich luxuriöser, als ich gedacht hatte, erzählt er weiter. Man braucht diesen Schauergeschichten von schmutzigen Betten, kaputten Badewannen, zerschlagenen Waschbeckenarmaturen oder fehlendem Warmwasser keinen Glauben schenken. Man darf sich nur nicht mit dem Trinkgeld zurückhalten. Zu nobel sollte man nicht sein, aber man muß das Geld mit Freude geben, mit der großzügigen Geste. Das mögen die Leute dort. Nach so vielen Jahrzehnten Sozialismus, du verstehst. Genieß das Gefühl. Wenn du mit Selbstverständlichkeit gibst, wirst du’s zwei- und dreifach zurückbekommen. Sonst bist du ein Schwein.

Er breitet die Fotos auf dem Schreibtisch aus. Unscharfe Stadtimpressionen. Glänzende Pfützen, aufgespannte Regenschirme, verwaschene Gesichter vor schmutziggrauen Straßenbahntüren, brüchige Asphaltflächen vor restaurierten Rokokofassaden in Eidottergelb, Brücken, die sich in der Ferne verlieren, Marmorstatuen im Schatten von Bäumen, schmiedeeiserne Ziergitter - Efeu, Medusenköpfe, kantige und krallige Fabelwesen -, ein Regenbogen hinter einem Riß in der Wolkendecke.

-     Igor und Mischa wollten mich nicht allein durch die Stadt gehen lassen, erzählt er und lacht. Aber so gefährlich ist es eigentlich gar nicht. Mir ist nichts geschehen, sogar in den überfüllten Bussen nicht, vor denen sie mich gewarnt hatten. Im Gegenteil – es hat mich an meine Kindheit erinnert, als wir jeden Sonntag mit dem Fünfundzwanziger zum Arbeiterstrandbad an die Alte Donau gefahren sind. Mein Vater machte die Ellbogen ganz spitz, um uns den angestammten Platz im Wagen zu erkämpfen. Das war zwar brutal, aber immer noch menschlicher als später, nachdem er sich endlich den VW-Käfer leisten hatte können. Da kam die Sau in ihm erst so richtig durch. Ich erinnere mich, einmal auf der Reichsbrücke...

-     Du bist spazierengegangen, und dann hat man dir also irgendwo die Frauen vorgeführt, unterbreche ich ihn.

Die alten Geschichten von den Straßenbahnfahrten in den fünfziger Jahren hatte er mir schon dutzende Male erzählt.

-     Jeden Nachmittag punkt dreizehn Uhr dreißig kam ich ins Kaffeehaus ”Rosowij Oslik”, was soviel wie Rosa Eselchen bedeutet. Ein fragwürdiges Etablissement, wenn auch direkt am Newskij Prospekt, also sehr zentral, gelegen. Die Gäste sahen aus... Na ja, du kennst sicher solche Typen: Bullterrier mit Handy und Krawatte. Aber Igor und Mischa waren ja beide auch so bebizepste Wesen. Wie dem auch sei – man darf Agenturen dieser Art nicht trauen, besonders nicht ihren Katalogen. Wie sich später herausgestellt hat, war die Mehrzahl der in der Hochglanzbroschüre abgebildeten Frauen längst in Wien, Linz oder Bludenz verheiratet.

Er grinst, während seine Augen ernst bleiben.

-     Den Namen der ersten Frau am ersten Tag kenne ich nicht, sagt er. Sie kam herein, schaute sich um, suchte unseren Tisch. Die Haare wasserstoffblond gefärbt und dauergewellt wie einbetoniert. Falsche Wimpern. Die Schminkschicht zentimeterdick. Der Minirock ließ alles offen. Also so eine Art von Frau. Ich schielte hinüber zu Igor, der als Übersetzer fungierte, und fragte ihn, ob das ein Witz sei. Er antwortete nicht, sondern winkte nur mit dem Kopf, und plötzlich war die Frau weg.

Die nächste war Tanja. Die war eher ein armes Hascherl, wenn du verstehst, was ich meine, hat mich kein einziges Mal angeschaut, immer nur mit ”Ja” und ”Nein” geantwortet und außerdem an den Fingernägeln geknabbert. Das kann ich nicht ausstehen. Du weißt doch: ich bin leidenschaftlicher Allergiker. Wenn jemand mit der Gabel oder einem Messer über den Tellerboden kratzt, bekomme ich Schüttelfrost und beim Anblick einer Küchenschabe einen Anfall. Mindestens zweimal am Tag putz ich meine Wohnung. Und dann sowas. Schuppen hatte diese Tanja auch. Als sie gegangen war, hat Igor in meinem Gesicht geforscht und gemeint: ”War nur erster Versuch. Jetzt kommen gute Mädchen. Richtige Mädchen. Interessantere Mädchen.”

Aber es ist an jenem ersten Tag keine mehr da gewesen, die wirklich in Frage gekommen wäre. Wir sind hinter einem dunkelgrauen Tisch gesessen, mit dem Gesicht zur Tür und zur Vitrine, die auf den Prospekt ging. Draußen rauschte der Verkehr. Die Frauen kamen herein und blieben zwischen Eingang und Theke wie angewurzelt stehen. Ich hab jedesmal nur ein-, zweimal hinschauen müssen. So beiläufig. Das hat eigentlich schon gereicht.

Er wird rot. Diese alte Verlegenheit, die ich so gut an ihm kenne. Beinahe ist er mir wieder sympathisch.

Er mischt die Fotos wie ein Kartenspiel. Seine Hände zittern leicht. Er öffnet eine Schublade, ohne jedoch die Fotos hineinzulegen. Stattdessen breitet er sie wieder vor mir auf dem Schreibtisch aus. So als hätte sich die Stadt gehäutet, die Haut in Scheiben geschnitten und neu zusammenwachsen lassen.

-     Du darfst nicht glauben, ich ginge nur nach Äußerlichkeiten, sagt er.  Es ist nur so, daß sich am Gesicht und am Körper jedes Menschen bei genauerem Hinsehen ablesen läßt, wie dieser Mensch in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren aussehen wird. Als meine Frau mich verließ, versuchte ich mir vorstellen, wie sie mit achtzig aussehen wird. Ich hab es nie geschafft. Und gerade das war viel furchtbarer als die verletzenden Worte, die Tränen oder der Augenblick, als sie die Uhr von der Wand nahm, du erinnerst dich sicher - die Uhr, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Als wir zusammengezogen sind, war die Uhr das erste, was in der noch leeren Wohnung seinen Platz erhielt.

Ich erinnere mich, wie er mir erklärte, daß es endgültig zuende sei, irreversibel, und denke an das blutüberströmte Gesicht seiner Frau am Vortag und wie ich ihm einen Tag später die Pistole aus der Hand reißen mußte und er, während ich auf ihn einredete, die Zigarette auf seinem Handrücken ausdrückte und wie seine Frau mich mehrere Male anrief, um sich nach ihm zu erkundigen und wie ich barsch antwortete, sie solle doch selber nach ihm sehen und wie sie mich zum Teufel wünschte.

-     Die Frauen wandten natürlich alle möglichen Tricks an. Diese lasziven Blicke, diese Gesten, diese vorgespielte Schüchternheit. Da waren welche, die mir gleich um den Hals fielen. Eine sprach sogar von meiner außergewöhnlichen Ausstrahlung als Mann. Da habe ich Igor gar nicht mehr anschauen müssen. Er wußte schon...

Das Schweigen ist keine Stille. Manchmal glaube ich, in den Pausen zwischen den Sätzen immer noch seine Worte zu vernehmen. Als jagten sie, Fliegen gleich, durch den Raum.

-     Nach zwei Tagen war ich fix und fertig. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was man da zu hören bekommt. Der singende Tonfall der russischen Sprache dröhnte in meinen Ohren.

Eine der Frauen erklärte mir, sie sei eine gute Köchin. Plump war das und irgendwie rührend... Man wird einander vorgestellt, tauscht die üblichen belanglosen Sätze aus – den Dolmetscher immer zwischengeschaltet, der den Worten einen falschen Tonfall gibt, etwas Schamloses daraus macht – und dann kommt plötzlich dieses: “Kennen Sie die russische Küche? Ich kann übrigens ganz ausgezeichnet kochen.”

Eine andere versuchte damit zu punkten, sie sei Krankenschwester. Doch war sie damit bei mir an der falschen Adresse. Ärzte heilen und Krankenschwestern verwalten die Krankheiten... Oder umgekehrt? Wie auch immer. Mein Vater hat sie immer gehaßt, diese Mörder in weißen Kitteln.

Er schmunzelt leicht, erinnert sich womöglich daran, wie sein Vater nach dem ersten Krankenhausaufenthalt diesen Begriff geprägt hat... Weiß: die Farbe des Todes.

-     Dann gab es natürlich andere, die sehr direkt vorgingen, so als wollten sie den Vorurteilen zuvorkommen, indem sie sie bestätigten, sagt er. Eine hat sogar betont, es gehe ihr ausschließlich um die Auswanderung, bis zum Erhalt der österreichischen Staatsbürgerschaft werde sie mir aber eine gute Ehefrau sein. Und dann habe ich etwas ähnliches zu hören bekommen wie: “Ich bin sehr attraktiv. Schauen Sie mich doch an! Talentiert im Bett bin ich auch.”

“Das ist aber schön”, habe ich gemurmelt und geschwiegen. Die klügeren Bemerkungen fallen einem ja immer erst ein, wenn es zu spät ist. Später hat mir Igor erzählt, diese junge Frau habe schon einmal aus Rußland hinausgeheiratet, nach Deutschland, nach Aschaffenburg - eine kleine, reiche und saubere Kleinstadt. Die Beziehung sei jedoch bald in Brüche gegangen und die Frau habe nach Rußland zurückkehren müssen. 

Aber am schlimmsten waren die Rührseligen: “Sie haben doch sicher schon von der berühmten russischen Seele gehört. Ich bin diese russische Seele.” Über so etwas konnte man ja noch lachen, nicht aber über diese weiten Herzen, eines weiter als das andere, diese kuschelige Wärme und Geborgenheit im Stil rosaroter Tapeten. All das wurde einem vorgegaukelt, endlos variiert, und nicht einmal so ungeschickt.

Und diese bettelnden Augen. Noch heute blinzeln sie mich im Traum zu Tode.

Verstehen kann ich’s ja. Wenn ich so leben und überleben müßte wie die, würde ich meinen Arsch auch jedem hinhalten, der mich aus der Misere herausholt.

Ich merke, wie er über seine Worte erschrickt. Er ist kein ordinärer Mensch. Das betont er. Wenn ihm “ein unschönes Wort entweicht”, wie er sich auszudrücken pflegt, murmelt er leise Entschuldigungen. Wenn ich nicht wüßte, daß er nie religiös gewesen ist, könnte man glauben, er betet.

-          Schließlich war dann doch eine dabei, die auf mich einen guten Eindruck gemacht hat. Das war aber erst nach einigen Tagen.  Ljuba. Eine ehemalige Lehrerin, die jetzt in einem Nachtclub arbeitet. Eine wirklich intelligente Frau, eine von der bescheidenen Sorte, für die Bildung eine Selbstverständlichkeit darstellt und kein Hammer ist, mit dem man auf den anderen eindrischt. Ganz jung war sie auch nicht mehr. Vielleicht siebenunddreißig, achtunddreißig. Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte sie Deutsch an einer Mittelschule unterrichtet. Das hat einiges erleichtert. Endlich konnte ich ein privates Gespräch führen.

Igor hielt sich dezent im Hintergrund, zog sich auf einen Nebentisch zurück und spendierte eine Runde für die Bullterrier. Erst da ist mir klar geworden, daß die nicht nur alle irgendwie zusammengehörten, Igor, Mischa, die Bullterrier im Lokal, ja das ganze Lokal und das Haus, sondern, daß da wirklich eine enge Verbindung bestand...

Am Stadtplan erklärt er mir, wie sie vom Newskij Prospekt auf die Petrograder Seite gefahren sind. Die Route ist mit rotem Kugelschreiber markiert. Igor habe sie mit dem Auto zu Ljuba nachhause gebracht. Ein sechsstöckiges Gebäude aus der Zeit vor der Jahrhundertwende, ohne Lift, mit lichtlosen, feuchten Gängen. Dies habe ihm aber seltsamerweise nichts ausgemacht. Zu sehr haben ihn Ambiente und Geruch an die eigene Kindheit in Wien erinnert. Im Tröpferlbad habe es manchmal auch so gerochen.

-     Sie schrauben dort die Glühbirnen am Gang raus, die Hausparteien. Um nicht selber welche kaufen zu müssen. Geld ist ja rar geworden, besonders nach der Rubelkrise letztes Jahr. Unten am Gang vom Erdgeschoß ist eine Gestalt in zerfetzten Kleidern in einer großen Schachtel aus Karton gelegen. Ljuba nannte ihn Arkaschenjka. Sie erklärte ihm etwas, zeigte auf mich, ich verstand aber nur Inostranez, was soviel wie Ausländer bedeutet, Avstrija und Wjena. Sogleich sprang Arkaschenjka auf. Allzu fest auf den Beinen war er nicht, stützte sich an der Mauer ab und krallte sich an Ljubas Schulter fest. Mit einiger Mühe gelang es ihm, meine Hand zu schütteln. Seine Handfläche war aufgerauht, voller Risse, blutig. Ich dachte, sein Geruch haut mich um. Du weißt, daß ich schon seit Jahren keinen Alkohol trinke. Ich mußte all meine Selbstbeherrschung mobilisieren. Arkaschenjka hatte Tränen in den Augen. “Avstrija, Wjeeena...”, murmelte er. “Ach!” Dann griff er auch mit der zweiten Hand nach mir und rutschte langsam wieder hinunter in die Kiste. Seine Augen wanderten schnell an meinem Körper auf und ab, zogen mich aus.  Ich nahm einen Zehndollarschein aus meinem Portemonnaie, den mir Ljuba sofort abnahm. “Bist du verrückt?” fragte sie. “Willst du ihn umbringen? Er versäuft sofort alles und ist morgen tot!”

Der Mann schrie uns etwas nach, während wir die Treppe hinauf gingen. Ich wollte wissen, was er sagt. “Er meint, er hört mit dem Trinken auf, wenn du ihm etwas vom Leben in Wien erzählst. Je mehr er säuft, umso sentimentaler wird er. Er ist unser Liebling, der Arkaschenjka. Wenn’s so weit ist, legen alle zusammen für sein Begräbnis. Alle hier im Haus.”

 

Während er spricht, wird er selbst sentimental, wischt sich die Augen mit einem Papiertaschentuch ab, in das er sich dann hineinschneuzt, atmet tief durch, räuspert sich. Es sei schon ein Wahnsinn, was das Menschengeschlecht alles durchmachen müsse, meint er. Nun gehe das Jahrhundert zuende und keine Besserung in Sicht. Ich unterbreche ihn noch rechtzeitig, bevor er zu einem seiner Lieblingsthemen abschweift.

 

-     Sie standen vor mir wie Zinnsoldaten. Großvater. Großmutter. Mutter. Vater. Onkel. Tante. Bruder Eins. Bruder Zwei. Schwester. Schwager. Nichte. Sogar der Babyneffe, der zweijährige.

Es war fast wie damals beim Bundesheer, wenn der General auf Inspektion kam. Unangenehm war mir das schon, aber ich muß zu meiner Schande gestehen, daß sie mich doch nicht ganz kalt ließ. Diese Form von Aufmerksamkeit.

Jeder gab mir ganz artig die Hand, nur der Babyneffe nicht gleich, und sie haben ihn angeschrien und solange herumgeschubst, bis er mir ganz zaghaft dann doch noch sein dürres Händchen entgegengestreckt hat, und ich habe wie ein Papagei nur wiederholt, daß ich es völlig unnötig finde, das kleine Kind zu quälen. Ich mag ja Kinder, wie du weißt. Auch meine Frau mochte welche, nur als sie dann tatsächlich schwanger wurde, ist es der falsche Zeitpunkt gewesen...

Diese Worte wecken bei mir unangenehme Erinnerungen, und ich bin froh, daß er an dieser Stelle verstummt. Ich muß daran denken, wie er und seine Frau bei mir gesessen sind an jenem Abend danach und wie er zwei, drei oder sogar vier Stunden philosophiert hat -  über die Zeit und jene günstigen Zeitpunkte im Leben, die zu erkennen ihm gegeben sei, intuitiv, “sozusagen aus dem Bauch heraus”, wie er sagte, während sie nur zu Boden starrte und kaum einmal blinzelte, die Hände zu Fäusten geballt und in den Schoß gepreßt.

-     Wir haben uns im Wohnzimmer um einen großen Tisch versammelt, der sich unter den Speisen zu biegen schien, setzte er seine Erzählung nach einigen Augenblicken des Schweigens fort. Später erfuhr ich, daß hier das Monatseinkommen einer Großfamilie verpulvert wurde – für den Gast aus Österreich. Doch das war mir zu jenem Zeitpunkt noch nicht bewußt, sonst hätte ich wohl zugegriffen, aber ich hatte keinen Appetit, weil mir zuviel durch den Kopf ging.

Der Fernseher ist die ganze Zeit gelaufen, das Telefon hat mehrmals geläutet, und irgendwann tauchte die schon etwas verwirrte Urgroßmutter im Schlafrock auf. Sogar ein Nachbar schaute herein, ein beleibter älterer Herr mit massigem Kinn. Er blieb in der Tür zum Wohnzimmer stehen und durchlöcherte mich mit seinen Blicken. Gegrüßt hat er mich nicht, nur ein paar Worte mit meinen Gastgebern gewechselt, und ist bald wieder gegangen.

Wir sprachen kaum, haben eigentlich nur Höflichkeiten ausgetauscht. Ljuba hat übersetzt. Einige Fragen haben sie gestellt, mehr zu meinem Lebensstil als zu meiner Person. Als sie erfuhren, daß ich nie den Führerschein gemacht hatte, gab es verblüffte Ausrufe, Schulterzucken, ungläubiges Kopfschütteln. Autofahren als Glückseligkeit, Freiheit, Luxus. Die Menschen drüben sind ja immer noch so naiv, trotz Mafia, Marlborowerbung und Internationalem Währungsfonds. Als ich ihnen erzählte, wieviel ich schuften muß in meinem Beruf, meinte jemand plötzlich: ”Ich habe immer gedacht, im Westen müsse niemand Überstunden machen, habe geglaubt, daß die Menschen dort ein menschenwürdiges Leben führen.”

Die ganze Zeit wollte ich höflich sein, aber da habe ich laut lachen müssen.

In Wirklichkeit arbeitet er schon seit Jahren nicht mehr. Seinen kleinen Grafikbetrieb hat er gegen Leibrente an einen früheren Mitarbeiter abgegeben. Wozu also das Theater?

-     Ich konnte doch nicht noch mehr den Scheißkapitalisten, Müßiggänger und Millionär spielen, erklärt er.  Sie haben ohnehin schon gedacht, ich bade jeden Abend in Eselsmilch.

Ljuba sagte schließlich etwas auf Russisch, und alle drängten in die Küche und zogen die Tür hinter sich zu, während sie mir einen Kuß gab und sich auszuziehen begann. Hinter der Tür hörte ich ihren Vater lachen.

 

Er steht auf und beginnt im Zimmer auf und ab zu gehen. Vor dem Spiegel bleibt er stehen. Auf den ersten Blick scheint es, als würde er mit sich selbst sprechen, aber er schaut an seinem Spiegelbild vorbei.

 

-     Das hat alles zerstört. Alles! schreit er. Ich fliege doch nicht zweitausend Kilometer, um in einem schäbigen, verwanzten Wohnzimmer zu bumsen, während die Familie in der Küche auf das schöne Leben anstößt, das die vielversprechende Verbindung zum Mann aus dem sagenhaften “Avstrija” ihnen bescheren wird.

“Nein!” habe ich geschrien. “Nicht so! Nicht hier!”

Sie hat sich sofort wieder angezogen, mit den Schultern gezuckt, hat so armselig, so ertappt dreingeschaut, daß ich mir wieder als der Miesling vorgekommen bin.

 

Jetzt faßt er mich an den Schultern, schüttelt mich.

 

-          Warum? Warum? Warum bin ich für euch alle immer der Miesling? Kannst du mir das sagen? Für meinen Vater, für meine Frau, für diverse sogenannte Freunde, die sogenannten guten, die immer zu einem stehen. Das sind die schlimmsten. Man wird sie nie los, auch wenn man ihnen ins Gesicht spuckt. “Komm, beruhig dich, setz dich hin und erzähl, was in dir vorgeht”, sagen sie dann immer und wischen sich die Spucke mit dem Ärmel aus dem Gesicht. Und ich bin wieder einmal das Schwein. Wie ich das hasse!

Du bist nicht besser. Du bist überhaupt der Schlimmste von allen. Mich hast du damals spüren lassen, du seist auf ihrer Seite, und wenn du mit ihr gesprochen hast, warst du plötzlich wieder mein Freund. Sogar die Pistole hast du mir aus der Hand geschlagen, nur um mir daraufhin zu erklären, was für ein Arschloch ich bin... Ja, jetzt lächelst du, anstatt mir eine in die Gosch’n zu hauen.

 Ich warte, bis der Anfall vorbei ist. Blizzardartig ist er über ihn gekommen, ebenso schnell geht er vorüber. Jetzt steht er am Fenster, mit dem Rücken zu mir, und erzählt weiter, mit ruhiger Stimme.  

-     Sie hat die Bluse wieder zugeknöpft. “Ich dachte, du willst das”, flüsterte sie. “Der andere Mann, beim letzten Mal, vor einem Monat, auch ein Österreicher, wollte das auch.”

“Ich bin nicht einer von diesen Männern”, sagte ich und lief aus der Wohnung, die Stufen hinunter, am schlafenden Arkaschenjka vorbei. Igor startete den Motor, lehnte sich aus dem Fenster, aber ich schüttelte den Kopf und ging zu Fuß wieder Richtung Newa...

Kurzes Schweigen, fünf Schritte vor, halbe Drehung, fünf zurück, zum Spiegel, zum Fenster, zum Tisch.

-     Du glaubst jetzt sicher, ich sei ein Idiot, ein Verrückter und ein Phantast zugleich. Du hast recht! Ich wollte alles auslöschen. Von Null beginnen. Kein Ballast. Zweitausend Kilometer...

Eine schnelle Runde durch das Zimmer, Richtungswechsel und gleich noch eine Runde.

-     Ich rief sie vom Hotel aus an. Ich weiß gar nicht mehr, was ich alles gesagt habe, aber sie versprach, am Abend zu mir zu kommen.

Ich zählte die Stunden. Um acht war sie da. Sie hatte einen alten Mantel an – keine Frau bei uns würde sich trauen, einen solchen anzuziehen – und ein Häubchen und ausgetretene Schuhe. Sie sah alt aus, wirklich alt, aber ich war froh.

Wir haben sehr lange geredet. Das heißt – eigentlich habe ich von mir erzählt, sie hat nur Fragen gestellt oder genickt und hat genau mein Gesicht und meine Bewegungen beobachtet. Etwas später hat sie meine Hände gestreichelt. Ich hätte so wunderschöne, so zarte, so gepflegte Hände, hat sie gesagt...

Wir sind ins Bett gegangen, aber es wollte nicht klappen.

“Macht nichts”, meinte sie. “Wenn wir in Wien sind, bei dir, wirst du dich sicherer fühlen. Wir haben ja noch Zeit. Viel Zeit.”

Die Agentur habe alles arrangiert, erklärte sie. Das Touristenvisum nach Österreich für einen Probemonat mit mir, für beide Seiten natürlich völlig unverbindlich, ihr Flugticket hin und retour, eine Luxussuite in einem Fünfsternhotel für eine Woche in Krumpendorf am Wörthersee, einen Ausflug nach Venedig mit Sightseeingtour und Gondelfahrt.

Sie hat mich angeschaut, freundlich, fast gütig, aber dieser Blick war fern, nach innen gekehrt, so als sei sie eine unbeteiligte Zuschauerin. In diesem Augenblick bin ich in Panik geraten.

Er beschleunigt den Schritt, bald hastet er im Zimmer auf und ab, bleibt vor mir stehen, und ich fühle seinen Atem an meiner Wange und rieche das Rasierwasser, das er auch schon früher verwendete und das seine Frau so mochte. Auf einmal scheint mir, er müßte jetzt, auf der Stelle, umfallen und zerbrechen wie ein Spiegel.

-     Du kennst sicher diese Situationen, sagt er leise. Man tut etwas Blödsinniges. Man weiß genau, daß es blödsinnig ist, aber man gehorcht einer inneren Stimme und letztlich hat diese Stimme doch wieder irgendwie recht...

 

Ich nicke. Ja, ich kenne das Gefühl.

 

-     Wir sind eine Zeitlang schweigend beieinander gelegen. Dann hat sie sich im Bett aufgerichtet, und ich dachte, sie würde jetzt wohl nachhause gehen wollen. Ich bin aufgestanden, habe zweihundert Dollar aus meiner Geldbörse geholt, habe sie ihr entgegengestreckt und gemurmelt: ”Für deine Familie, ich weiß, wie schwer ihr es hier habt.”

Ich muß kurios ausgesehen haben, nackt mit den Geldscheinen in der Hand.

Ihre Augen haben kurz aufgeblitzt, zwei Schüsse waren das, zwei richtige Schüsse, das Gesicht verhärtet, als wäre ein Pflug drüber gefahren, und noch zehn Jahre älter als kurz zuvor. Sie hat den Mund aufgemacht, tief Luft geholt. Aber... Sie hat doch nichts gesagt, hat das Geld genommen und es schnell in ihrer Handtasche verschwinden lassen.

Es waren vielleicht nur diese paar Sekunden, die schließlich alles entschieden haben.

Dann wurde ihr Gesicht wieder freundlicher, so ein Lächeln mit Grübchen in den Wangen und diese sanften, völlig leeren,  abwesenden Augen. Sie kehrte zu ihrer Rolle zurück, bedankte sich für das Geld, nannte mich großzügig. Ich sei ein herzensguter Mensch. Dann erzählte sie, wie schlecht es ihrer Familie wirklich geht. Eigentlich hätte ich noch fünfhundert Dollar drauflegen müssen.

“Von den zweihundert sind zehn für Arkaschenjka”, habe ich gesagt und gelacht. “Fünf für’s Niedersaufen und fünf dann später für’s Begräbnis. Wenn schon alle Hausbewohner zusammenlegen, möchte ich mich auch beteiligen...”

Ich bin vielleicht ein Schwein, möchte das gar nicht bestreiten, aber an jenem Abend wurde ich von Minute zu Minute gelöster. Ich denke, sie hat verstanden, was in mir vorging, denn sie ist immer nervöser geworden, übertrieben freundlich. Eine Schmeichelei nach der anderen, Liebesbeteuerungen mit kürzer werdenden Intervallen.

Und als sie ganz fern von mir war, konnte ich plötzlich wieder. Ich bumste sie, und sie flüsterte mir Koseworte ins Ohr. Es war so, als würde man ein Tonband abspielen...

Er wartet auf eine Reaktion von mir, schleicht um mich herum wie ein Raubtier um die Beute. Aber ich bleibe unbeweglich, habe meine Hände auf die Knie gelegt, weiche seinen Blicken aus. Ich kann ihm nichts abnehmen. Nicht ich. Nicht jetzt.

-     Wir sind in der Abflughalle gesessen, Mischa, Igor und ich und haben lange auf Ljuba gewartet.

“Sie kommt nicht!” stellte Mischa schließlich fest.

Was du nicht sagst, dachte ich.

“Ich hole sie. Sie kommt! Wir haben Abmachung. Sie muß!” sagte Igor, aber ich hielt ihn am Ärmel zurück. Dann habe ich lange auf ihn eingeredet und beteuert, daß ich das nicht wolle und eigentlich ganz froh sei, daß es so gekommen ist.

Er hörte mir mit ernster Miene zu, runzelte die Stirn, und zum ersten Mal empfand ich fast physisch, wie sehr er mich verachtete.

“O.K.”, sagte er schließlich. “Du zahlst! Tausend Dollars.”

Der Atem ist mir weggeblieben. Stell dir vor – da steht so einer vor dir und verlangt tausend Dollar. Bar auf die Hand. Ich habe noch versucht zu protestieren, ihn darauf hingewiesen, daß ich alle Gebühren schon an die Agentur entrichtet hatte, und daß ich schließlich allein nachhause fliege. Ein Mißerfolg. Mischa hat dann nichts mehr gesagt, aber Igor hat mich mit der einen Hand am Kragen aus dem Sessel gehoben und mit der anderen Hand an den Hoden gepackt und gesagt: “Du zahlst, Hurensohn, oder du bald brauchst keine Frau mehr!”

Er schmunzelt und beginnt dann zu lachen, setzt sich und zündet sich endlich seine Zigarette an.

-     Und du hast denen wirklich tausend Dollar gegeben? frage ich.

- Ach wo. Ich hatte gar nicht mehr so viel bei mir. Aber die dreihundertfünfundsiebzig, die noch in meiner Geldtasche waren, mußte ich den beiden aushändigen. Die Schillingscheine haben sie mir gelassen, haben sie nur mit einer Mischung aus Ekel und Verachtung kurz gegen das Licht gehalten. Am Schluß haben sie wieder gelächelt, mir auf die Schulter geklopft. “Bis zum nächsten Mal”, haben sie gesagt.

Als ich dann zurückgeflogen bin, habe ich die Augen geschlossen und an eine Fahrt mit der Wiener Stadtbahn gedacht, mit der alten, der roten, die es schon längst nicht mehr gibt. So habe ich mich als Kind immer auf Wien gefreut, wenn meine Eltern mit mir und meiner Schwester im stickigen VW von Cattólica wieder nachhause unterwegs waren, endlos lang. Damals habe ich mir das angewöhnt und es ist auch heute noch so: Augen zu. Einsteigen. Und dieses ganz besondere Quietschen der Falttüren. Es war immer so viel Sicherheit in diesem Quietschen...

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