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WARUM DAS KIND IN DER POLENTA KOCHT

1

Wir wohnen immer woanders.

Manchmal ist der Wohnwagen so klein, dass wir fast nicht aneinander vorbeikommen.

Dann gibt uns der Zirkus einen grossen Wohnwagen mit Toilette.

Oder die Hotelzimmer sind wie feuchte Löcher voller Ungeziefer.

Aber manchmal wohnen wir in Luxushotels mit Kühlschrank im Zimmer und Fernsehen.

Einmal wohnten wir in einem Haus, in dem Eidechsen über die Wände huschten. Wir stellten die Betten in die Mitte des Wohnzimmers, damit die Viecher nicht unter die Decke kriechen konnten.

Und als meine Mutter am Gartentor stand, schlich ihr eine Schlange über den Fuss.

WIR DÜRFEN NICHTS LIEBGEWINNEN.

Ich bin es gewohnt, mich überall so einzurichten, dass ich mich wohlfühle.

Dazu muss ich nur mein blaues Tuch auf einen Stuhl legen.

Das ist das Meer.

Neben dem Bett habe ich immer das Meer.

Ich muss nur aus dem Bett steigen, und schon kann ich schwimmen.

In meinem Meer muss man nicht schwimmen können, um zu schwimmen.

Nachts decke ich das Meer mit dem geblümten Morgenmantel meiner Mutter zu, damit mich die Haifische nicht packen, wenn ich pinkeln muss.

Eines Tages werden wir ein grosses Haus mit Luxus haben, mit Schwimmbad im Wohnzimmer und Sophia Loren, die bei uns ein- und ausgeht.

Ich möchten ein Zimmer voller Schränke, in denen ich meine Kleider und alle meine Sachen aufbewahren kann.

Mein Vater sammelt echte Ölbilder mit Pferden und meine Mutter teures Porzellangeschirr, das wir aber nie  benützen, weil es sich durch das Ein- und Auspacken

abnützt und zerbricht.

Unser Besitz ist in einem grossen Koffer mit viel Zeitungspapier eingepackt.

AUS ALLEN LÄNDERN SAMMELN WIR SCHÖNE SACHEN FÜR UNSER GROSSES HAUS.

Meine Tante sammelt Plüschtiere, die ihre Liebhaber auf dem Jahrmarkt abschiessen.

Traurigkeit macht alt.

Ich bin älter als die Kinder im Ausland.

In Rumänien werden die Kinder alt geboren, weil sie schon im Bauch der Mutter arm sind und sich die Sorgen der Eltern anhören müssen.

Hier leben wir wie im Paradies. Ich werde deswegen aber trotzdem nicht jünger.

Zu Hause traten meine Eltern im Staatszirkus auf.

Sie waren sehr berühmt.

DER DIKTATOR  HAT RUMÄNIEN MIT STACHELDRAHT UMZINGELT.

Mein Vater, meine Mutter, meine Tante, meine Schwester und ich sind mit dem Flugzeug ins Ausland geflohen, nachdem mein Vater das Geld aus der Zirkuskasse gestohlen hatte.

Meine Mutter ging mit dem gestohlenen Geld ins HOTEL INTERNATIONAL, machte schöne Augen und kaufte Dollar.

Die Toten leben besser als die Lebenden, im Himmel braucht man keinen Pass, um zu reisen, sagt meine Mutter.

Meine Tante hat ihren Mann zurückgelassen. Sie spricht fast nie über ihn.

Um so mehr spricht meine Mutter von ihren vielen Geschwistern, sie weint dabei und schlägt sich auf den Kopf. Das sieht wie ein Ballett aus.

Meine Tante weint nicht, sie ist älter als meine Mutter.

MEINE TANTE IST WIE DER SCHATTEN MEINER MUTTER.

Aber auf jedem Foto sieht sie anders aus, als sei sie ein Teil der Landschaft. Sie lässt sich immer mit Blumen,

Flaschen, Tellern, Teddybären, Radios, oder was

gerade in ihrer Nähe ist, fotografieren.

Wenn sie mit meinem Vater auftritt, kleidet sie sich als

Mann mit Schnurrbart. Oft schminkt sie sich sehr auffällig, klebt sich falsche Wimpern an, die bis zu den Augenbrauen reichen, und steckt sich Watte in den

Büstenhalter, um den Busen zu heben.

Sie hat immer einen anderen Mann, von dem sie sich

Geschenke machen lässt.

Wenn wir das Hotelzimmer teilen, verbringt sie manchmal die Nacht mit jemandem im Badezimmer.

Aber bei meiner Tante macht mir das nichts aus.

Wir sind gute Menschen, sagt meine Mutter, weil wir orthodox sind.

Was ist orthodox?

Das ist, wenn man an Gott glaubt, sagt sie.

Bei den Orthodoxen wird vor allem gesungen, gegessen und gebetet. Aber ich war noch nie dort.

Meine Tante macht immer Griesskuchen für die Toten mit Smartiesdekoration. Wir essen ihn aber selber, weil keine orthodoxe Kirche in der Nähe ist, um ihn zu spenden.

Beim Kuchenessen weint meine Mutter und zählt die Toten unserer Familie auf.

Meine Tante zwinkert mir zu: Deine Mutter hätte Opernsängerin werden sollen.

DER DIKTATOR HAT GOTT VERBOTEN.

Aber im Ausland dürfen wir gläubig sein, obwohl es hier fast keine orthodoxen Kirchen gibt.

Ich bete jede Nacht das Gebet, das ich von meiner Mutter gelernt habe.

Zu Hause dürfen die Kinder weder beten, noch Gott zeichnen. Auf den Zeichnungen muss immer der

Diktator und seine Familie sein. In jedem Zimmer

hängt sein Bild, damit alle Kinder wissen, wie er aussieht.

Seine Frau hat eine halbe Stadt voller Schuhe, sie

benutzt Häuser wie Schränke.

Der Diktator ist von Beruf Schuhmacher, seine Schul-diplome hat er gekauft.

Er kann weder schreiben noch lesen, sagt meine

Mutter, er ist dümmer als eine Wand.

Aber eine Wand tötet nicht, sagt mein Vater.

Die Menschen suchen das Glück wie unser Blut das Herz. Wenn kein Blut mehr zum Herzen fliesst, trocknet der Mensch aus, sagt mein Vater.

Das Ausland ist das Herz. Und wir das Blut.

Und unsere Familie zu Hause?

 

2

Ich bin sehr sauber.

Auf dem Gaskocher muss mir meine Mutter jeden Tag Wasser wärmen, damit ich mich waschen kann.

Das habe ich von meiner Tante.

Rumänische Frauen sind sehr temperamentvoll und sauber, sagt meine Mutter.

Sie wäscht sich aber nicht so gerne wie meine Tante und ich. Sie badet lieber. Meistens haben wir keine Badewanne.

Wenn man jeden Tag nass wird, kriegt man den Durchzug und wird verrückt, sagt meine Mutter.

Sie muss sehr aufpassen, weil sie die Haare vor jedem Auftritt befeuchten muss.

Durch die Nässe werden sie stärker, trockene Haare reissen ab. Das darf aber niemand wissen.

Vor der Vorstellung muss ich immer still sein.

Eine Stunde vor dem Auftritt müssen wir mit den Vorbereitungen beginnen:

1.  Wasser kochen.

2. Meine Mutter beugt sich über eine Schüssel und

meine Tante giesst warmes Wasser auf ihren Kopf.

Meine Mutter wäscht sich die Haare nur mit Regenwasser. Wir haben immer viel Regenwasser-vorrat.

3. Meine Mutter kämmt sich die Haare mit gesenktem

Kopf bis sie ganz gleichmässig verteilt sind.

Jede Unregelmässigkeit reisst büschelweise Haare

aus. Das darf unter keinen Umständen passieren!

4. Die Haare werden von meinem Vater mit einem

feuchten Lederlappen umwickelt und von meiner

Tante mit einem runden Gummiband  zusammen

gebunden.

5. Meine Mutter richtet sich auf

 

Alle weiteren Schritte werden abwechslungsweise  

von meinem Vater und meiner Tante gemacht.

Mehr darf ich aber nicht sagen.

Meine Schwester passt draussen auf, dass sich niemand dem Wohnwagen nähert, um uns zu beobachten.

Und ich muss still in der Nähe meiner Mutter bleiben, damit sie sich nicht um mich sorgt.

SORGEN SCHWÄCHEN DIE HAARE.

Nach dem Auftritt wird das Haar langsam wieder ausgewickelt und die Kopfhaut mit einem Vitaminsaft eingerieben. Das mache ich.

Zum Schluss senkt meine Mutter den Kopf und kämmt sich.

Zum Kämmen benützt sie immer einen speziellen Kamm aus der Schweiz.

Danach zählt sie die ausgefallenen Haare.

Das ist sehr wichtig.

Sie geben darüber Auskunft, wie die Nummer ver-laufen ist, ob meine Mutter genügend Vitamine hat und ob sie nicht zu dick ist.

AN DEN AUSGEFALLENEN HAAREN KÖNNEN WIR DIE GEFAHR ABSCHÄTZEN.

Niemand darf wissen, wie lang das Haar meiner Mutter ist, sonst kopieren sie uns die Nummer, und dann haben wir keine Arbeit mehr und müssen zurück in unser Land. Meine Mutter trägt deshalb immer ein Kopftuch oder eine Perücke.

Wir proben im Wald statt im Zirkus.

Meine Mutter hängt an den Haaren an einem Baum, meine Tante wirft ihr die Keulen zu und macht eine Pirouette. Manchmal steht meine Schwester auf einem Bein auf dem Kopf meines Vater und jongliert mit meiner Mutter, während ich am Boden den Spagat übe. Ich bin so beweglich, dass ich als Schlangenfrau auf-treten könnte. Später will ich eine Nummer für mich alleine. Aber meine Mutter will das nicht. Wir müssen immer zusammen auftreten, damit der Zirkusdirektor für uns alle die Reise und das Hotel bezahlt.

Auch für unseren Hund Boxi muss er die Reise be-zahlen, er tritt mit meinem Vater auf, trägt ein Glitzer-kleidchen, raucht und pinkelt in den Zylinder.

Mein Vater wird Boxi das Singen beibringen.

Die Schlussparade im Zirkus mit Fanfarenmusik ist fast so schlimm wie meine Blinddarmoperation. In jedem Land ist sie gleich. Alle Artisten stehen in einer Reihe oder im Kreis und winken. Das ist zum Schämen!

Wenn der Zirkusdirektor nicht darauf besteht, dass ich am Schluss auch erscheine, schliesse ich mich im Wohnwagen ein und drehe das Radio auf, um die Trommelschläge nicht zu hören.

NEIN, MEIN VATER IST NICHT TRAURIG.

ER IST CLOWN, JA.

Seit wir von zu Hause weg sind, ist er auch Film-direktor geworden. Er geht immer mit einer Kamera herum und filmt die Gegend. Dafür gibt er fast unser ganzes Geld aus.

Uns hat er auch schon gefilmt und auch meine Puppen.

Einmal musste meine Mutter meinen Vater aus Eifer-sucht erschiessen, die Hände vors Gesicht schlagen und HILFE! NEIN! HILFE! rufen.

Das sah sehr gut aus, aber mein Vater bekam trotzdem eine Wut, weil meine Mutter mittendrin lachte.

In Afrika mietete mein Vater extra einige nackte Leute aus dem Urwald, die mich entführen mussten.

In einem anderen Film legte er mir eine Gummi-schlange auf die Brust, ich musste dann schreien, er kam aus dem Gebüsch hervor, tötete die Schlange und rettete mich.

Einmal wollte er sich aus dem Fenster eines fahrenden Zuges hängenlassen, an einem Betttuch, das er am Gepäckträger angebunden hatte. Als meine Mutter sich weigerte, ihn zu filmen, gab’s eine Schlägerei.

Mein Vater ging auf meine Mutter los. Sie schrie.

Ich schlug auf meinen Vater ein. Er drehte sich um. Peng!

Mein Gesicht quoll wie ein Brotteig auf, und meine Mutter musste mich in der nächsten Stadt zum Arzt bringen.

Bei meinem Vater gibt’s oft eine Schlägerei. In dem Land, aus dem er kommt, ist das üblich.

In den Filmen meines Vaters spricht er manchmal seine Muttersprache, meine Mutter und ich haben meist stumme Rollen. Oder wir müssen HILFE! rufen.

In Afrika wohnten wir ein Jahr lang im Zug.

Ich teilte das Abteil mit meiner Tante und meiner Schwester.

Meine Tante hängte überall Fotos auf von Sophia Loren und anderen schönen Frauen und Männern. Alle sehr berühmt.

Ich werde auch berühmt.

IM AUSLAND KANN MAN BERÜHMT WERDEN, OHNE DER DIKTATORPARTEI ANZUGEHÖREN.

Tag und Nacht hörten wir Lieder von Elvis Presley.

Er hing auch überall im Abteil.

Meine Tante ist verliebt in Elvis Presley. Sie kriegt rote Wangen, wenn er singt.

Obwohl Afrika im Ausland ist, gibt es dort genauso arme Leute wie in Rumänien.

Sie sind schwarz.

In Afrika müssen die Armen im Zirkus separat sitzen und trotzdem den ganzen Eintritt bezahlen.

Die Armen mussten für uns den Zug und die Toiletten putzen, Wasser nachfüllen und den Zirkus auf- und abbauen.

Der Zirkusdirektor verbot uns, ihnen dafür Geld oder Geschenke zu geben.

Mit ihnen zu sprechen war auch verboten.

Als jemand es doch tat, wurden mehrere Arme blutig zusammengeschlagen.

Sie wehrten sich nicht.

Niemand mischte sich ein.

Der Zirkusdirektor wiederholte: Geschenke nicht gut!

Wir wurden nicht geschlagen.

Daran merkte ich, dass es uns hier besser geht als zu Hause.

Trotzdem wurde meine Mutter kurz danach ins Spital gebracht. Sie hatte Steine in der Galle.

Mein Vater hat eine andere Muttersprache als wir,

er war auch in unserem Land ein Fremder.

Er gehört zu den anderen, sagt meine Mutter.

Im Ausland sind wir aber keine Fremden untereinander, obwohl mein Vater hier fast in jedem Satz eine andere Sprache spricht, ich glaube, er versteht manchmal selber nicht, was er sagt.

Seine Muttersprache klingt wie Speck mit Paprika und Sahne. Sie gefällt mir, aber er darf sie mir nicht bei-bringen.

Wenn er mit uns reden will, soll er unsere Sprache sprechen, sagt meine Mutter.

Mein Vater stammt aus einem Vorort von Rumänien, ich glaube, dass er deshalb so zornig ist, weil wir aus der Hauptstadt kommen.

Meine Tante nennt ihn DER ALTE.

 

3

In Rumänien wurden meine Eltern nach unserer Flucht zum Tode verurteilt.

MEINE GROSSMUTTER IST ZU HAUSE VOR

KUMMER UND SEHNSUCHT GESTORBEN.

Meine Mutter sagt, hier ist alles viel besser, und weint. Ich denke nur daran, dass ich wieder zurückwill. Die anderen, die wir zurückgelassen haben, werden von uns wollen, dass wir sie auch hierherbringen, wenn wir reich sind. Sie lieben uns alle.

Zu Hause dürfen die Leute nicht einmal im Traum frei denken. Wenn sie dann laut sprechen und von den Spionen gehört werden, werden sie nach Sibirien gebracht.

Zwischen den Wänden haben die Spione Geheimgänge.

Die Fremden wollen uns aber auch schaden.

Ich darf den Wohnwagen nicht alleine verlassen.

Ich darf mit den anderen Kindern nicht spielen.

Meine Mutter traut niemandem.

Ich muss das auch lernen.

Immer, wenn wir jemanden aus der Gegend unseres Landes treffen, beginnt meine Mutter zu flüstern. Das sind alle Spione, sagt sie, nur wer selber geflohen ist, ist kein Spion.

Mit denen spricht sie über Onkel Petru.

Mein Bruder ist ein grosser Künstler, wie Picasso, er ist homosexuell, sauber, ein Genie!

Als erstes will sie Onkel Petru aus dem Gefängnis kaufen.

Hier kann man alles kaufen, sagt mein Vater, wir werden bald so reich sein, dass uns alle fürchten.

Seit unserer Flucht wird Onkel Petru im Gefängnis gefoltert. Und Onkel Nicu wurde vor seiner Wohnungs-tür erschlagen.

Als meine Mutter davon erfuhr, schrie sie wie in einem rumänischen Klagelied.

Erst als mein Vater im Gang des Hotels alle Fenster-scheiben zerschlug und die Polizei kam, hörte sie damit auf.

Meine Mutter wird jemand finden, der ein Buch mit unserer Lebensgeschichte schreibt.

EISENTÜR UND TÜR ZUR FREIHEIT wird

es heissen.

UNSERE GESCHICHTE KLINGT BEI MEINER MUTTER JEDEN TAG ANDERS.

Wir sind orthodox, wir sind jüdisch, wir sind international!

Mein Grossvater hatte eine Zirkusarena, er war Kaufmann, Kapitän, zog von Land zu Land, verliess nie sein Dorf und war Lokomotivführer. Er war Grieche, Rumäne, Bauer, Türke, Jude, Adliger, Zigeuner, Orthodoxer.

Meine Mutter trat schon als Kind im Zirkus auf, um ihre ganze Familie zu ernähren.

Ein andermal brennt sie gegen den Willen ihrer Eltern mit dem Zirkus und mit meinem Vater durch.

Das kostet meine Grossmuter das Leben, obwohl sie in einer anderen Geschichte wegen unserer Flucht stirbt.

In allen Geschichten ist mein Grossvater schon tot.

Die Ärzte öffneten ihm den Magen und er starb an der Luft, die dabei in seine Lunge drang.

Er ist an Krebs gestorben, sagt mein Vater.

Meine Mutter bricht in Tränen aus: Wer hat dich gefragt? War er dein Vater, dass du das so genau weisst? Er war ein guter Mensch! Wie soll er an Krebs gestorben sein!

In allen Geschichten ist meine Grossmutter

EIN ENGEL.

Und meine Mutter ist immer ihr Lieblingskind.

Meine Tante liest mir jeden Tag die Zukunft im Kaffeesatz.

Ich werde berühmt werden und glücklich, sagt sie.

Sehr reich und mit vielen Männer, die ich auswählen kann. Und mit sehr vielen Kindern.

Meine Tante spricht mit den Toten.

In den fremden Städten gehen wir mit ihrem Liebhaber zum Friedhof und schauen uns Tote an.

Mit meiner Mutter gehe ich zum Fleischmarkt und mit meiner Tante zum Friedhof.

In der Leichenhalle erkundigt sie sich bei den Ver-wandten der Toten nach dem Todesgrund, gibt ihnen die Hand und spricht ihnen ihr Mitgefühl aus.

Sie kennt schon viele Todesgründe.

Jeder Mensch hat einen eigenen Grund zu sterben.

Es bringt den Toten Glück, wenn Fremde sie vor der Beerdigung besuchen, sagt meine Tante.

WIR SIND VIEL LÄNGER TOT ALS LEBENDIG, DESWEGEN BRAUCHEN WIR ALS TOTE VIEL MEHR GLÜCK.

Totsein ist wie schlafen.

Du legst den Körper aber nicht ins Bett, sondern in die Erde.

Dann musst du Gott begründen, warum du lieber tot als lebendig sein willst.

Wenn du ihn nicht überzeugst, löscht er dir das Gehirn aus, und du musst mit dem Leben wieder von vorne anfangen.

Usw.

Usw.

Usw.

Usw.

Usw.

Etc.

Ich gehe zwar nicht in die Schule, aber ich spreche

fremde Sprachen und kenne viele Geschichten, das ist viel mehr als Schule. Meine Mutter sagt, ich muss nicht in die Schule, das Wichtigste weiss ich schon.

DAS WICHTIGSTE

Sich in acht nehmen vor den anderen.

Ihnen nicht die Wahrheit sagen, damit sich niemand über uns lustig machen kann.

Die Leute merken nicht, dass ich anders bin, ich erfinde

immer neue Geschichten über uns, damit sie nicht glauben, wir sind niemand und haben nichts erlebt.

Wenn ich volljährig bin, werde ich Filmstar und dann kaufe ich meiner Mutter unser schönes Haus und einige Restaurants, und wenn die Grenzen unseres Landes geöffnet werden und unsere Landsleute ins Ausland fliehen können, werden wir ihnen gutes rumänisches Essen servieren.

Meine Mutter will später Wirtin werden.

Ich habe noch eine Patentante, die ist Wirtin in Deutschland, aber sie hat keine Kinder, weil sie mit einem reichen Mann verheiratet ist.

Je reicher die Leute sind, desto weniger Kinder wollen sie, sagt meine Mutter.

ICH WERDE  SPÄTER  AUCH EINEN REICHEN MANN HEIRATEN.

Oder zwei Männer, dann werde ich nie alleine sein. Bei der Hochzeit werde ich sie unter dem Tisch anfassen, wo’s verboten ist. Die Leute werden Kuchen essen und neidisch sein. Meine Männer werden mich lieben und abschlecken.

Ausser dem Diktator und seinen Söhnen gibt’s in Rumänien keine reichen Männer, meine Eltern haben gut daran getan zu fliehen, denn einen Diktatorsohn heirate ich nicht.

Wir haben einen Flüchtlingspass.

An jeder Grenze werden wir anders behandelt, als die richtigen Leute. Die Polizei lässt uns aussteigen und verschwindet mit unseren Papieren.

Meine Mutter gibt ihnen immer Geschenke, Schoko-lade, Zigaretten oder Cognac.

Und macht schöne Augen.

Wir sind aber trotzdem nie sicher, ob sie nicht die SECURITATE anrufen.

UNSER KÖNIG IST AUCH INS AUSLAND GE-FLOHEN, WEIL ER IN RUMÄNIEN NICHT MEHR REICH SEIN DURFTE.

Was heisst reich? Meine Familie zu Hause kann nicht einmal Wasser kochen, weil sie weder Wasser noch Gas hat.

Aber alle meine Cousinen haben viele Kinder.

Rumänische Frauen müssen viele Kinder gebären.

Wir schicken ihnen regelmässig Kaffee und Seiden-strümpfe. Aber sie wollen immer Dollar.

Alle glauben, wir sind sehr reich. Haben die eine Ahnung! Als ob das so einfach wäre! Selbst hier muss man das Geld verdienen und gut aufpassen, wo man es hintut, mein Vater versteckt es jeden Tag woanders, damit es niemand entdeckt.

Meine Mutter trägt das Geld im Stiefel.

Mit viel Geld will ich mir später einen chinesischen

Diener kaufen, der immer wachbleibt, damit ich keine schlechten Träume mehr habe. Er wird Tschian-Tschian heissen und auf mich aufpassen, und ich werde keine

Angst mehr haben. Und alle werden sich darüber

wundern.

Ich habe grosses Glück, wir sind immerhin schon so reich, dass ich Boxi nicht essen muss.

Wer in Rumänien einen Hund hat, lässt ihn entweder verhungern oder macht daraus Fleischsuppe, um selber nicht zu verhungern.

Ich will nicht wissen, was meine Familie dort alles essen muss!

Ich schäme mich, dass wir sie dort gelassen haben.

Alle kennen mich und lieben mich.

Ich bringe aber die Namen meiner Verwandten alle durcheinander.

 

4

Im Zirkus lächeln die Leute beim Sterben.

Ich werde nicht lächeln.

Lidia Giga, die Dompteuse, wurde von ihrem Löwen, den sie mit der Flasche aufgezogen hatte, zerfetzt.

Dem Kettenmann ist das brennende Seil durch-

gerissen, er fiel auf den Kopf.

OB MAN SCHON WÄHREND DES FALLENS VOR SCHRECK STIRBT?

Meine Schwester und mein Vater sind auch schon abgestürzt, sie von der Stange, die mein Vater auf der Stirn balancierte, und er vom Hochseil.

Sie sind aber nicht gestorben und haben weitergemacht.

Und wieso hat meine Mutter Angst vor dem Fliegen, wenn sie von Beruf an den Haaren hängt?

Vor einem Abflug betrinkt sie sich, bekreuzigt sich,  bittet um Entschuldigung und sagt, dass wir abstürzen werden, weil ein Flugzeug wegen seines Gewichtes gar nicht fliegen kann.

Mein Vater betrinkt sich auch so, ohne Trinken steigt er gar nicht aufs Seil, weil ihm sonst das Gleich-gewicht fehlt. 

KEIN ZWEIFEL, ES GIBT EINEN GOTT, DENN

FAST ALLE ARTISTEN, OB LANDSLEUTE ODER

FREMDE, BEKREUZIGEN SICH VOR IHREM

AUFTRITT.WAS HÄTTE DAS FÜR EINEN SINN

OHNE GOTT?

Ich werde nur im Film sterben. Wenn ich dann ge-storben bin, geht das Licht aus und ich werde wieder lebendig. Ich werde nie ganz sterben! Ich werde es im Leben länger als hundert Jahre aushalten.

Meine Mutter bekommt den dunklen Blick, wenn ich darüber rede.

Vom Tod zu reden bringt Unglück! sagt sie.

ABER WAS BRINGT DENN KEIN UNGLÜCK!

Fast alles, worüber wir reden, bringt Unglück.

Meine Mutter weint oft und sagt, sei froh, dass du

mich noch hast, später wirst du merken, wie schlimm es ist, allein zu sein auf der Welt.

Da muss ich gar nicht auf später warten.

WENN MEINE MUTTER AN DEN HAAREN HÄNGT, LÄUFT SIE IN DER LUFT.

Ich darf sie nicht ärgern, sonst stürzt sie ab. Ich will nicht lebendig sein, wenn sie tot ist.

Jeden Tag könnte es passieren.

Ich schlafe in den Tag hinein, um die Angst vor ihrem Auftritt abzukürzen, denn wenn ich früh aufstehe, dauert es noch so lange, bis die Vorstellung beginnt.

Solange sie da oben hängt, ist sie nicht mehr meine Mutter, und ich stopfe mir Brot in die Ohren und in den Mund. Wenn sie runterfällt, will ich es nicht hören.

Ich habe mir abgewöhnt zu weinen, weil meine Mutter dann Angst kriegt und auch zu weinen anfängt. Dann muss ich sie trösten. Aber sie lässt sich nicht trösten. Sie weint so lange, bis ich ihr verspreche, dass es mir gut geht. 

DAS SCHÖNSTE

Wenn wir nach der Vorstellung zusammen essen.

Wenn meine Mutter im Bett liegt und tief schläft.

Wenn sie in der Morgendämmerung leise auf-steht, mich zudeckt und zu kochen beginnt.

Der Geruch von verbrannten Hühnerfedern ist das

Zuhause.

Dann schlafe ich ein.

AM SCHÖNSTEN WÄRE ES, WENN MEINE MUTTER IMMER SCHLAFEN WÜRDE.

Meine Schwester ist schön wie ein Mann, sie prügelt sich mit allen Kindern. Sie ist eine Zigeunerin.

ICH WILL AUCH EINE ZIGEUNERIN WERDEN.

Während meine Mutter in der Kuppel an den Haaren hängt, erzählt mir meine Schwester DAS MÄRCHEN VOM KIND, DAS IN DER POLENTA KOCHT, um mich zu beruhigen.

Wenn ich mir vorstelle, wie das Kind in der Polenta kocht und wie weh das tut, muss ich nicht immer daran denken, dass meine Mutter von oben abstürzen könnte, sagt sie.

Aber es nützt nichts. Ich muss immer an den Tod

meiner Mutter denken, um von ihm nicht überrascht zu werden. Ich sehe, wie sie sich mit den Feuerfackeln die Haare in Brand steckt, wie sie brennend auf den Boden stürzt. Und wenn ich mich über sie beuge, zerfällt ihr Gesicht zu Asche.

Ich schreie nicht.

Ich habe meinen Mund weggeworfen.

Ich frage meine Schwester, warum es Gott zulässt,

dass das Kind in der Polenta kocht.

Sie zuckt mit den Achseln.

Frage ich aber oft, lässt sie sich erweichen und

sagt:

Das erzähle ich dir später.

Ich weiss selber, warum das Kind in der Polenta kocht, auch wenn meine Schwester es mir nicht sagen will.

Das Kind versteckt sich im Maissack, weil es Angst hat. Und dann schläft es ein. Die Grossmutter kommt, schüttet den Mais ins heisse Wasser, um für das Kind Polenta zu kochen. Und als das Kind aufwacht, ist es verkocht.

ODER

Die Grossmutter kocht und sagt zum Kind: Pass auf die Polenta auf und rühr mit diesem Löffel, ich geh raus, Holz holen.

Als die Grossmutter draussen ist, spricht die Polenta zum Kind: Ich bin so allein, willst du nicht mit mir spielen?

Und das Kind steigt in den Topf.

ODER

Als das Kind starb, kochte es Gott in der Polenta.

Gott ist ein Koch, er wohnt in der Erde und isst die Toten. Mit seinen grossen Zähnen kann er alle Särge zerbeissen.

AM LIEBSTEN HABE ICH GESCHICHTEN MIT MENSCHEN, DIE ESSEN ODER GEKOCHT WERDEN.

In jeder neuen Stadt grabe ich ein Loch in die Erde vor unserem Wohnwagen, stecke meine Hand hinein, dann meinen Kopf und höre, wie Gott unter der Erde atmet und kaut. Manchmal will ich mich ganz zu ihm hinab-graben, trotz meiner Angst, von ihm gebissen zu werden.

GOTT IST IMMER SEHR HUNGRIG.

Er trinkt auch gerne von meiner Limonade, ich stecke einen Halm in die Erde und gebe ihm zu trinken, damit er meine Mutter beschützt. Und ich lege ihm auch ein wenig vom guten Essen meiner Mutter ins Loch.

 
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