Karl Heinz Zizala hat Krebs (Romanauszug)

23. Oktober

Karl Heinz Zizala hat Krebs. Er trinkt drei Achtel Rot und bricht beinahe zusammen. Wilhelm Rauth bringt ihn nach Hause und wirft ihn durchs Parterrefenster in die Wohnung.
Gegen Mittag kommt er wieder, bestellt ein Viertel Orangensaft gespritzt, leert das Glas in einem Zug, atmet schwer, keucht und verlangt ein neues Achtel Rot. Er sitzt auf dem Barhocker neben Edi Storn und schaut immer wieder herüber. Die Haare - kurz geschnitten; unrasiert; Kopf und Körper - furchtbar schmal: Er sieht aus wie ein Beistrich. Er sagt, sie haben ihn innerhalb von sechs Wochen zweimal aufgeschnitten. "Das ist zuviel", sagt er. Sie haben ihm eine Rippe entfernt, den halben Magen und einen Teil der Speiseröhre: Er ist immer noch sehr schwach. Wenn er von der Klausgasse zum Lokal geht, sagt er, muß er zweimal verschnaufen.

Im Ohrwaschl-Stüberl sind alle sehr verschlossen. Storn lehnt fast jeden Tag an der Budel, beobachtet und hört zu. Er spricht nicht viel.
Helene Koppel, die neue Bedienung, hockt mit einem komischen Kerl am Tisch: geschmacklos gekleidet, schmierig, mit einem geschmacklosen Schnurrbart im Gesicht. Mit ihm geht sie nach Hause und ins Bett. Vorhin hat sie einen Anruf erhalten: Ihr Vater, der an Leukämie leidet, ist zum zweiten Mal operiert worden. Es sieht schlimm aus, sagt sie. Sie sieht schlimm aus und kalt, mit giftig roter Kunstlederjacke und Jeans. Haare wie aus Stroh.
Engelbert Übellacker kommt herein. Ein Eierkopf, eine Brille im verquollenen Gesicht, mit mittelstarken Gläsern; volle Lippen, beinahe sinnliche Lippen; unrasiert. Er ist ein ruhiger, ein angenehmer Kerl. Er hält es zu Hause nicht aus, sagt er - alleine.
Siegwart Wagenroder, der aussieht wie der alte Hemingway: kurzgeschorene weiße Haare, gepflegter weißer Bart. Er ist klein, ein wenig pummelig, hat einen unnatürlich großen Hintern, der nach oben steht, einen Entenpo, und schnupft Red-Bull-Schnupftabak aus Böhmen. Immer wenn er hochzieht, sieht er zu Storn herüber; und dann nickt er und reicht ihm die kleine rote Dose.
Wagenroder ist besoffen. Er hat die Nacht über getrunken, die ganze Koppstraße entlang. Sein dicker Hintern verwandelt sich von einem Entenpo in einen Hängearsch und zeigt gefährlich nach unten. Er fällt vom Hocker. Langsam neigt er sich zurück; es sieht aus wie in Zeitlupe: der Arsch voran, der Barhocker unter dem Arsch und schließlich der fette Wagenroder - und das alles landet ganz sachte auf dem Steinboden des Ohrwaschl-Stüberls.

Mit einer Akademie der Wissenschaften bezahlt Storn sein Bier, nickt Richtung Helene Koppel und tritt auf die Straße.
In der Wohnung klappert den restlichen Tag und die halbe Nacht eine altmodische Olivetti-Schreibmaschine.

... eine Stadt - wieder eine Stadt

Wir saßen auf dem Rücksitz des grünen Citroen und fuhren den Neubaugürtel entlang. Sie hatten uns am Westbahnhof abgeholt: Meine Schwester und ihr Freund Damian warteten auf Bahnsteig sieben; Damian gaben wir die Hand, Pauline fielen wir in die Arme. Die Reise hatte ein Ende genommen. Keiner von uns beiden glaubte daran. Christelle dachte, es sei nur etwas ganz Neues, es sei ein Zwischenstop; wir würden andere Leute kennenlernen und sie ein neues Land, eine Stadt - wieder eine Stadt.
Am Lerchenfelder Gürtel bog der Wagen links ein in die Thaliastraße. Es war das Haus Nummer zwei. Damian fand eine Lücke und parkte. Bevor wir durchs Haustor traten und hochstiegen in den dritten Stock, hievte ich unseren Seesack auf die Schultern.

Pauline klingelte. Friedrich öffnete die Tür. Er ist um einiges gewachsen, dachte ich. Ich war sein Patenonkel, und ich hatte ihm noch nie ein Geschenk gemacht. Ich hatte ihm auch aus der Türkei nichts mitgebracht: Im Seesack steckten nur Bücher und schmutzige Wäsche.
Die Wohnung war groß genug für uns fünf. Friedrich hatte sein eigenes kleines Zimmer: Der Fußboden war übersät mit Bilderbüchern und Stofftieren und Matchbox-Autos und einer Raumstation und einer Festung aus Lego und einer elektrischen Eisenbahn. Ich las ihm eine Gespenstergeschichte vor; danach schlief er ein.
Christelle und ich kriegten das Vorzimmer. Ein schmaler Raum zwischen Hausgang und Stube. Dort befanden sich die Garderobe und die Tür zum Klo. Auf der rechten Seite stand ein breites Sofa an der Wand; eine Frühlingsdecke lag darauf - und dicke, weiche Kopfpolster.
Damian hatte den Eiskasten mit Bier angefüllt; Pauline stellte eine kalte Platte auf den Tisch.
Und Christelle und ich erzählten.

Wir waren per Anhalter von Marmaris über Izmir nach Istanbul gekommen. Dort hatten wir den Zug genommen nach Wien. Es hatte eine Menge Geschichten gegeben in den letzten drei Jahren: Athen, Hania, Paleohora, Gerani, Platanias, wieder Hania, Kato Vouves, Trialonia, Kastelli, Iraklion, wieder Athen, Thessaloniki, Skopje, Sarajevo, Belgrad, Zagreb, Rom, Tuscania, Brindisi, Patras, wieder Kreta, wieder Athen, mit dem Flugzeug nach Paris, Dinan, St. Malo, Rennes, Toulouse, Nimes, Avignon und dann die Türkei. Es hatte eine Menge Geschichten gegeben und auch Städte und eine Menge Dörfer. Alles nur gestreift.

25. Oktober

Heute ist es besonders schlimm. Storn ist um drei aufgewacht, bis halb acht herumgesessen und ist dann hinuntergegangen ins Ohrwaschl-Stüberl. Der Doppelgänger von Erich Fried ist da. Betrunken. Sein Hund ist gestorben. Das kleine Knäuel Fell, das er immer hinter sich hergezogen hat, hat ein schwaches Herz gehabt. "Er war mein Kind", sagt er. "Mein Hund war wie mein Kind." Genau heute vor einem Monat ist der Pudel verreckt. Fried ist betrunken nach Hause getorkelt - wie immer -, und er hat ihn an der Leine hinter sich hergeschleift - wie immer - wie eine Flohdecke. Das war am 25. September. Der Pudel ist vor dem Stiegeneingang zusammengeknickt und liegengeblieben. Fried hat ihn aufgehoben und hochgetragen in die Wohnung. Um halb zwei Uhr morgen.
Am nächsten Tag, erzählt er, stand die Tierkörperverwertung vor der Tür.
"Wie wollen sie ihn denn verwerten?! Wie wollen sie ihn verwerten?!"
"Als Seife", sagt Storn.
Fried versteht das nicht. Er schweigt.
Helene Koppel hat ihm ein Meerschweinchen geschenkt, mit dem Namen Pepi.

"Sie werden als Sargträger gehen"

Kurz vor halb acht läutete der Wecker. Eines dieser batteriebetriebenen Geräte: Der Piepston drang in den Traum von einer Bootsfahrt vor Marmaris, mit Memeth, unserem türkischen Freund.
Ich hatte mir vorgenommen, Arbeit zu suchen - gleich am ersten Tag. Ich blätterte im dicken gelben Branchenverzeichnis. In der Rubrik Schädlingsbekämpfung kreuzte ich ein paar Nummern an. Ratten, Mäuse, Motten, Schaben, Flöhe, Wanzen, Ameisen, Wespen ...

Der Mann hinterm Schreibtisch sagte, er werde mich anrufen.
Nach einer Woche hatte er sich immer noch nicht gemeldet.
Also blätterte ich wieder im dicken gelben Branchenverzeichnis.
Städtische Bestattung Wien.
Dort blieb ich hängen.

Christelle begleitete mich zum Vorstellungsgespräch. Sie wartete beim Branntweiner Ecke Schelleingasse/Favoritenstraße. Ich marschierte die Argentinierstraße hinunter und bog rechts ein in die Goldeggasse. Vor Nummer fünfzehn wehte eine rotweißrote Fahne im Wind.
Im Stiegenhaus gab es einen großen Springbrunnen aus Marmor. Ich hielt inne und betrachtete den Brunnen, bevor ich den Lift in den vierten Stock nahm.

Hier waren die Gänge mit Spannteppich ausgestattet, und es herrschte eine unheimliche Ruhe. Alles war sehr sauber. Ich blieb stehen, lehnte mich an einen Heizkörper und blickte durchs Fenster. Aber ich nahm nichts wahr. Ich war zu verschlafen und mit den Gedanken woanders. Ich sah an mir hinunter: die vertragene Leinenjacke, ein T-Shirt mit Löchern, die alten, ausgewaschenen Jeans, die Socken mit Donald-Duck-Muster, die groben Schuhe, in Paleohora beim Schuhmacher gekauft. In der blankgeputzten Fensterscheibe verschwammen mein Gesicht, die Haare über den Schultern und der Bart, der dreieinhalb Monate alt war.
Personalbüro stand auf dem Schild an der Tür.
Ich klopfte.

Ein langer Mann öffnete. Er war über zwei Meter groß und hatte einen dünnen, langen Hals und einen quaderförmigen Kopf. Er trug einen schäbigen dunkelblauen Anzug, der ihm an Armen und Beinen zu kurz war. Ein zerknitterter Hemdkragen schlotterte um seinen Hals, schmutzig - und eine Krawatte, schwarz mit grauen Tupfern, schlecht gebunden und verrutscht. Er blieb stehen zwischen Tür und Angel, beugte sich weit vor: Er wirkte wie ein Haken.
"Grüß Gott", sagte ich.
"Guten Tag", sagte der Mann.
"Ich würde mich gern vorstellen", sagte ich.
Er musterte mich.
Dann trat er zur Seite und ließ mich ein.

Es war ein geräumiges Büro voller Pflanzen. Hinter dem ersten Schreibtisch saß ein Kerl in meinem Alter, mit dicken Augengläsern, und ordnete Papiere. Hinter dem zweiten lungerte eine Dame im Minirock; sie zuzelte an einem Bleistift. Der lange Mann steuerte den dritten Schreibtisch an, den mittleren, und setzte sich. Er deutete auf einen Sessel. Ich rückte den Sessel zurecht - so, daß wir uns gegenüberhockten.
Ich hatte eine Reihe von Formularen auszufüllen.
Und während ich die Seiten mit Kugelschreiber vollkritzelte, flirtete der lange Mann mit der Dame im Minirock.
Ich reichte ihm die Zettel über den Schreibtisch. Er rückte seine Lesebrille zurecht und studierte das oberste Blatt.

"Ich werde Sie anrufen", sagte er nach einer Weile.
Ich sah auf. Und er sah auf - von den Zetteln, über den Brillenrand, direkt in meine Augen: Es war ein ruhiger, ein freundlicher Blick. "Ich rufe Sie an, sobald eine Stelle frei wird", sagte er.
"Herr Personalchef Senf", fragte ich, "wann werden Sie mich anrufen?"
"Ich sagte schon: Ich rufe Sie an, sobald eine Stelle frei wird. - Es handelt sich hier nämlich um Planposten, wissen Sie?"

Also zückte ich die Geldbörse und zog zwei Tausender heraus.
"Was wollen Sie mit dem Geld?" fragte Senf.
"Das ist alles, was ich habe. - Und ich habe eine Frau", erwiderte ich. "Ich muß es sofort wissen."
"Kommen Sie Montag früh um halb acht", sagte er. "Und schneiden Sie sich die Haare und rasieren Sie sich. - Sie werden als Sargträger gehen."

4. November, halb zwei Uhr in der Früh

Und da ist also Hedy, denkt Storn.
Vor neun Tagen hat er sie kennengelernt. Genauso lange war ich nicht unten, denkt er.
Sie hat beinahe täglich an die Wohnungstür geklopft. Oder kleine Zettel hinterlassen, mit Grüßen darauf, wenn Storn nicht aufgemacht hat.

Heute nacht dreht er durch. Er wacht um halb zwei Uhr in der Früh auf; sie schläft neben ihm. Er liegt wach; er liegt auf dem Rücken und starrt an die Decke. Und Hedy grunzt.
Er kann es nicht mehr ertragen. Er packt sie an der Schulter und schüttelt sie.
Sie murmelt im Traum; sie hebt ganz leicht die Augenlider.
"Scheiße", sagt er. "Scheiße", sagt er mehrmals hintereinander.
Vielleicht sollte ich ihr die Nase abbeißen oder abreißen, denkt er. Oder einschlagen. Brechen, denkt er. Statt dessen weckt er sie endgültig auf.

Sie ist wach. Sie zündet sich eine Zigarette an. Ihre Augen sind verschlafen, ihr Gesicht hängt herunter. Sie sieht ihn nicht an. Sie raucht.
"Verschwinde", sagt er.
Sie atmet ein und bläst aus.
"Hau ab", sagt er.
Sie schnippt die Asche in eine leere Bierdose und grinst.
Es ist nicht auszuhalten, denkt Storn. Sie muß weg, denkt er. Sofort.

Eine Küche, eine Dusche und ein großes, quietschendes Bett

Für den Sommer hatten wir eine eigene kleine Wohnung gefunden. Im achtzehnten Bezirk, in der Schopenhauerstraße. Es war eine Dreißig-Quadratmeter-Wohnung mit rosaroten Wänden. Die Betriebswirtschaftsstudentin, der die Wohnung gehörte, fuhr in die Ferien nach Salzburg. Es gab eine Küche und eine Dusche, ein großes, quietschendes Bett, einen Tisch, zwei Stühle und eine Stellage, vollgestopft mit betriebswirtschaftlichen Büchern, die uns nicht interessierten. Christelle räumte sie weg. Sie schob sie in Stapeln unters Bett, packte ihre eigenen französischen Bücher aus dem Seesack und stellte sie ins Regal. Das Klo war auf dem Gang.
Christelle lag den ganzen Tag im großen, quietschenden Bett und las französische Literatur.

4. November, Abend


Am Abend ist Storn gegen halb zehn Uhr unten. Er sitzt mit Erich Fried am Tisch neben der Tür. Sie sind die einzigen Gäste. Sie reden über Pepi, das Meerschweinchen. Fried erzählt ihm, daß es immer fetter wird und daß er es in der Wohnung herumlaufen läßt. Es gehorcht auch, sagt er. Wenn er "Pepi!" ruft, bleibt es jedesmal stehen und dreht den Kopf. Wenn er ruft: "Pepi, komm her!", dann folgt es, macht auf der Stelle kehrt und trippelt her.
"Wirklich?" sagt Storn. Er hört ihm nur halb zu, weil er in Gedanken versunken ist.
"Ja. Wirklich", sagt Fried. "Und dann macht es Männchen. Und ich sage: Nein, nein! Du brauchst mir nicht schöntun! Nein, sage ich, es gibt nichts! Pepi, hör auf zu betteln!"
"Wirklich?" sagt Storn.
"Wirklich!" ruft Fried. "Du glaubst mir nicht?!" Er dreht sich zur Budel. "Helene!" ruft er hinüber. "Stimmt es, daß Pepi Männchen machen kann?"
"Natürlich stimmt das", erwidert sie. "Pepi kann auch tanzen - wenn er will." Sie schiebt ihre dicken Augengläser nach oben und richtet sich die Strohhaare.
Helene Koppel muß es wissen, denkt Storn. Und stürzt Hals über Kopf in seine zwei Seelen zurück.

Nach einer Weile kommt Hedy zur Tür herein. Sie grüßt Helene Koppel; sie grüßt Fried besonders herzlich; Storn sieht sie nicht einmal an, sie setzt sich, lacht und bestellt Bier.
Sie lehnt neben Fried auf der abgeschabten Polsterbank. Dahinter ist das große Fenster. "Wo ist Pepi?" fragt sie.
"Oh! Der ist zu Hause", antwortet Fried. Er nuschelt.

Und dann sprudelt es aus ihr heraus: Sie fuchtelt mit beiden Armen, mit den langen Spinnenfingern vor Frieds Gesicht.
Sie sollte Musikerin werden, denkt Storn. Sie hat Finger für eine Gitarre.
Und sie spielt nur, denkt er. Fried ist ihr völlig gleichgültig. Angewidert trinkt er Bier, stellt die Flasche zurück.
"Was macht Pepi?" fragt sie.
"Oh!" Fried trinkt und hustet. "Er wird immer fetter. Ich lasse ihn in der Wohnung herumlaufen. Er gehorcht auch. Wenn ich Pepi rufe, bleibt er jedesmal stehen und dreht den Kopf ..."
Storn sitzt schräg gegenüber.
Sie flirtet mit Fried. Dabei wird sie immer deutlicher. Eine Hand liegt auf seinem Oberschenkel. Er wirkt verwirrt und ängstlich. Er hat noch nicht genug getrunken.

Das ändert sich. Bald bestellt er Tequila für beide. Sie saugt an der Zitronenscheibe: Die Lippen glitzern vom Saft. Sie schmiert darüber; und hinterher leckt sie sich die Fingerspitzen sauber und betrachtet Storn. Er schaut an ihr vorbei, an Fried, an allem anderen vorbei, irgendwo auf einen Punkt zwischen den beiden Erdnußautomaten und dem Brett vor seinem Hirn.
Er drückt sich ganz nah an die Wand. Dahinter ist der schmale Raum mit der Musicbox und dem Dartautomaten. Rechts geht es aufs Klo. Sie ist betrunken. Er lächelt und prostet Fried zu. Sie stoßen an; Fried fragt, wie es ihm geht, was er so macht, und Storn sagt: "Immer dasselbe" und daß der Abfluß im Badezimmer schon wieder verstopft ist und die Waschmaschine nicht funktioniert.

Nach einer Weile ruft Fried "Zahlen"! in Richtung Budel.
"Zahlen?" fragt Hedy. Verwundert. Sie nimmt die Hand von seinem Schenkel.
"Was hast du vor?" fragt Storn.
"Ich bin müde." Er trinkt den letzten Schluck und gähnt, steht auf - mühselig ein wenig -, wackelt auf die Budel zu und hält sich daran fest. Umständlich wurstelt er das Portemonnaie aus der Gesäßtasche. Er gibt reichlich Trinkgeld. Zum Abschied drückt er Hedy einen Kuß auf die Hand, zwinkert Storn zu und verschwindet. Die Tür des Ohrwaschl-Stüberls steht offen.

Die Musicbox hat sich ausgeschaltet. Helene Koppel sitzt auf einem Hocker und liest das Boulevardblatt der Stadt: Man vernimmt nur ein Schmatzen, wenn sie den rechten Zeigefinger anfeuchtet, und das Rascheln von billigem Papier, wenn sie umblättert.
Storn blickt geradeaus, auf die Garderobe, die leer ist - bis auf einen verstaubten Hut und einen geschmacklosen grün-weißen Schal. Neben sich bemerkt er, wie Hedy die Zigarettenschachtel öffnet, einen Stengel herausfischt, das Feuerzeug von der Tischplatte nimmt und am Rädchen dreht. Sie atmet ein und aus.

Eine halbe Stunde vergeht. Niemand spricht; kein Mensch betritt das Lokal. Storn überlegt, ob er eine Münze in die Musicbox stecken soll. Später besinnt er sich und denkt: Nein! Mit Fleiß denkt er: Nein! Genauso ruhig, wie es jetzt ist, soll es bleiben. Und: Hoffentlich kommt jetzt niemand, denkt er, und zerstört diese Stille, die ihm bereits Schmerzen bereitet. Es soll still sein bis zur Unerträglichkeit.
Die Flasche Bier geht zu Ende. "Helene!" ruft er. Aber er bewegt den Kopf um keinen Millimeter.
Helene Koppel versteht. Er hört die Glastür des Eiskastens auf- und zuschnappen, den Flaschenöffner kratzen am Hals und ein Ploppen. Er hört ihre Stöckelschuhe auf dem Steinboden, die tippeln und immer lauter werden, und schließlich sieht er ihren Arm mit der Flasche und den Pfirsichbusen, der sich über ihn beugt.

Anderthalb Stunden sind verstrichen. Bald ist es zwei Uhr, und Helene Koppel wird zusperren. Er dreht sich ein wenig nach rechts. Aus dem Augenwinkel sieht er, daß Hedy dasselbe tut - nach links. Sie blicken sich an, für Sekunden. Storn ist kurzsichtig, aber diesmal sieht er haarscharf.
Er bezahlt, steht auf und geht. Mehr nicht.

Draußen - als er auf der Koppstraße Richtung Supermarkt trottet - bewegt er sich seltsam steif. Gott sei Dank ist es Nacht, denkt er. Gott sei Dank ist es ruhig. Er kommt an den Plastikkisten mit dem alten Brot vorbei und biegt nach links ein in die Brüßlgasse.

Auf Höhe der Herbststraße bemerkt er sie. Er hört keine Schritte hinter sich, er riecht kein Parfum. Aber er spürt sie.
Er geht weiter. Er dreht sich nicht um.
Bis er den Schlag kriegt.
Ein Schlag von hinten, mit der Handtasche. Ein harter Gegenstand - vermutlich ihre Serviererin-Geldbörse oder das Handy - streckt ihn beinahe zu Boden.

Er stellt er ihr ein Bein und setzt sich auf sie. Auf ihrem Bauch hockt er und drückt ihre Arme nach unten. Sie kreischt. Sie rammt ihm beide Knie in den Buckel. "Sei still!" zischt Storn. "Sei endlich ruhig!" Den Unterschenkel preßt er auf ihren rechten Arm und die flache Hand auf den Mund. Sie atmet heftig durch die Nase. Sie liegt auf dem Trottoir - und er ist über ihr, und sie kann sich nicht wehren. Da tut sie ihm leid.
Er steht auf und klopft sich den Staub aus den Kleidern. Er schaut sich um. Keine Passanten, kein Verkehr auf der Herbststraße. Weiter vorne sieht er die Leuchtreklame der Trafik und schräg gegenüber die Post.
Er blickt nach oben. Es ist eine helle Nacht, ein Haufen Sterne. Über den Dächern schimmert ein schwacher Mond. Und er versucht, anzukämpfen gegen das Wasser in seinen Augen: Er wischt nicht darüber. Er kann an nichts denken.

Sie hat sich aufgerappelt und attackiert ihn mit den Fäusten. Sie drischt auf ihn ein: Er wehrt sich nicht. "Schlag!" sagt er. "Schlag!" - "Na los!" sagt er. Er ist zu Boden gegangen, und sie prügelt; sie hat sich selbst vergessen, während sie prügelt. Büschelweise reißt sie ihm die Haare aus. Er liegt auf dem Rücken und dreht den Kopf zur Seite. Die Augen schließt er. Mit ihren kleinen Fäusten schlägt sie auf ihn ein. "Du Arschloch! Du Arschloch! Du Arschloch!" brüllt sie in einem fort.
Dann fällt sie auf ihn herab, legt ihr nasses Gesicht auf seines und umklammert ihn.
Eine Viertelstunde liegen sie auf der Herbststraße. Und keiner kommt vorbei.

Zwei entwertete Kurzstreckenfahrscheine

Am Montag stand ich zeitig auf. Der Schlaf war ohne Traum gewesen: Der Piepston hatte nichts zerstört. Ich drückte den Knopf auf dem Wecker und küßte Christelles linke Schulter. Sie seufzte, murmelte etwas im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite. Ich küßte ihre Lippen und zog die Decke hoch: Ich wickelte sie ein. Dann trat ich in die Küche und betrachtete mein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken.
Gestern abend hatte mir Christelle die Haare gekürzt auf einen Zentimeter - und den Bart abrasiert. Ich wirkte völlig verändert: Mir kam es vor, als hätte ich einen winzig kleinen Kopf. Ich wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, putzte die Zähne und zog mich an.

Zuerst fuhr ich mit der Straßenbahn und dann mit der U-Bahn. Ich mußte dreimal umsteigen, bevor mich am Südtiroler Platz die Rolltreppe nach oben zog. In der Goldeggasse nahm ich den Lift in den vierten Stock.

"Herr Ruß wird Sie einschulen", sagte Personalchef Senf. Er griff nach dem Telefonhörer: "Schicken Sie mir Herrn Ruß herüber", sprach er in die Muschel.
Es dauerte ein paar Minuten, da klopfte es an die Tür, und Ruß trat ein. Er war ein dicker Mann Mitte fünfzig und keuchte. Er trug ein hellbraunes Sakko, schwarze Bügelfaltenhosen und eine Tasche aus schwarzem Stoff. "Guten Morgen", grüßte er - mit einer Stimme, die zu seinem Namen paßte.
"Wir haben einen neuen Einschuler", sagte Senf. "Seien Sie so freundlich und begleiten sie den jungen Mann in die Schneiderei."

In der Schneiderei bekam ich schwarze Bügelfaltenhosen - die gleichen, wie Ruß sie trug -, einen schwarzen Talar mit silbernen Streifen, einen grauen Arbeitsmantel, robustes schwarzes Schuhwerk, eine Sargträgerkappe und schwarze Lederhandschuhe. Der Schneider stopfte alles in eine Tasche aus schwarzem Stoff.
Anschließend machten wir uns auf den Weg zum Ottakringer Friedhof.

An jenem Montagmorgen, als ich die Beisetzkammer betrat, sah ich den ersten Kindersarg meines Lebens. Das Kistchen schaute irgendwie unwirklich aus. Das Holz war mit verziertem Silberpapier überzogen, und man konnte den kleinen Sarg bequem tragen, in der Armbeuge - fast so, wie man eine Schuhschachtel hält. Es war ein seltsames Gefühl, ein traurig düsteres, das tote Kind auf die Tumba zu stellen. Im Sargträgerraum fragte ich Ruß, woran das Kind gestorben sei. Er kaute an einem Brot mit Quargelaufstrich, stank aus dem Mund und zuckte mit den Achseln. Er wisse es nicht, sagte er.

Das Begräbnis war auf zwölf Uhr angesetzt; mir war mulmig zumute den ganzen Vormittag über.
"Trägst du den Sarg? Ich trage die Blumen", sagte ich zu Ruß gegen Mittag.
"Kommt nicht in Frage", erwiderte er. "Du wirst das jetzt lernen."
Wir saßen auf der Mauer unter der wunderschönen Trauerweide. Wegen der Hitze knöpften wir die Talare auf. Ich trug das Urnengestell über dem offenen Talar und ein weißes T-Shirt darunter; Ruß trug nichts darunter: Man sah seinen fetten, blassen Bauch, der weit über den Hosenbund ragte, und darüber eine dicke Goldkette mit einem geschmacklosen klobigen Anhänger, der im Brusthaar versank.

Es gab nur wenige Trauergäste. Eine junge Mutter, einen jungen Vater, Großeltern und drei weitere Personen - Verwandte oder Nachbarn vielleicht.
Ruß nahm Haltung an und schritt in die Aufbahrungshalle.
Er kam zurück, mit einem mittelgroßen Bukett auf dem rechten Unterarm.
Jetzt war ich an der Reihe. Ich stellte mich hinter ihn; er sagte ganz leise: "Links", und wir marschierten im Gleichschritt hinein. Ich senkte den Kopf, ich sah auf den Läufer und auf Ruß' Hosen, wie sie um die schwarzbesockten Knöchel flatterten; ich hörte das Schaben seiner Halbschuhe auf dem Teppichboden.
Er hatte die Tumba erreicht, senkte den Kopf vor der kleinen silbernen Kiste und hob sie mitsamt dem weißen Bahrtuch hoch. Dann drehte er sich um und stellte den Sarg behutsam auf das Urnengestell. Ich verneigte mich und schritt langsam nach draußen.

Als ich in die Sonne trat, wunderte ich mich, daß die Trauergäste so gefaßt waren. Die junge Frau blinzelte mich an - und der junge Mann: Die Blicke waren kühl; keine Spur von Kummer.
Hubert Dutl, der Totengräber, schaltete die Totenglocke ein.
Der Zeremonienmeister verneigte sich.

Am Grab übergab ich Dutl das Kind. Er war ein grobschlächtiger Mann, ein Alkoholkranker mit einem breiten Brustkorb, Affenpranken und einer derben Wiener Sprache. Wie sein eigenes totes Kind nahm er den kleinen Sarg: Seine Augen waren feucht.
Zoran Turcovic - der jugoslawische Kollege - stand im offenen Grab. Und Dutl, der um zwölf Uhr mittag schon schwer betrunken war, reichte ihm den Kindersarg hinab - ganz sachte -, bevor er zur Seite trat, um Platz zu machen für die Angehörigen.

"Komm", sagte Ruß.
Wir stellten uns auf - zehn Meter vom Grab entfernt.
Die junge Mutter und der junge Vater warfen ein Schäuflein Erde auf den Sarg. Nun weinten die beiden leise. Und die Großeltern, die Verwandten oder Nachbarn oder wer auch immer sie waren - sie alle stiegen über die Holztreppe, die aussah wie eine große Hühnerleiter: Ihre Köpfe baumelten an den Hälsen, sie gingen sehr langsam; sie kamen direkt auf uns zu.
Ruß nahm Haltung an. Am liebsten wäre ich überhaupt nicht dortgewesen; am liebsten wäre ich jetzt zu Hause gesessen, zusammen mit Christelle, und hätte Musik gehört oder hätte mir irgendeinen Film angesehen oder hätte irgend etwas anderes gemacht. Es war unvorstellbar heiß im Sommer neunzehnhundertneunzig. Das Wasser rann mir den Buckel hinunter.

Ruß holte tief Luft.
Die junge Mutter und der junge Vater blieben stehen: Die Tränen waren getrocknet.
Der Mann überreichte Ruß ein Kuvert und nickte. Sie entfernten sich.

Als Ruß das Kuvert öffnete im Sargträgerraum, waren wir beide gespannt.
In dem Kuvert steckten zwei entwertete Kurzstreckenfahrscheine.

Zitate der Rede im üblichen Rahmen sind möglich und honorarfrei. Die Verwendung von weiteren Ausschnitten müssen mit dem Verfasser, dem Tagungsbüro oder dem Piper-Verlag geklärt werden.

© 2000 ORF Landesstudio Kärnten.


© 01.07.2000