El Examen
Martin Amanshauser

Von den orangefarbenen Kugeln träume ich oft. Zum Beispiel will ich an einem hellblauen Morgen eine schräge Gasse in der Genfer Innenstadt hinaufsteigen. Da rollt eine Kugel auf mich zu, überlebensgroß, sie nimmt den gesamten Raum ein, ich drücke mich in einen Hauseingang, doch die Wände sind aus Gummi und katapultieren mich zurück in die Mitte der Gasse, kein Fluchtweg, die Kugel nimmt die Gesichtszüge von Professor Varela an und rollt mir grässlich über Schädel, Schultern, Brüste, Beine, Zehen, innerhalb von Sekunden bin ich flach wie die Zeichentrickkatze, die einem knallorangenen Bagger in die Quere gekommen ist. Hoch in der Luft hängen die Wolken wie am Kleiderständer. Von irgendwoher ertönt Gekicher, junge europäische Mütter schieben ihre tief in die Kinderwägen geschraubten Babys vorbei.

Orangefarbene Kugeln haben auch in meiner Wirklichkeit existiert, harmlose Gebilde, die im Sechsmonatsrhythmus über mein Schicksal entschieden: die Prüfungskugeln von El Examen in Valencia. Sie ähneln jenen glatten Bällen, die Esoteriker gerne über ihre Handflächen laufen lassen, und von denen gesagt wird, sie würden den Blutdruck senken, den man durch Dope jahrelang mühevoll in die Höhe getrieben hat.

Auf jeder Prüfungskugel ist eine schwarze Nummer eingraviert, jede spielt ihren Part im mörderischen El Examen, das an zwei Vormittagen stattfindet. Es gibt 180 Kugeln, den 180 Themengebieten entsprechend und vielleicht auch den 180 Albträumen, die sie verursachen. Wie geklonte Himmelskörper liegen sie auf einem Tablett, das Professor Varela, erstens Vorstand Des Rechtswissenschaftlichen Instituts Der Universität Valencia und zweitens Glatziger Mann Der Mich Gerne Gebumst Hätte, von zwei Assistenten in den Saal tragen lässt. Die Kugeln werden in einen blauen Polyestersack geräumt und durchgemischt. Dann zieht einer der Studenten zwei Kugeln: die beiden Themen für den ersten Vormittag.
"Die Ziehung hat die Zahlen 109 und 157 ergeben", ruft Varela mit einer Stimme aus Blech, "Sie haben fünf Stunden Zeit für die Beantwortung der Fragen Nummer 109 und 157!"

Am zweiten Vormittag wiederholt sich die Prozedur - zwei weitere Kugeln werden gezogen.
Das Knifflige daran ist: man muss alle vier Fragen korrekt beantworten. Drei einwandfreie Antworten sind wertlos.

Mein Name ist Flora Martinez, ich stamme aus der peruanischen Hafenstadt Pisco an der Mündung des Rio Pisco, 100.000 Einwohner, Fischfang. Pisco heißt auch unser Likörwein, dessen gelbe Trauben auf den Abhängen des Piscotals wachsen. Der durch Branntwein verstärkte Alkoholgehalt stoppt die Gärung und erhält, ähnlich wie beim Porto oder beim Madeira, die Restsüße. Gemixt mit drei Viertel Zitronensaft wird er unter dem Namen Pisco Sour in jeder guten Bar serviert.
Auch wenn jetzt einige Chilenen protestieren: wir Peruaner hatten den Pisco zuerst. Zugegeben, Chile war recht geschickt in der Trademark-frage, in den Fünfziger Jahren tauften sie sogar ein klägliches Dorf namens La Unión in Pisco Elqui um. An den Fakten ändert das nichts: wir produzieren den besten und echtesten Pisco der Welt.

Meine Eltern waren Gemeindebauindios, schlechte Voraussetzungen für ein ambitioniertes Mädchen. Während der Grundschule galt ich als Kanone im Lesen und Schreiben, man verhalf mir zu einem Studium der Rechtswissenschaften. Neun Semester studierte ich an der Universität Lima, demonstrierte gegen Fujimori, legte eine Menge Prüfungen ab, aber ich hasste das konservatives Rechtssystem ebenso wie die peruanischen Prachtstücke, die sich Männer nannten.
Bildung sei das Platin der Armen, hieß es in meiner Jugend, doch für eine anständige Karriere fehlten mir Schnurrbart und Penis. Unter keinen Umständen wollte ich fertig studieren, nach Pisco zurückgehen und dort womöglich diesen netten aufstrebenden Rechtsanwalt kennenlernen, in dessen Büro gerade ein Job frei würde. Ich hätte mich in ihn verliebt, er hätte mich geheiratet und mir am Fließband seiner Liebe drei Babys gemacht, währenddessen er gewohnheitsmäßig mit seinen Klientinnen in Stundenhotels intim geworden wäre. Nach einem halben Jahrzehnt hätte ich mich aufgegeben, ohne Hoffnung auf eine lukrative Scheidung, denn sein Spezialgebiet wäre bestimmt Scheidungsrecht gewesen, und ich, frisch von der Uni, kaum Berufspraxis, ab ins Kindbett, drei Geburten, naiv wie eine Tanzmaus.

Die Stadt Lima war ein lästiges Medikament gegen Schilddrüsenüberfunktion der Psyche. Ein Kollege erzählte mir, die Europäer seien versessen auf unsere bunten Freundschaftsbänder, die sie sich zu aberwitzigen Preisen andrehen ließen. Mit dem Straßenverkauf dieser Armbänder aus Stoff könne man sich das Leben finanzieren. Ich schrieb einen erklärenden Abschiedsbrief nach Pisco, der nichts erklärte, stopfte meinen Koffer mit Bändern voll und kratzte Geld für den billigsten Spanienflug zusammen.
An einem eisigen Februartag 1995 landete ich in Valencia. Meine Kontaktadresse war eine Wohngemeinschaft in der Calle San Pablo, ein Mikrozentrum lateinamerikanischer Studenten.
Ich kriegte das winzige Zimmer eines gutaussehenden Landsmanns namens Federico ab, der gerade sein Studium beendet hatte.
"Was hast du studiert?", fragte ich.
Federico sah ungefähr aus wie der Ehemann, der mich bei meiner Rückkehr in die Heimat erwartete.
"Rechtswissenschaft. Letzte Woche habe ich El Examen bestanden!"
"El Examen?"
Triumphierend hielt er mir eine vom spanischen König ausgestellte Urkunde unter die Nase:
"Die Abschlussprüfung! Wenn du's richtig anpackst, die einfachste Prüfung der Welt!"

Drei Jahre später war ich fünf Mal bei El Examen gescheitert. Die einfachste Prüfung der Welt. Wenn man es richtig anpackt. Doch mit Doktor Varela in die Professorenkammer wollte ich nun wirklich nicht.

Zuerst musste ich Peseten für die Miete beschaffen. Ich versuchte, die Freundschaftsbänder in der Unizone anzubringen. Kein einziger Student schien sich für die beschissenen Dinger zu interessieren. Sie wollten mich ins Kino ausführen oder pfiffen mir schwachsinnig hinterher, mitunter herrschte Stimmung wie im Zentrum von Lima. Vermutlich lag es an meinem Spanisch. Die Kollegen in der San Pablo rieten mir, ordentlich zu sprechen. Valencia sei nicht Pisco. Der Spanier würde nur auf Grammatikfehler warten, um den Lateinamerikaner zur Schnecke zu machen.
Mühsam passte ich mich an. Beim Verkaufsgespräch öffnete ich meinen Mund qualvoll weit. Abends kam ich mir vor wie ein Speicheldrüsenfrosch und hatte kein einziges Freundschaftsband angebracht.
Meine Rettung war Hamilton.

Der homosexuelle irische Geigenspieler bewohnte ein Zimmer in der Calle San Pablo. Geigenspieler war Übertreibung, auf seinem verstimmten Instrument traf er niemals den richtigen Ton.
Als er die Bänder aus meinem Koffer hervorquellen sah, lachte er auf:
"Diese Mode ist vorbei. Inzwischen besitzt jeder Spanier ein Freundschaftsband. Jetzt im Winter tragen sie lange Ärmel, da sieht man die Bänder nicht."
"Winter?", fragte ich, "wir befinden uns im März, mitten im Herbst!"
"Verdammt", Hamilton stockte, "bist du erst gestern geschlüpft? Hier auf der Nordhalbkugel geht der Winter von November bis April."
Mein Gesicht färbte sich rot, dunkelrot, wie ein Feuerwehrauto.

Ich meldete mich auf der ehrwürdigen Universität von Valencia für die Gleichstellungsprüfung in Rechtswissenschaften an.
El Examen bestand aus leichten, schwierigen, umfangreichen, kurzen, exakten und schwammigen Fragen: Gesellschaftsrecht, Patentrecht, Internationales Privatrecht, Medizinrecht, Baurecht, Amtshaftungsrecht, Immaterialgüterrecht. Die 180 Teilgebiete umfassten das gesamte hispanoamerikanische Gesetzbuch. Bei manchen konnte man sich Blasen an die Finger schreiben, für andere lag auf der ganzen Universität und wohl auch auf der ganzen Welt kein Material vor. Bei meinem ersten Versuch, Juni 1995, kalkulierte ich damit, ohne großen Aufwand durchzuschlüpfen. Ich beantwortete drei von vier Fragen: eine zu wenig.
Später legte ich ein Archiv an, das etwa zwei Drittel der Gebiete zufriedenstellend abhandelte. Auch das genügte nicht. Im Februar und im Juni 1996 fiel ich durch. Zu dieser Zeit beschäftigte sich Varela, der Glatzkopf, immer näher mit mir oder besser gesagt mit meinem Pullover. Sein Rauhledersakko war berüchtigt dafür, fast von alleine Körperkontakt zu jungen Studentinnen herzustellen. Februar 1997 scheiterte ich wieder.

Ohne Hamilton wäre ich vor die Hunde gegangen. Er bot mir einen Job an. Während er in der Fußgängerzone die Saiten strich, streckte ich den Passanten einen Hut entgegen und rief:
"Einen kleinen Beitrag für die Musik!"
Diese Tätigkeit nannte er hatting.
Hamilton beherrschte acht melancholische Songs. Weil er nicht gleichzeitig spielen und singen konnte, wechselte er ab. Ich mochte seine tiefe Stimme: I´ve been a wild rover for many a year / And I spent all me money on whiskey and beer.
Die Leute mochten seine Stimme auch. Sie blieben gerade so lange, bis er die Geige zur Hand nahm.
Jeden Abend zogen wir über die Esplanadas der Altstadt, er spielte, ich hattete, der Hut füllte sich mit Münzen. Sie reichten für die Miete und deckten Hamiltons Dopekonsum ab. Ohne seine Sucht wäre er ein wohlhabender Mann gewesen.
"Kiffen entlastet die Leber", sagte er, "Erfolg hat seinen Preis."

Zuerst dachte ich, einer der dünnen Straßenköter sei hinter mir her. Ich trug meine Palette mit den Freundschaftsbändern heim, die Calle San Pablo lag im fettigen Gelb dämmernder Laternen. Da war dieses Schnaufen in meinem Rücken, fast menschlich, vielleicht ein Obdachloser.
"Wenig Geschäft heute", die Stimme des Kerls klang wie ein Pürierstab auf niedrigster Stufe, aber sie hatte etwas seltsam Vertrautes, "ich habe Sie beobachtet."
Eine Kuppel von Biergeruch drang auf mich ein. Ich beschleunigte den Schritt, stieß das Haustor auf, rannte die Stiegen hinauf und warf die Tür hinter mir zu.
Niemand schien zuhause zu sein. Gerade hatte ich die Jacke ausgezogen, da klopfte es zweimal.
"Bitte öffnen Sie."
Es war der Kerl von vorhin.
"Wir kennen uns", jammerte er, "mein Name ist Varela!"
Hinter dem Guckloch huschte tatsächlich eine Glatze hin und her.
"Nur zwei Minuten. Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen."
Ich öffnete. Varela trat ein und mit ihm die Bierwolke.
"Wohnen Sie alleine?"
Ich schwieg.
"Ich würde gern eines von diesen netten Bändern kaufen."
"Nein", ich sah mich nach einem Fluchtweg um, "Sie kommen außerhalb der Geschäftszeiten."
Varelas Mund wurde zu einem gleichschenkeligen Dreieck:
"Besuchen Sie meine Sprechstunde! Es gibt eine Möglichkeit! Andere Studierende haben ebenfalls ..."
Draußen das Geräusch von Schritten, endlich. Die Eingangstür flog auf und ich in Hamiltons Arme.
"Wer ist der?", fragte Hamilton, und im selben Moment stieß sich der besoffene Professor ab und schlüpfte wie eine Ratte ins Stiegenhaus, "der hat's aber eilig."

Neue Leute tauchten in der Calle San Pablo auf und verschwanden. Manche von ihnen schafften El Examen: Glückspilze aus Peru, Chile oder Ecuador, von deren Triumph ich mich fernhielt. Man konnte nicht behaupten, dass etwa die Intelligenten, die Strebsamen oder die Mädchen mit Miniröcken die Prüfung bewältigten. Es waren einfach irgendwelche. Ich glaubte nicht einmal mehr, dass sie alle mit Varela schliefen.

Mittlerweile kannte ich die von den Europäern rings um die San Pablo errichtete Stadt auswendig, und sie drückte auf mein Temperament.
Tausende junge Absolventen bevölkerten die Straßen, tranken zu den Tapas mexikanisches Bier, sangen obszöne Hymnen in ihre celulares hinein, hatten nach Belieben schwarzhaarige Romanzen und setzten hübsche Nachwuchsspanier in die Welt. Ihre taufrischen Gehälter versickerten in warmen Frühlingsnächten. Für mich kam all das nicht in Frage: jedes Billardcafé war El Examen, jede Stirn, die um die Ecke bog, war Varela, katalanische Mütter fuhren mir ihre Kinderwägen gegen die Fersen und ihre festgeschraubten Babys röchelten.
Die Freundschaftsbänder hatte ich eines Nachts zu einem absurden Billigpreis abgegeben, um Drogen für Hamilton zu besorgen. Auch sonst lief nichts nach Wunsch. Der Hauseigentümer verlangte auf einmal das Doppelte, das Bett meines Zimmervorgängers zerbrach in zwei Stücke, als ich mich drauf setzte, es zerdrückte mein Archiv für Prüfungsfragen. Und da war dann noch ein charmanter Wirtschaftsstudent, der mich regelmäßig an der Nase herumführte.
Die spanischen Männer ähneln den Peruanern, mit dem Unterschied, dass sie Stierkampf lieben.

Im Februar 1998 trat ich erneut an. Am ersten Vormittag ignorierte Varela mich vollständig, am zweiten strich er um mich herum wie eine Katze. Er ahnte wohl, dass ich gerade wieder dabei war, mein Standardresultat zu erreichen: drei von vier Fragen korrekt.
Knapp vor der Abgabe der Texte beugte er sich zu mir:
"Kommen Sie bei mir vorbei. Ein einziges Mal! Ich habe die Lösung. Sie werden es keinesfalls bereuen."
Lieber hätte ich mir zwei der orangefarbenen Kugeln als Piercing an die Brustwarzen gehängt. Ich hob nicht einmal den Kopf.

Die Hauptfigur einer Weekly Soap aus dem Anwaltmilieu ruinierte die letzten Reste meiner Selbstachtung: Diese junge, chaotische Anwältin hatte Erfolg und schräge Phantasien, ihre universitäre Qualifikation stand nie zur Debatte, und vom Auftreten her war sie exakt mein Antipode. Mir schien das der richtige Augenblick, das Scheitern meiner Karriere einzugestehen.
Ich begleitete Hamilton: er verbrachte seine Sommermonate immer in der Schweiz. Hatting sei in Genf zehn Mal so einträglich wie in Valencia: silberne Münzen mit vergleichsweise hohem Wert würden unstillbar aus den Brieftaschen der Schweizer kullern.

Ich putzte Gläser im irischen Pub, in dem Hamilton gelegentlich mit einem Gitarristen auf die Bühne ging, und bezog eine Dachwohnung in einem der hundert besetzten Häuser, die sie hier Squat nannten. In den meisten Squats regierten Tyrannen.
Unter mir lebte ein linker Despot namens Lüdi, der mir drohte, Verfehlungen auf die Tagesordnung der Hausgemeinschaftssitzung zu bringen. Nachtbesuche und überhaupt Besuche von mehr als drei Freunden gleichzeitig waren verboten. Die Topfpflanzen wurden aus Suchtgiftgründen von der Hausgemeinschaft kontrolliert. Rauchen durfte man auch nicht: Umweltschutz.

Nach vier Monaten klopfte Lüdi an meine Tür. Ich dürfe ihn nicht falsch verstehen, auch sei er keineswegs Rassist, eine Tatsache, die aus seinem Lebenslauf und all seinen bisherigen Taten hervorginge. Nur solle ich meine Sachen packen und ausziehen:
"Wir haben Schwierigkeiten mit der Behörde, wegen einiger illegaler Indios im Viertel. Außerdem benötige ich die Dachwohnung für Freunde, denen ich sie lange versprochen habe."
Wie lange versprochen? Schon vor der Entdeckung Amerikas?

In meinem nächsten Squat war Rauchen erlaubt, und viel mehr tat ich dort nicht. Für den Lebensunterhalt arbeitete ich als Karussellführerin, schob Behinderte durch den Englischen Garten, putzte die Wohnung des UNO-Beamten Jack Ngobe und läutete sonntags die Glocken einer calvinistischen Kirche. Nachts pressten mich manchmal, immer seltener, die orangefarbenen Kugeln von El Examen gegen Schweizer Qualitätswände. Auch wenn sich der Gedanke an die Wissenschaft anfühlte wie eine Impfung durch die Bauchwand, ich hatte mit ihr abgeschlossen.
Bis ich Federico wieder traf.

Das heißt, ich erkannte ihn kaum. Mein hübscher Vorgänger aus der Calle San Pablo steckte im Anzug eines gemachten Mannes, der an der Tür des UNO-Beamten läutete.
"Zum Teufel, Flora ... was machst du hier?"
"Ich putze die Wohnung von Jack Ngobe. Und du?"
"Ich bin einer von Jack Ngobes Anwälten", sagte Federico und zupfte an seiner Krawatte, "wieso putzt du seine Wohnung. Hast du El Examen nicht geschafft?"
Mir standen Tränen links und rechts der Nase.
"Die einfachste Prüfung der Welt. Wenn man es richtig anpackt! Nur wollte ich nicht mit Varela ins Bett! Du hast ihm wohl brav die Arschbacken nach vorne gelutscht, dem alten Schwein? Hast du das?"

Federico besänftigte mich bei drei oder vier Guinness im irischen Pub und verriet mir die Methode, El Examen zu bestehen. Die einfachste Prüfung der Welt!
"Erinnerst du dich an die orangefarbenen Kugeln auf dem Tablett, die du in den Polyestersack räumst?"
"Natürlich."
"Man muss es richtig anpacken. Während des Einräumens behältst du zwei Kugeln in der Hand - jene Nummern, die du perfekt vorbereitet hast. Bei der Ziehung streckst du die Hand MIT den Kugeln in den Sack - und ziehst in aller Ruhe deine Wunschfragen!"
Am nächsten Morgen hatte ich das Gefühl, es wäre doch die bessere Idee gewesen, einen gerissenen Anwalt wie Federico zu heiraten und drei fette Indiokinder großzuziehen. Möglichst Jungen - sie sind einfach die brutalere Rasse.
Zum Millennium war die Wirklichkeit wie in einem Spaghettiwestern: verrückter als Scheiße. Ein nasser Flaum lag in den Straßen, der erste Schnee seit über achtzig Jahren.
Ich wollte mich auf die Liste der Februar-Prüfung setzen lassen, aber laut der Sekretärin war El Examen gestrichen worden.
"Wir hatten eine Menge Probleme mit euch Lateinamerikanern. Doktor Varela führt keine Prüfungen mehr durch."

Wieder war Hamilton mein Retter. Er trommelte vier Studenten mit niederschmetternder El Examen-Vergangenheit in der Calle San Pablo zusammen, drei Peruaner und der Chilene Rodrigo, dem wir anfangs wegen der Sache mit dem Pisco skeptisch gegenüber standen. Insgesamt waren wir neun Mal an El Examen gescheitert. Hamilton überzeugte uns, dass eine Eingabe beim Rektor gute Chancen habe. Die Abschaffung der Prüfung sei bestimmt ein Alleingang Varelas gewesen, um sich eine Pflicht vom Hals zu schaffen. Immerhin werde in diesem Fall die verfassungsmäßige Gleichbehandlung des Lateinamerikaners missachtet, ein Sektor, auf dem das Königreich Spanien viel aufzuholen hatte.
Hamilton behielt recht: wochenlang knirschten die Schubladen der iberisch-katalanischen Bürokratie, dann legte der Rektor einen allerletzten Termin für El Examen fest. Wir bereiteten vier Fragen vor: 21, 22, 60 und 99. Meine Bauchwand bebte wie in Erwartung einer Injektion.

Im Mai 2000 sah ich Varela das erste Mal seit zwei Jahren. Sein Gehirn und meine Brüste - alle drei - hatten sich offenbar kaum verändert: seine Stielaugen saugten sich an meinem Pullover fest. Die Befürchtung, man habe die orangefarbenen Kugeln in Pension geschickt, erwies sich als unbegründet.
Für die Ziehung hatten wir Rodrigo ausgewählt, der aufgrund seiner chilenischen Herkunft als der Kaltblütigste galt. Beim Einfüllen der Prüfungskugeln in den etwas verstaubten Sack spürte ich Schweißtropfen über meinen Rücken rinnen.
Rodrigo schaffte es.
"Die Ziehung hat die Zahlen 21 und 22 ergeben. Sie haben fünf Stunden Zeit für die Beantwortung der Fragen Nummer 21 und 22!"
Wir schrieben wie batteriebetriebene Hasen.

Ich gab als letzte ab. Varela glotzte meine Aufzeichnungen wie eine Telefonrechnung an. Zugleich schwankte ein Arm in meine Richtung. Einen Moment lang dachte ich, er würde mich an sich ziehen und seine violetten Lippen gegen meinen Mund pressen. Stattdessen verzog er das Gesicht. Ich stürzte frontal in das Loch eines zahnlosen Lächelns.
"Hoffentlich läuft es morgen genau so toll", sagte er, "viel Glück also!"

Varela hatte das System durchschaut, das stand fest. Auch Hamilton konnte mich nicht trösten, ich verbrachte eine grauenhafte Nacht. Es wäre fair gewesen, den anderen mitzuteilen, dass uns der Kerl auf der Spur war. Wir hätten eine neue Strategie zurechtlegen können. Andererseits war Optimismus unsere einzige Chance, mit Ausnahme einer unverhofften Krankheit des Professors.
"Skrupel habe ich wegen Rodrigo: wenn er erwischt wird, ist er dran."
"Sei nicht altmodisch, Flora", sagte Hamilton, "wenn sie euch erwischen, fliegt ihr raus. Alle."
Ein paar Minuten lang überlegte ich ernsthaft, Varelas Wohnort herauszufinden, um nachzusehen, ob er tatsächlich krank geworden war und ihn im Zweifelsfall krank zu machen. Ich dachte an durchschnittene Kniekehlen.

Mit höchstens zwei Stunden Schlaf zwischen den Schultern schleppte ich mich zum zweiten Teil der Prüfung. Die Freunde erwarteten mich angespannt. Die Zahlen 60 und 99 spiegelten sich in ihren Pupillen.
"Mein Gott, wie siehst du denn aus?", fragte Rodrigo.
"Für mich steht einiges auf dem Spiel", flüsterte ich, "streng dich an."
"Für uns alle steht das gleiche auf dem Spiel. 60 und 99!"

Varelas Kniekehlen waren intakt geblieben, die Glatze wie mit Lederfett poliert. Sein scharfer Blick schnitt Falten in Rodrigos graue Wangen, während wir gemeinsam die Prüfungskugeln in den Sack räumten. Rodrigos Hand zitterte bei jedem Griff zum Tablett. Am liebsten hätte ich mich flach auf den Bauch geworfen und einen epileptischen Anfall erfunden.
Dann kam alles anders.

Varela fragte Rodrigo ganz direkt:
"Was haben Sie da in der Hand?"
Rodrigos Mund verformte sich:
"Ich ..."
Ein solches Gesicht hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen, jedenfalls nicht in einem akademischen Zusammenhang. Es war weiß, kahl und irgendwie bedrohlich. In seinen Augen glänzten orangefarbene Flammen und der Atem zischte kalt in das Halbvakuum zwischen seinen Lippen und der Glatze des Professors.
"Zeigen Sie her!"
Langsam öffnete der Chilene seine Hand. Da befinden sich 60 und 99, dachte ich, und alles ist zu Ende, nur - ... die Handfläche war leer.
Varela legte den Kopf schief:
"Nun, ich denke, es ist besser, wir zählen die Kugeln durch. Auf Ihre Mithilfe verzichte ich."

In meinen Ohren zischte die Rückkopplung eines defekten Verstärkers. Wenn das hier glücken würde, sollten die Chilenen ein weltweit verbrieftes Vorrecht auf Pisco bekommen, von mir aus als immerwährendes Monopol!
Varela legte wortlos jede einzelne Kugel auf das Tablett zurück. Das Ergebnis verdross ihn sichtlich: sie waren komplett.
"Aufgrund der außergewöhnlichen Situation scheint es mir angebracht, die Auslosung diesmal meinem Assistenten zu überlassen."
Wir glichen gewaschenen Leichen, die man an Universitätsbänke gelehnt hatte. Die Chance auf eine zufällige Ziehung der Nummern 60 und 99 war bei einer Auswahl von 180 Kugeln minimal.

Der Assistent half Varela beim Füllen des Sacks. Er zog die erste Kugel. Gleich danach die zweite.
"Die Ziehung hat die Zahlen 61 und 100 ergeben. Sie haben fünf Stunden Zeit für die Beantwortung der Fragen Nummer 61 und 100!"
Verdammt, da stimmte was nicht. Das waren tatsächlich die von uns erhofften Zahlen plus eins!
Neben mir spürte ich Rodrigos Drang, zusammenzupacken und den Raum zu verlassen. Zuerst das Scheitern unseres Projekts, und dann noch das Pech, dass die jeweils darauf folgende Zahl gewählt wurde! Warum hatte der idiotische Assistent nicht 60 und 99 gezogen, sondern 61 und 100?

Auf einmal kam mir dieser Gedanke. Ich hob vorsichtig den Kopf. Varela hatte sich auf einen Nebentisch zurückgezogen, er blätterte in irgendwelchen Papierstößen. Mein Gedanke stieg nach oben wie ein Rauchfaden.
60 und 99.
60 und 99! Nicht 61 und 100!
Die Wolke, die mein Kopf in den Raum gesetzt hatte, schwebte einen halben Meter über uns.
"60!", formte ich mit den Lippen, "60 und 99!"
Ich sandte den Befehl aus, und er kam an. Rodrigos Miene hellte sich auf. Es war wohl der süßeste Befehl, den er in seinem Leben erhalten hatte. Wir hatten nun alle den gleichen Gedanken. 60 und 99! Die einzige Möglichkeit: ungerührt jene zwei Fragen zu beantworten, die wir vorbereitet hatten.


Bei der Abgabe der Prüfungsblätter versuchte ich an Varela vorbeizuschauen. Seine linke Hand spielte zerstreut mit einer orangefarbenen Kugel. Er hatte die Hemdsärmel etwas hinaufgekrempelt. Mein Blick fiel auf seinen Unterarm: er trug ein Freundschaftsband. Unsere Augen trafen sich: er lächelte, und ich weiß nicht, wieso mich dieses Lächeln im Magen schmerzte.
"Sie wollten es nicht hören", sagte er leise.

Wir kauften kiloweise Zitronen und leerten die halben Piscovorräte Spaniens. Die Strategie unserer Verteidigung wurde festgelegt: wir würden behaupten, eine Liste von Prüfungsfragen mit falscher Nummerierung von einander kopiert zu haben.

Zwei Wochen danach erhielt jeder von uns per Post das Diplom der Universität Valencia, gezeichnet von König Juan Carlos. Es berechtigte uns, einen akademischen Titel zu führen.

Morgen werde ich die Telefonnummer von Mister Jack Ngobe heraus-suchen, um mit Federico in Kontakt zu treten. Als frischgebackene Juristin ist das keine Schande. Ich spekuliere mit einer Heirat und meinetwegen auch mit drei Kindern. Federico wird mich nicht verlassen. Und wenn schon. Wir teilen das Geheimnis von El Examen. Einem eventuellen Prozess um die Kinder sehe ich zuversichtlich entgegen.

Zitate der Rede im üblichen Rahmen sind möglich und honorarfrei. Die Verwendung von weiteren Ausschnitten müssen mit dem Verfasser, dem Tagungsbüro oder dem Piper-Verlag geklärt werden.

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© 01.07.2000