Mir nichts, dir nichts
Julia Franck


Es klingelt zweimal kurz hintereinander. Vielleicht ist es der Postbote oder die Müllabfuhr, ich drehe den Wasserhahn zu, gehe zum Fenster und schaue hinunter auf die Straße, weit und breit kein Müllwagen und auch kein Briefträger zu sehen, es klingelt wieder, meine Haare sind in Unordnung, ich ziehe ein Hemd über den Kopf, noch hatte ich keine Zeit zu duschen, mir die Nacht vom Körper zu waschen, schon höre ich ein Klopfen, streife den Rock über, der auf dem Küchenboden liegengeblieben ist, es wird Paul sein, der zurückkommt, weil er etwas vergessen hat, sein Feuerzeug oder ein Kleidungsstück, vielleicht ist ihm auf der Straße eingefallen, daß er mich wiedersehen muß, sofort, daß er meine Lippen vermißt und meine Hände, das Klopfen an der Tür wird dringend, vielleicht umfängt ihn noch mein Geruch wie seiner mich, erträgt er den Anblick der vielen fremden Menschen in der U-Bahn nicht, die Vorstellung, daß in seinem Büro nur die tägliche Post wartet, und er hat es sich anders überlegt, möchte den ganzen Tag mit mir zusammen sein. Ich reiße die Tür auf.
Draußen steht Emily, eine Plastiktüte in der einen Hand, eine Zigarette in der anderen.
"Hallo, ich hoffe, ich stör dich nicht?"
"Hast du ... ?" Um ein Haar hätte ich gefragt, ob sie Paul noch auf der Straße getroffen hat, aber ich beiße mir auf die Zunge, weil ich weiß, daß Emily hier nicht stünde, wenn sie ihm begegnet wäre. Sie tritt von einem Bein aufs andere, die Hand mit der Zigarette hält sie gekrümmt, als müsse sie die Glut vor einem Sturm in meinem Treppenhaus schützen.
"Hab ich was?" Fragend schaut sie mich an.
"Hast du geweint?" Ich zögere, Emily in den Arm zu nehmen.
"Paul war die ganze Nacht nicht zu Hause", ihre Stimme ist leise, "ich hab vor seiner Tür gewartet, aber er ist nicht gekommen." Emily schluckt, sie drückt die Zigarette an der Wand des Treppenflurs aus, sie hat keine Zeit, mein Zögern zu bemerken, stürzt auf mich zu, schluchzt und klammert sich an mich, und ich weiß nicht, wie fest ich sie halten soll. Sie zerrt an mir, zerrt an meinem Hemd, ich streiche ihr durch die kurzen, klebrigen Haare, das Hemd rutscht mir von der Schulter, ihre Haare kitzeln, die Wange drückt sich gegen meine nackte Schulter, der Rauch kriecht zu mir, ihr Schluchzen wird leise, immer leiser, so leise, daß ich es nur noch unter meinen Händen fühlen kann, ich spüre ihre Tränen über meine Brust rinnen. Paul hat mich dort geküßt, er hat mich gestreichelt, und seine Lippen haben mit meiner Haut geflüstert. Wir hatten Emily vergessen. Emily würde ihn riechen können, sie würde ihn riechen müssen, seine Spuren an mir entdecken, ihnen folgen, Kuß um Kuß, seine Gegenwart auf meiner Haut wittern. Emily drückt mir ihr Gesicht an den Hals, ich spüre ihren Atem, ein Schnüffeln, ein Schniefen, und sie legt meine Haare zur Seite, wendet sie, wie man einen Stein wendet, unter dem sich ein Nest von Asseln und Würmern befindet, und während die Asseln zu neuen Verstecken krabbeln, mit feinen Beinchen ihren noch frischen oder schon rauhen Panzer in Sicherheit bringen, dem plötzlichen Lichteinfall entfliehen, krümmen sich die Würmer ohne Richtung, winden ihre nackten, lichtempfindlichen Körper, stoßen mit Kopf und Schwanz zugleich in die Erde. Emilys Atem steht, ich drücke sie an mich, damit sie das Atmen nicht vergißt, sie wird Paul unter meinen Haaren riechen, seine Nacktheit, seine Lust - ein Verlangen, das vor wenigen Wochen noch ihr galt, vielleicht, sie wird ahnen, wie wir uns gewunden haben, wie unsere Körper sich ineinanderbissen, wie Paul sein Gesicht in meine Haare preßte, ich meine Beine um seinen Körper schlang, es wird ihr Ekel bereiten - wie der Blick unter einen von der Sonne gewärmten Stein, und ich müßte ihren Ekel ertragen, zuerst, und später ihr Weinen. Emily reibt ihren Kopf an meinem Hals. Ihr Haargel duftet nach Zitrone, es schmiert an mir mit jeder Berührung, am Hals, an meiner Schulter, meinen Haaren - meine Hände sind fettig davon, Emily schüttelt sich, ich spüre ihren Schmerz unter meinen Händen. Aber sie sagt nichts. Und ich beruhige mich, denke mir, daß ihre Nase geschwollen sein wird, daß sie Paul an mir nicht riechen und erst recht nichts wissen kann.
Ich schließe die Tür hinter Emily, mein Blick fällt auf die Schuhe, die am Boden liegen, zwischen denen sich bis eben noch seine befanden. Mit den Augen suche ich den Raum ab - eine Sonnenbrille, ein Feuerzeug, ein Gegenstand, der mir nicht auffällt, aber ihr - ob es die Spur seiner Anwesenheit gibt. Wir gehen an der Tür zum Schlafzimmer vorbei, und meine Hand macht eine unbestimmte Bewegung. Emily faßt meine Hand, ihre Haut klebt an meiner, und sie drückt ihre knochigen kleinen Finger zu, als wolle sie sich meiner versichern, doch meine Hand bleibt reglos in ihrer. Ich gehe Emily voraus in das große Zimmer. Auf dem Tisch steht die Teekanne und daneben eine Tasse, die noch lauwarm sein muß. Ich versuche die zweite Tasse zu entdecken, seine, oder meine, die einer von uns benutzt und irgendwo abgestellt haben wird. Sie steht auf dem Boden neben dem Teppich, und unweit davon liegt ein roter Schnipsel. Es dauert eine Sekunde, bis ich weiß, daß er von der Kondomverpackung stammt. Ich mache einen großen Schritt zur Seite, stelle meinen nackten Fuß auf den Schnipsel und drehe mich zu Emily um. Sie wirft gerade einen Blick in ihre Plastiktüte, vielleicht sucht sie ein Taschentuch, findet aber nichts und legt die Tüte auf den Tisch.
"Du hast deine Tanzschuhe hier vergessen." Ich zeige auf den Beutel, den ich an die Klinke der Zimmertür gehängt habe.
"Nicht so schlimm, ich hab noch welche an der Oper." Emily läßt sich in den Sessel fallen, sie stützt das Gesicht in die Hände. Sie hört mit dem Weinen nicht auf. Ich bücke mich, der Schnipsel klebt an meiner Fußsohle, ich ziehe ihn ab und hebe ihn zusammen mit der Tasse auf, ich mache, daß ich an Emily vorbeikomme, die noch immer nicht aufschaut, eine Hand krallt sich an meinem Rock fest, ihre kleine knochige Hand, der Rock rutscht, wenn sie weiter so zieht, sieht sie, daß ich nichts darunter anhabe, denke ich und frage sie, ob sie einen Tee trinken will. Emily nickt. Ihre Nägel bohren sich in meinen Schenkel. "Ich weiß, daß du ihn nicht magst, ich weiß, ich weiß, du hast ihn von Anfang an nicht gemocht." Sie schluchzt, und ich erinnere mich. Ich mache ihre Hand von meinem Rock los. "Schwarz oder grün?"
"Weiß nicht." Sie schluchzt.
Ich möchte mir die Ohren zuhalten.
In der Küche setze ich Wasser auf und hebe dabei den Arm, ich prüfe, wie mein Schweiß riecht. Paul hat eine selbstgefällige Art, mit mir und Emily spazieren und essen zu gehen. Er gehört zu den Männern, die schon mit zwanzig von Cubareisen Zigarren mitbringen. Ich bin sicher, daß er ihren Geschmack im Spiegel überprüft hat. Ich bin auch sicher, daß er erst nach Emilys Tanzauftritt und in den Augen anderer Männer erkannt hat, daß es sich bei Emily um einen begehrenswerten Menschen handelt. Nicht, weil Emily häßlich wäre, sondern weil Paul zu der Sorte Menschen gehört, die keine eigene Liebe entwickeln können. Ihnen fehlt der Geschmack und der Geruchssinn dafür. Natürlich habe ich Paul nicht gemocht, und im Grunde hasse ich ihn noch immer, das macht den Sex so gut. Auch mich hat er nicht allein entdeckt, Emily hat mich für ihn entdeckt, sie war es, die uns wieder und wieder zusammengebracht hat. Wie ein Scanner hat er mich von oben bis unten abgesucht, hat nachgespürt, was mich zur besten Freundin der besten Tänzerin macht, und ich bin ihm eines Tages entgegengekommen, einfach so, auf der Straße, und habe ihm gesagt, er solle mir folgen. Er gehorchte, dankbar, daß ich mehr zu wissen schien als er. Mein Schweiß riecht nach so einer Begegnung. Emily wird Paul darin nicht erkennen. Gefaßt kehre ich mit dem Tee zurück. Nachdem ich ihr ein Taschentuch gegeben habe, setze ich mich auf die Lehne des Sessels und lege einen Arm um Emilys Schulter. Ein Häuflein Elend, denke ich, als ich ihren schmalen Rücken und die zierlichen Schultern sehe. Ich streiche ihr über den Haaransatz im Nacken, die Haut schimmert, sie ist übersät von hellen und dunklen Leberflecken, der Zitronenduft läßt mich würgen, ich kann das Weiß ihrer Schulterblätter sehen, und selbst diese Knochen erscheinen mir plötzlich zerbrechlich. Ich spüre Wut in mir aufkommen, über ihre Zerbrechlichkeit, über ihr Weinen, es beschämt mich. Dann hocke ich mich vor sie auf den Boden und spreche sie an. "Emily", sage ich, "Emily", ich versuche ihre Hände zu halten, die zittern, mein Blick fällt auf ihre rosa Plastiksandalen, ihre Füße sind dreckig, der Lack ist von den Nägeln geplatzt, und ich frage mich, wie lange sie wohl schon in diesen Schuhen nach Paul sucht. Emily starrt in Richtung ihrer Knie, sieht aber weit durch sie hindurch, wahrscheinlich zu Paul und dem Ort, an dem er sich womöglich aufhält, wenn er - wie letzte Nacht - nicht bei ihr und auch nicht bei sich zu Hause ist.
Ich gieße Emily Tee ein.
"Danke", flüstert Emily, "du bist so lieb zu mir." Sie spitzt ihre Lippen, um sich am Tee nicht zu verbrühen, sie hält die Tasse dicht vor ihren Mund, trinkt aber nicht, sondern sieht mich an. Ratlos? Fragend? Sie sieht mich einfach an.
"Ich kann ja keinen zwingen, mich zu lieben", sagt Emily, klar und ohne jedes Zittern. Ihre Stimme klingt so fest, als habe sie eine Lösung für etwas gefunden, für die Preisfrage einer Quizsendung oder für ihr Dasein, eine Formel, ein Satz, in dem sie mehr Klarheit fühlt als in allen Tränen oder im Warten vor Pauls Wohnungstür.
Ich nicke. Emilys Augen sehen wie gewaschen aus. Fast durchsichtig, außer den schwarzen, kleinen Pupillen. Ihr Blick macht mich unsicher.
"Nein," stimme ich ihr zu, "das kannst du nicht."
Sie nimmt einen Schluck Tee und stellt die Tasse neben meine auf den Tisch.
Ich habe keine Lust, darüber nachzudenken, warum Paul sie nicht liebt. Ich will auch nicht, daß sie es tut.
"Ich hab ihn gefragt, und er hat einfach nein gesagt", Emily nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse. Ihre Beharrlichkeit schmerzt. Sie hat Gänsehaut an den Beinen. "Ist dir kalt?" Emily schüttelt den Kopf, faßt mit einer Hand unter sich und zieht etwas hervor. Sie lächelt ein wenig, sagt, darauf sitze sie schon die ganze Zeit. Wir schauen beide. Ich nehme ihr meinen Slip aus der Hand und spüre ihren Blick. Vielleicht wundert sie sich, warum ich meine Unterwäsche hier rumliegen lasse. Soll sie sich wundern. Es geht sie nichts an. Ich starre auf ihren Bauch. Ich frage mich, seit wann sie einen Ring im Nabel trägt. Es kann kaum länger als ein paar Wochen sein, vorher wäre es mir aufgefallen, beim Schwimmen oder wenn sie mal bei mir schlief.
Emily versucht sich unter meinem Blick das enge Oberteil über den flachen Bauch zu ziehen. Soviel Schmuck für niemand. Ihre Hände sehen aus, als hätten sie tagelang in Eiswasser gelegen, rot sind sie, und an den Gelenken drücken sich die Knochen durch die Haut. Die Adern treten hervor. Sie zerrt an dem Stoff, fast erscheinen ihre kleinen Brustspitzen im Ausschnitt, die Haut ist dort fleckig.
"Schrecklich, so ein Top." Die roten Flecken wandern über Emilys Hals bis in ihr Gesicht, sie läßt den Stoff los, er zieht sich zusammen, rollt sich unter den Brüsten ein wenig ein und läßt den Bauch wieder sehen. Ihre Hände bedecken den Bauch und den Nabel mit dem Ring. "Ich schäm mich damit, heute. Gestern hab ich mich noch nicht geschämt, aber heute." Ihr Hals ist jetzt ganz rot. "Hast du etwas für mich? Irgendwas, das ich drüberziehen könnte?" Sie sieht mich aus ihren gewaschenen Augen an. Ich kann nicht nein sagen. Sie kratzt sich die nackten Beine. An einigen Stellen muß sie geblutet haben. Über dem Stuhl hängt ein Pullover. Pullover stünden mir nicht, hat Paul behauptet, keiner schönen Frau stehe so was, hat er gewußt und ihn mir gestern abend über den Kopf gezogen. Ich solle nackt sein, wenn er komme. Wenn wir uns nicht angefaßt hätten, wäre ich in Lachen ausgebrochen. Ich reiche Emily den Pullover.
"Und für unten auch?" fragt sie, als sie den Pullover anzieht.
Ich gehe nachsehen und bringe ihr eine Jeans. Emily steht in Unterhose vor mir. Ein String-Tanga für Paul. Sie sieht aus wie ein verhungertes Kind, wie eine vom Kinderstrich mit ihren rosa Plateausandalen aus Plastik, mit den blondierten, fettigen Haaren, mit den roten Flecken und der Gänsehaut, ihre Hüften sind so schmal wie die eines Knaben, aber ich habe kein Mitleid, nur wundere ich mich, darüber, daß ich kein Mitleid habe und daß ich sie mal schön fand, und daß ich mich heute zum ersten Mal frage, wie Paul diese Hüften und Beine berührt und dabei Lust empfunden haben kann. Wir haben uns mal gestreichelt, Emily und ich. Es ist ein paar Jahre her, vielleicht war es Sommer, vielleicht auf einem Campingplatz, vielleicht in einem Zelt, vielleicht war es in der Mittagshitze und Kondenswasser tropfte auf uns herab, ich erinnere mich, wie erschrocken ich über die Glätte ihrer Haut war, wie befremdlich und zugleich anziehend mir ihre Brüste und der zierliche Rücken erschienen waren.
"Was ist? Warum siehst du mich so an?" Emily zieht mit beiden Händen an dem Pullover und zieht ihn weiter über Hüfte und Po.
"Nichts, ich war in Gedanken. Mir ist gerade eingefallen, daß ich noch einkaufen muß."
Emily schnappt nach Luft. "Was willst du denn einkaufen? Kann ich mitkommen? Ich meine, ich kann jetzt nicht allein sein, wirklich nicht."
Ich nicke, sie nimmt mir die Jeans aus der Hand, der Pullover rutscht wieder hoch, ihr Hintern ist so klein, daß er in eine Hand passen würde. Auch ihre Hüften habe ich gestreichelt und dann den Hintern angefaßt. Ich mußte ihren Mund ansehen, der in einem seltsamen Gegensatz zu dem zierlichen Körper stand, die volle Oberlippe wölbte sich ein wenig vor, ich näherte mich ihren Lippen und wollte sie küssen, aber Emily hatte die Augen geschlossen, sie sah sehr ernst aus, sie streichelte gleichförmig über meine Taille, hin und her, ohne auch nur eine winzige Verzögerung, ohne Aufenthalt und Beschleunigung, mechanisch. Deshalb habe ich aufgehört, sie zu berühren.
Meine Jeans sind ihr zu weit, aber das macht nichts, sie trägt sie mit Gürtel. Sie schnaubt sich die Nase, ich stehe auf und lege Randy Newman auf, Emily nimmt sich ein neues Taschentuch, ich sehe weg, kann ihren Anblick nicht ertragen, ihre Gegenwart tut mir weh, die geschwollene Nase, ihre verquollenen Augen, der zerstörte Blick, mit dem sie mir mitten ins Gesicht sieht. Meine Haut juckt. Ich schaffe es nicht, ihr zu sagen, daß sie gehen soll. Umsonst bemühe ich mich um einen milden Gesichtsausdruck.
"Ich wollte runter zum Markt." Ich schiebe den Aschenbecher zu ihr hin, ich fürchte, daß sie gleich auf den Boden ascht oder sich zu weit zu mir herüberlehnt.
"Schön, gehen wir zum Markt." Ihre Asche fällt zu Boden, sie versucht ein Lächeln und zieht an der Zigarette.
"Ich muß später noch zu meiner Schwester", lüge ich weiter.
"Gut, ich komm mit", sagt Emily.
"Naja, sicher ist das noch nicht - laß uns erst mal losgehen." Ich schlüpfe in meine Schuhe und öffne schon mal die Tür.
Emily nimmt den Beutel mit ihren Tanzschuhen und die Plastiktüte: "Ich bin soweit."
"Sag mal, was hast'n in der Tüte?"
Emily schaut in die Tüte, als müsse sie sich erst vergewissern, was sie da herumschleppt. "Ein paar Strümpfe, die hat er vergessen, und meine Zahnbürste - ich dachte, ich würde heut nacht bei ihm bleiben. Ich hab ein Geschenk für ihn ..."
"Was?"
"Na, vielleicht braucht er die Strümpfe ..."
Ich sehe Emily fragend an.
"Er hat heute Geburtstag", ergänzt sie.
"Und dafür braucht er Strümpfe?" Ich wußte von keinem Geburtstag.
In der schlabbrigen Jeans sieht Emily nicht mehr wie eine Straßenhure aus, sondern wie eine Jugendliche, die vor ihren Eltern bis zum Eingang eines U-Bahnhofs geflüchtet ist, dort ihr Lager aufschlägt und bettelt. Fehlt nur noch der Hund, denke ich und laufe hinter ihr die Treppe runter.
Vor der Haustür dreht sich Emily um: "Wirklich, ein Glück, daß du da warst. Ich hätte sonst nicht gewußt, wohin mit mir."
Wieder fühle ich die süße Scham, statt einer Antwort streiche ich ihr freundschaftlich durch das zitronenfettige Haar. Auf der Straße greift Emily nach meiner Hand.
"Schau mal", rufe ich, reiße mich von ihrer Hand los, überquere die Straße und zeige in den dreckigen Kanal. Dort schwimmt ein Schwan mit seinen Jungen. Ich höre Emilys Schritte hinter mir, sie stellt sich dicht neben mich ans Geländer, unsere nackten Schultern berühren sich.
"Was glaubst du, bei wem hat Paul übernachtet?"
Sie hält ihr Gesicht so dicht vor meines, daß ich einen Schritt zurücktrete. Ich zucke mit den Schultern, "weiß nicht", sage ich, den Blick auf die Schwäne gerichtet, "ich kenn ihn doch kaum."
Emily folgt meinem Blick. Aus der Ferne höre ich eine Glocke. "Komm, wir müssen, die bauen gleich ab."
Nach wenigen Schritten greift Emily wieder nach meiner Hand, sie macht das von hinten und unten, so daß ich das Gefühl bekomme, ich hielte sie. Paul greift nicht als erstes nach meiner Hand, auch nicht zwischen meine Beine, er streichelt meinen Bauch, anfangs wie den einer Katze, er krault mich von den Seiten her, mein Verdacht, er könne das nur gelernt haben, meine nicht mich, sondern die beste Freundin der besten Tänzerin, weicht der Berührung, dann beginnt er zwischen den Brüsten und tastet sich vor und zurück, er streicht über die Leisten, links und rechts, rund um den Nabel, in seinen Augen sehe ich den Mutwillen, den Betrug, mit dem er meinen erwidert, er küßt auch meinen Nabel, er leckt die Leisten entlang.
"Ich bin sicher, daß Paul jemand Neues hat", unterbricht mich Emily, ihre Hand drückt noch fester zu.
"Kannst du nicht mal an was andres denken?"
Ihre Hand wird weich in meiner. Emily läuft gesenkten Kopfes neben mir her. Paul sagt, er fühle sich mit mir wie ein Hund, aber ich glaube nicht, daß er sich wie ein Hund vorkommt, weil er mit Emilys bester Freundin ins Bett geht. Genau weiß ich es nicht, ich hätte ihn fragen können, aber ich frage ihn nichts. Vielleicht fühlt er sich so, weil ich ihm als Hündin erscheine. Nicht er ist derjenige, der nur lieben kann, was bereits geliebt wird - ich brauchte Emily, um mit Paul zu schlafen. Paul meint unsere Bewegungen, beschließe ich. Er glaubt, ich verlange nur eine Hundeliebe, nicht das vernünftige, das große, menschliche Fühlen voll Treue und Moral.
"Was für'n Geschenk hast du denn?"
Emily lächelt kurz. Ihre Hand wird einen Augenblick locker, aber sie läßt nicht los. Mit der anderen hält sie die Tüte hoch. "Eine Torte, Himbeer-Sahne, selbst gemacht. Meine allererste Torte. Das war Arbeit. Ich mußte zweimal Sahne schlagen, weil sie beim ersten Mal flockig wurde, Butter. Den ganzen Tag hab ich in der Küche gestanden - und dann die Nacht mit dem Ding vor seiner Tür gesessen ..." Emily versucht, über sich selbst zu lachen. Ihre Hand klebt fest in meiner.
Ich frage mich, was Emily von ihm verlangt hat, womit sie ihn in die Flucht geschlagen hat. Paul leckt mich am ganzen Körper, ich lecke ihn, beiße ihn, daß er die Bisse noch an den Oberarmen spürt, wenn er wenig später auf seinen Monitor schaut, Explorer, Photoshop, Papierkorb, und immer noch mich sieht.
"Ich weiß nicht, wie ich aufhören soll, an Paul zu denken." Da ist wieder die Klarheit in Emilys Stimme, diese Festigkeit. Die Distanz zwischen ihrer Stimme und ihrem Blick ist groß.
"Laß es einfach", befehle ich, "denk an eine schöne Reise, an ein gutes Essen, hör auf, von ihm zu sprechen."
"Du kannst ihn nicht leiden."
"Ich kenn ihn doch kaum, Emily." Ich werde ungehalten und lasse ihre Hand fallen.
"Aber du hast ihn doch ein paarmal erlebt. Du hast am Anfang auch gemeint, daß er gut aussieht, daß er schöne Ohren hat ..."
"Weiß ich nicht mehr, keine Ahnung. Hör auf, von ihm zu sprechen, Emily."
Paul hat mich gewarnt. Er hat gesagt, wenn Emily etwas erführe, dann würde sie sterben. Ich lachte, als er das sagte, und er bohrte mir den Zeigefinger in die Brust. Sie dürfe nichts erfahren, vorerst nicht. Mir ist im Augenblick egal, ob Emily stirbt. Ich finde, die beiden übertreiben. Gestern war Emily vielleicht noch meine Freundin, heute ist Paul mein Freund, wenigstens mein Geliebter. Das Große zwischen ihnen war mir von Anfang an unerträglich. Ich möchte Emily loswerden und Paul wiedersehen. Kurz vor der Brücke steht eine Telefonzelle.
"Wart mal kurz", sage ich zu Emily, "ich muß meine Schwester anrufen."
"Jetzt?"
Ich antworte ihr nicht, lasse sie einfach draußen stehen, ziehe die Tür zu und wähle. Ich höre das Klingeln und beobachte, wie Emily in ihrer Plastiktüte wühlt, schließlich die Zigarettenschachtel zum Vorschein bringt und sich eine anzündet. Abwartend schaut sie zu mir in die Zelle.
"Ja?"
"Ich stehe in einer Telefonzelle am Kanal und draußen steht Emily."
"Ja?"
"Sie hat dich die ganze Nacht gesucht."
"Hast du ihr was gesagt?"
"Wie kommst du darauf? Ich weiß nicht, wohin mit ihr."
"Da siehst du mal, wie es mir geht."
"Ich lache."
Wir schweigen. Ich fahre mir mit dem Fingernagel durch die kleine Zahnlücke.
"Bist du noch dran?" fragt er.
"Ja."
"Willst du vorbeikommen?"
Die Tür geht auf. Emily steckt ihre Nase herein, Qualm steigt in meine Augen. Meine Stimme klingt hoch.
"Natürlich will ich. Das weißt du."
Emily sieht mich fragend an, ich drehe ihr den Rücken zu.
"Meine Hand riecht noch nach dir."
"Was?"
"Meine Hand." Ich höre, wie Paul an seiner Hand riecht. Emily schlingt mir den Arm um die Taille und drückt den Kopf gegen meinen Rücken. Ich kann ihm nicht antworten.
"Warum bist du so still?"
Ich schweige.
"Bist du noch dran?"
Ich presse den Hörer ans Ohr, damit Emily nicht seine Stimme erkennt.
"Hallo?"
"Ja." Emily drückt meinen Schenkel zur Seite und stellt ihre Torte auf die schmale Ablage in Kniehöhe. Ein säuerlicher Geruch breitet sich aus. "Soll ich was mitbringen, magst du Kuchen?"
"Nicht nötig, mit süßen Sachen kannst du mich jagen - ich freu mich auf dich."
"Ich mich auch." Ich beiße mir auf die Lippe.
"Wie lang brauchst du denn noch mit Emily?"
"Nicht mehr so lange."
"Ich warte auf dich."
"Dann gegen vier."
"Vier?" höre ich ihn noch fragen, aber ich drücke auf die Gabel. Ich schiebe Emily aus der Zelle.
"Was sagt sie?"
"Wer?"
"Na, deine Schwester?"
"Sie ist krank."
"Krank?"
Auf dem Markt sind mir zu viele Leute, ich schlage Emily vor, in die Brückenklause zu gehen.
Jedes Mal, wenn die Tür aufgeht, schaut Emily hoch. Sie trinkt Alsterwasser und raucht eine nach der anderen. Ich rede nicht mit ihr. Sie schweigt rücksichtsvoll, bis ich nach dem Kellner winke. Ich möchte zahlen.
"Ich glaube, ich hab in letzter Zeit vor allem an mich gedacht." Sie greift über den Tisch nach meiner Hand, sie sieht mich aus ihren hellen Augen an, und ich glaube, in dem rechten Augenwinkel eine Träne zu erkennen. Ich sehe zur Tür.
"Am liebsten wär ich weg, weißt du, einfach weg. Es ist so anstrengend, durch die Gegend zu laufen. Unauffällig verschwinden, das wär das beste. Wenn Selbstmord nicht so kitschig wäre. Es tut mir leid, weißt du, die ganze Sache mit Paul ..."
"Die interessiert mich nicht", ich blicke ihr hart in die Augen, "vielleicht erlebe ich auch Sachen, ja? Denkst du manchmal so weit?"
"Doch, sicher." Ihre Hand schwitzt auf meiner.
Ich nehme ihr meine Hand weg. "Laß endlich meine Hand los, Emily, wirklich." Ich überlege einen Augenblick - ich könnte ihr sagen, wie es ist, mit Paul zu schlafen. Über der Bar hängt eine große Uhr. Es ist kurz vor vier. Der Kellner kommt, er stößt aus Versehen gegen Emilys halbvolles Glas. Tausend kleine Scherben. Emily springt auf. Der Kellner möchte helfen. Er stammelt herum, Emily wischt sich das Alster von den Händen und klopft sich auf die nassen Hosenbeine. Mich überkommt Mitgefühl. Ich lege ihr eine Hand auf die Schulter. Ihr Rücken ist naß, aber nicht vom Alster, eher von ihrem Schweiß, vom Schrecken, von der Sonne, von der durchwachten Nacht, ich packe fester zu, ziehe sie zu mir heran, trotz des Zitronenduftes, für einen Augenblick ist sie meine Freundin, die, mit der ich alles teile, für die ich immer da bin. Ich drücke sie an mich, fahre den Kellner an, er könne sich wenigstens entschuldigen. Und der Kellner gehorcht. Aber Emily hat mich nicht nötig. Ihre Augen leuchten, sie steht aufrecht da und sieht mich an: "Ich gehe jetzt zu Paul, ich bringe ihm mein Geschenk."
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich setze mich hin, Emily zündet sich eine Zigarette an und schaut zu mir herunter. Sie bläst den Rauch durch die Nase.
"Ich hab die letzte Nacht mit jemandem verbracht, Emily, deshalb bin ich, naja, so abwesend."
Emily lächelt mich freundschaftlich an, abwartend und neugierig, ich glaube, sie denkt, jetzt sei alles zwischen uns endlich wieder gut. "Du hast dich verliebt?"
"Ich rede nicht von Liebe, Emily, es muß doch nicht immer gleich alles Liebe sein."
Ich kann mit Emily nicht weitersprechen, von mir aus soll sie sterben. Der Lichteinfall soll sie lähmen, soll sie töten. Weichtier. Sie soll mich nur in Ruhe lassen, ich möchte ihre Freundschaft nicht. Emily zieht ihre Jacke an. Gleich wird sie mir einen Kuß auf die Wange hauchen. Ich beobachte die Tür, sie geht auf und zu, Menschen kommen herein. Ich kann nicht mit Emily um die Wette zu Paul laufen.

Zitate der Rede im üblichen Rahmen sind möglich und honorarfrei. Die Verwendung von weiteren Ausschnitten müssen mit dem Verfasser, dem Tagungsbüro oder dem Piper-Verlag geklärt werden.

© 2000 ORF Landesstudio Kärnten.


© 01.07.2000