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Daniel
Goetsch
Hochdruck im Flachland
Alles
wird gut, dachte ich, wie ich in der Strasse stand und mein Schatten über
den Betonpfeiler geknickt war. Vor mir ein Büroturm, in dem sich
hundert Arbeitsplätze schichteten, und in der Glasfassade spiegelten
sich die Verhältnisse, Wolkenfelder, einen Spalt weit Sonne, ein
weiterer Büroturm, nochmals hundert Waben, dazwischen die Hochstrasse,
auf der sich der Verkehr staute. Ich trug meinen Mantel im Arm, den Frühling
im Kopf, und wusste mich so frei, wie ich es seit dem Studium nicht mehr
gewesen war. Jetzt ein warmes Panini, dazu ein Bier.
Noch lief der Film, der Abstand hielt, und ich wandelte über dem
Grund. Was geschehen war, blieb ohne Folgen, beschwor ich mich, jederzeit
könnte ich es zurückspulen oder löschen. Es tue ihm leid,
hatte York Mayer gesagt, ohne einen Gesichtsmuskel zu bemühen. Das
Telefon hatte geschrillt und er stracks sein Büro durchquert, das
sich mir in dem Moment als pastellfarbener Vorraum einer Todeszelle aufgedrängt
hatte. Gleich drücken sie mich in den Stuhl, stülpen mir den
verkabelten Helm über, dann schliesst sich um mich eine Wand aus
mitleidigen Blicken, oder ich vertausche die Rollen, und York Mayer wird
an den Stuhl geschnallt. Mit leichter Hand hatte er mir zu verstehen gegeben,
ich könne jetzt gehen.
Am Stehtisch ass ich ein Panini mit pikanter Salami, trank mein Mittagspausenbier
und sah den Leuten zu, die um mich herum angeordnet waren. Die Neonbeleuchtung
schärfte ihre Gesichtsschnitte, und für einen Augenblick ahnte
ich, jeder könnte York Mayer sein. Ein Bündel Bedürfnisse,
eine Zielgruppe, nur das zählt. Einer aus der Informatikabteilung
nickte mir zu, und ich machte mich klein hinter dem Stehtisch. Du hast
versagt. Es war ein gewöhnlicher Mittag, und doch anders. Ein Gestell
aus Wirklichkeit, das sich verzog. Eine Matrix, würde York Mayer
sagen. Andererseits. Ich hatte eine Freundin, einen Hochschulabschluss,
eine Zukunft. Ich könnte sie anrufen, dachte ich, meine Nina, die
sich zu Hause für ihre Abschlussprüfung trimmt, Nina, die wie
ich den Erfolg anstrebt, was sonst, und ich stellte sie mir vor, die andere
Hälfte der Kugel, zu der wir an Wochenenden verschmolzen, wenn wir
nicht essen gingen oder uns einen Film anguckten. Diese Kugel. Was hatten
wir davon. Du machst es dir ja doch selbst.
Ich trat aus dem Kaufhaus ins milchige Licht. Die Türme erhoben sich
wie Mahnmale vor der leeren Leinwand, und dort, im vierten Stock, driftete
ein entnervter York Mayer durch eine Art Leben, während ich eben
eine andere Richtung einschlug. Mit leichter Hand hatte er mich und meinen
Widerstand ausgeräumt, ich könne gehen. Wohin, aus dem Büro,
aus dem Sinn, dorthin, wo alles nicht gut, sondern irgendwie ist, an einem
ganz normalen Tag, wo ich meinen geknickten Schatten sehe und doch weiss,
dass ich alleine bin, mit meinen achtundzwanzig Jahren. Ich könnte
Nina anrufen und ihr sagen, da läuft ein Film, der nicht der meinige
ist. Damit würde nur die Vorwurfsmaschine in Gang gesetzt. Du bist
verhockt, bist dein eigener Insasse. Nina, die nach Mandelöl duftet
und im Slip durch die Wohnung stelzt, mit meinem ganzen Körpergewicht
zum Schweigen bringen. Ich könnte ins Kino gehen, dachte ich, oder
mich einfach gehen lassen, entlang dieses ganz normalen Tages, dessen
Sonne belanglos hinter den Wolken gleisste.
Am selben Tag war Schneider, der Chef der städtischen Baupolizei,
um acht Uhr dreissig mit einer Beretta an seinem Arbeitsplatz erschienen
und hatte zwei ihm unterstellte junge Baujuristen sowie einen Ingenieur
und einen Architekten erschossen. Er hatte das mit Blut, Darm und Hirn
verspritzte Büro im Amtshaus verlassen, war in seinen Audi 200 gestiegen
und verschwunden. Im Fernsehen war nun dauernd Schneiders Beamtengesicht
zu sehen, dazu erging der Aufruf der Polizei an die im Grunde gesättigte
Bevölkerung: Aufgepasst, dieser Mann ist durchgedreht.
Acht Uhr dreissig war längst vorbei, und ich schlenderte mit mir
durch das Viertel, das bisher nur aus meinem Arbeitsplatz im vierten Stock
bestanden hatte. Die Häuser, die Konturen waren verwischt. Während
elf Monaten, fünf Mal die Woche, ein Mal jeden Tag hatte ich hier
einen Spurt hingelegt, frisch rasiert, von der Bushaltestelle, an Imbissbuden
und Guckkästen vorbei, stets die drohende Verspätung vor Augen,
auf lange Sicht auch meine Zukunft. Es war nur logisch, dass ich eines
Tages stehen bleiben würde, um zu verschnaufen. Das hätte auch
einem York Mayer einleuchten müssen, der doch wie ich ein Mensch,
ein Artgenosse von mir war. Jetzt, da ich nach einer Telefonzelle suchte,
fielen mir die Hinterhöfe auf, die Zweideutigkeit eines demolierten
Fahrrads, die aufgerissenen Müllsäcke. Ein Kastenwagen parkte
auf dem Gehsteig, und darin warteten drei Polizisten. Es war ein ganz
normaler Tag, die Laufzeit des Lichts ein bisschen verzögert. In
einem Hauseingang kauerte einer über seinem Feuerzeug, die rasche
Einsamkeit des Crackrauchers, und schon war mein Blick vorbeigehuscht.
Nina hatte keine Zeit, ich solle nicht glauben, sie sei jederzeit verfügbar,
sie müsse jetzt auch mal an sich denken. Ich legte den Hörer
auf und wandelte durch die Halle des Billard-Centers, an den mit grünem
Filz überzogenen Tischen vorbei, zum Getränkeautomaten. Hier
war der einzige Ort, wo ich ohne Karte telefonieren konnte. Die Angestellte
hinter der Kasse beachtete mich nicht, und die Halle so ohne Tischbeleuchtung
und ohne das Geräusch der Kugeln erinnerte an einen Konferenzraum.
Hier hatte ich York Mayer oft den Gefallen getan, mich demütigen
zu lassen, indem ich mich als unfähig erwies, eine Kugel ins Loch
zu versenken. Wegen meiner Kurzsichtigkeit konnte ich bei jedem Stoss
nur auf den Zufall hoffen, während York Mayer die Winkel berechnete.
Die Angestellte, die mich hätte kennen müssen, da ich fast jeden
Mittwoch hierher gekommen war, starrte in einen portablen Fernseher, wo
eben ein Mitarbeiter von Schneider gestand, dass er sich so etwas niemals
hätte vorstellen können. Schneider, ein ruhiger, fleissiger
Mensch, ein Architekt und zweifacher Vater, unglaublich. Im Hintergrund
trugen Sanitäter schwarze Plastiksäcke aus dem Amtshaus. Die
Angestellte schüttelte den Kopf, und ich merkte, dass sich eine Art
Empörung hinter ihren Lippen ansammelte, etwas, das sie loswerden
musste, sonst bliebe sie für den Rest ihres Lebens verstopft.
Ich setzte mich in die nächste Strassenbahn. Es war zwei Uhr dreizehn.
Ansichtskarten, mit einem Dunstfilm belegt, glitten vorüber, das
Grossmünster, fotogen aus der Altstadt ragend, dann eine Meile Mittelalter,
die Häuser zu einer einzigen Mauer verpflastert, dann York Mayer,
den Lauf einer Pistole an der Stirn, dann klassizistische Bauten, Hauptsitze
von Banken, Nina, hinter ihrem Wall aus Fachbüchern, dann die Seepromenade,
der chinesische Garten, Schneiders gewissenhafte Gesicht, eine Art Urgesicht,
und im Kopf die Musik zum Film. Du hast versagt. Mir fiel ein, dass York
Mayer immer für Botanik geschwärmt hatte. Wenn man genug vom
Krach der Transaktionen hat, soll man sich mit Bonsaibäumen umgeben,
die wachsen still in ihre Form und schweigen, wenn man sie zurechtstutzt.
Zudem imponierst du damit den Frauen.
Kaum aus der Strassenbahn gestiegen sah ich mich von Pennern umstellt.
Keine Zielgruppe, dachte ich und steuerte den Kiosk an, wo ich eine Zeitung
kaufte, und als wäre es wie immer, schlug ich den Börsenteil
auf. Der Höhenflug der Blue Chips hielt an, auf die Grossen war Verlass,
wie York Mayer immer gepredigt hatte. Mit zwei Fingern täusche ich
eine Beretta vor, ziele zwischen seine Gewinneraugen, in denen ich mich
kein einziges Mal gespiegelt hatte, und schiesse, und sein Kopf wird über
die Stuhllehne nach hinten gerissen, in Zeitlupe, der ganze York Mayer
sackt in sich zusammen, hängt wie erschöpft im Bürostuhl,
unglaublich. Ich blinzelte, als käme ich aus dem Kino und hätte
im Abspann meinen Namen gelesen. Vor mir kreuzten sich zwei Strassenbahnen,
und unter Werbeplakaten, die dich direkt ansprechen, strebten die Passanten
vorwärts. Die einzigen, die keine Ausrichtung hatten, wohl nicht
mal einen Beweggrund, waren diese Penner, die mit billigst Wein versorgt
um die Holzbänke herumstreunten, und ich war froh, dass ich so bin,
wie ich bin. Vor einem Jahr hatte ich das Studium abgeschlossen und als
Jungökonom auf den Arbeitsmarkt gedrängt. Prompt wurde ich von
einem Anlagefonds angeschafft. Sechstausend im Monat, plus Erfolgsprovision
und Ausblick auf eine mir endlos erscheinende Freitreppe. Das war mein
Film. York Mayer hatte stets eine Hand auf meiner Schulter und brachte
mir das Billardspiel bei, die Strategien und das Schönreden, und
schon nach einem Monat bot er mir das Du an, der Chef als Kumpel. Morgens
im Bad zögerte ich, das Zahnpastalächeln mir zuzuordnen, wie
auch den perfekten Scheitel, der immer mehr demjenigen von York Mayer
glich, und ich spürte Ninas Rückzug, merkte, dass sie mich nur
noch berührte, wenn es unvermeidlich war, so zum Beispiel in ihrer
engen Küche. Die ganze Sexualökonomie geriet durcheinander,
in den anfänglichen Stolz mischte sich Befremden, was mich betraf,
und Nina hielt mir meinen Erfolg vor, meinen perfekten Scheitel, eigentlich
alles, und wenn einmal niedere Bedürfnisse in mir zerrten, schluckte
sie Panadol und versteckte sich hinter ihren Fachbüchern. Marktversagen,
hätte York Mayer gespöttelt, aber York Mayer war tot. Langsam
ging ich mir aus dem Blick. Es war ein ganz normaler Tag, beinah wie immer,
und ich stand vor dem Kinoaushang. Zwei Schönlinge in schwarzen Mänteln,
die ihre Pumpactions gegeneinander richten. Zu zweit ist der Hass erträglich.
Dann ein Büroturm in Flammen. Jetzt wünschte ich mir, mit Nina
ins Kino zu gehen und dabei zu sein, wenn ihr Blick auf die Leinwand gebannt
ist und sie sich und ihren Körper vergisst. Andererseits. Nina hatte
eine Vorliebe für chinesische Filme, die auf mich wie Valium wirkten,
was letztlich die Kugelhälften einander nicht näherbrachte.
Den Duft von Vanille und Karibik atmete ich ein und liess mich tragen.
Im Spiegel sah ich, wie die Jungfriseuse mein nasses Haar umgestaltete.
Das Radio spielte erbauliche Büromusik. Die Behandlungsstühle
neben mir waren leer, auf der Ablage bunte Tuben und Behälter sowie
ein Stapel Modezeitschriften. Das Schambein der Jungfriseuse berührte
meinen Ellbogen, vielleicht den Rand gewisser Bedürfnisse, und auf
den weissen Kacheln kringelten sich Haarlocken. Ich dachte kurz an das
Muttermal in meinem Nacken. Ein Blutsturz. Ich schloss die Augen und vernahm
das Summen des Rasierers, als käme es von innen. Im Radio sagte ein
Psychologe, das sei die Tat eines einsamen Menschen, der nichts zu verlieren
hat. Schneider, ein Irrläufer im Flachland. Der Psychologe sagte
etwas von Risiko, und ich dachte, in York Mayers Sprache hiesse das: Chance.
Wie ja auch Probleme nur Herausforderungen sind. Als ich aus dem Friseurladen
trat, zog kalte Luft um meine Ohren. Die Jungfriseuse mit ihrem Knabenhintern
hatte doch ein wenig Dopamin in mir aufgewirbelt. Du hättest zupacken
sollen, nicht verhandeln. Lust, eine Transaktion, mehr nicht. Für
eine Sekunde holte ich mich und York Mayer nah heran, zwei Kratzspuren,
die auseinander laufen. Ein schlechter Film, und ich ging.
Um durch die Spiegelung hindurchzusehen, musste ich ganz nah ans Bogenfenster
treten. Stefan und eine Kollegin deckten die Tische für den Abend.
Stefan hatte die ersten Semester mit mir durchlaufen, sich dann immer
weniger zu den Vorlesungen aufraffen können, bis er sich bloss noch
vergnügt von Nacht zu Nacht gehangelt hatte, und doch vermochte ich
nie an ihm vorbei zu denken. Stefan trug einen weissen Lendenschurz und
rückte das Besteck zurecht, und die Frage liess sich nicht abschütteln,
wie lange einer das aushält. Ich schämte mich ein bisschen.
Das Borsalino mit dem edlen Parkett und der Milchglastheke war der Spielplatz
der Aufstrebenden, ganze Bürogemeinschaften spülten hier nach
Feierabend ihren Stress mit Wodka hinunter und klopften eine Art Fröhlichkeit
aus sich heraus. Stefan hatte mal gesagt, nur dank der Popmusik sind wir
noch romantisch. Ich beobachtete, wie Stefans Kollegin, die insgesamt
nicht unhübsch war, sich am Rücken kratzte, genau dort, wo der
Verschluss des Büstenhalters drückte. Der Pullover rutschte
hoch, und über ihrem Steissbein war eine Tätowierung hingekleckst.
Irgend ein Insekt, und ich glaubte dahinter ein Prinzip zu erkennen. Stefan
reichte mir ein Bier und fragte, was ich so mache. Ich habe freigenommen,
sagte ich. Stefans Gesicht fehlte die Sonne, eine Art Frühling, und
ich war froh, dass ich so bin, wie ich bin. An einem Tisch blätterten
zwei Jungdamen in Modezeitschriften, zwei Seelen, eine Nachfrage. Sie
glichen einander bis auf den Schwung der Augenbrauen. Hinter dem Ausschank
hingen drei Fernseher, und wieder flimmerte Schneiders Beamtengesicht
auf, dreimal der Mann, der durchgedreht ist, und ich fürchtete, von
diesen Drillingen erdrückt zu werden. Stefan fand es komisch, dass
so einer eines Tages einfach durchdreht. Ich nickte. Es war ein ganz normaler
Tag. Nachdem Stefan seiner Kollegin half Teller wegzuräumen, setzte
er sich zu mir. Siehst sehr nach Gefängnis aus mit dieser Frisur,
sagte er. Die beiden Jungdamen blickten nicht einen Augenaufschlag lang
zu uns herüber. Ich bin müde, sagte ich, worauf Stefan meinte,
er verstehe sowieso nicht, warum ich diesen Job mache. Ich sah mich als
Kellner, im weissen Lendenschurz, und wie sich eine entfesselte Nina an
York Mayer heranschmiegt. Du hast versagt. Das Borsalino schien im nachmittäglichen
Licht dahinzudösen, und ich fühlte mich verpflichtet, Stefan
zu fragen, ob er noch Musik mache. Ein Mundwinkel rutschte hoch. Stefan
und ich hatten einmal in gemeinsamen Fantasien geschwelgt, Musiker werden,
Popstars. Nach und nach waren diese Fantasien ausgeblutet, und ich fragte
mich, ob Stefan. Andererseits. Was hatte ich. Ein Abgrund tat sich auf,
Stefan stand unmittelbar davor, während ich den Abgrund im Rücken
hatte. Nicht Abgrund, würde York Mayer sagen, sondern Challenge.
Ich nahm meinen Mantel. Mir ins Genick fragte Stefan, wie es Nina gehe.
Ich glaube gut. Wenn ich mir die Schlüsselszene des Tages vergegenwärtigte,
so sehe ich mich aus der Vogelperspektive, wie ich vor einem dicken York
Mayer stehe, der sich mit dem Griff zum Telefon retten kann, dann seine
Hand. Ich versuche, den Blick wiederzufinden, mit dem ich mich von York
Mayer verabschiedet habe, die Augenhöhe. Ich komme nicht mehr in
mich hinein.
Nach Zigarette stank die Telefonzelle, aus der ich nochmals Nina anrief.
Was ist mit dir los, fragte sie. Ich blickte durch die Scheibe auf die
andere Strassenseite, wo grossflächig ein Mädchen im Bikini
mir zulächelte, wenn du dich bei dieser Mobilfunkgesellschaft anmeldest,
bist du dabei. Ich weiss nicht, sagte ich zum Atemgeräusch. Ein Polizeiwagen
raste am Plakat vorüber. Musst du nicht arbeiten, fragte Nina. Doch,
klar, sagte ich. Das Studiolächeln des Mädchens, es verstellte
den Blick auf die Mündung der Beretta. Meine Beretta, dachte ich.
Andererseits. Du verfälschst, sowie du erinnerst. Ich verliess die
Zelle, bog um den nächsten Häuserblock und blieb vor einem Schaufenster
stehen, mich mit mir und der neuen Frisur zu versöhnen. Einssein.
Jetzt wünschte ich, Nina und ich könnten zusammenziehen, in
eine Wohnung am See, eine Art Liebeszelle, fernab von Bürotürmen
und Transaktionen, wir würden uns wieder auf uns einlassen, meinetwegen
eine Katze anschaffen, und vielleicht könnte ich wieder mit Stefan
Musik machen. Andererseits. Im Schaufenster tanzten die Puppen. So viele
Anlageberichte hast du verfasst, so viele Finanzmarktdaten zu einer zwingenden
Logik verkettet, und hinein Versprechen gedrückt wie Rosinen, den
Tequila-Effekt verschleiert, die Asienkrise beschönigt, und aus der
Zukunft eine rosarote Wolke geblasen, hast in Konferenzräumen gestanden
und mit Junganlegern auf globale Erfolge angestossen, Geld, meine Herren,
Gewinne mitnehmen, du hast York Mayers Sprache gesprochen, der Aktionär
sei König, der Finanzmarkt unser Schlachtfeld, Rendite, Benchmark,
Return on Investment, Amen. Eine S-Bahn donnerte vorüber. Leute warteten
auf dem Bahnsteig. Wenn ich mir vorstellte, wie Nina mit York Mayer, wie
sie vor ihm niederkniet. Ich nahm die Rolltreppe. Der Druck. Du hast versagt.
Die unterirdische Bahnhofsanlage war dem Leben nachgebildet, schwungvoll,
das in Beton ausgekleidete Innere eines Insekts. Ich kämpfte mich
durch. Es war halb fünf, und die ersten Kohorten in den Feierabend
entlassen. Meine Agenda schrieb mir nichts vor. Ich war frei. Ich könnte.
Andererseits. Ich lachte.
Etwas Nettes hatte ich mir ausgedacht. Der Angestellte hatte die Videokassette
bereits auf den Ladentisch gelegt, hinter mir tuschelte ein Jungpaar,
und ich suchte im Mantel nach der Kundenkarte. Ich wollte Nina mit diesem
chinesischen Film überraschen. Leben. Doch meine Karte blieb unauffindbar.
Der Angestellte, dessen Körper vom vielen Fernsehen gestaucht war,
glotzte an mir vorbei. Die Wände voller Kinoplakate, Hochglanzgesichter,
diese Schönheit, die uns irgendwie abgeht. Ich flehte den Angestellten
an, er kenne mich doch, jede Woche holte ich hier einen Film. Seine Schultern
zuckten, als kennte er überhaupt niemanden, und das Jungpaar hinter
mir fing zu drängeln an. So stand ich ohne Film vor der Videothek,
aus der Neonlicht in den späten Nachmittag fiel. Ich atmete gegen
das Adrenalin. Angenommen, du buchst eine Last-Minute-Reise, auf die Malediven,
wieso nicht, du schleppst Nina zum Flughafen, denkst an nichts als an
die ersten Bedürfnisse, eine Art Liebe, du tauchst mit Nina in einen
verlässlichen Sommer, ihr liegt eine Woche am Strand, die Sonne bräunt
euch, ihr schwitzt, und du streichelst an Ninas Schwachstellen herum,
bis das Eis geschmolzen ist, bis ihr euch im Hotelzimmer wieder zur Kugel
verrenkt. Angenommen, eure Blicke senken sich in Versöhnung, ihr
kommt zurück und zieht zusammen, in eine schöne Wohnung, möglichst
am See, ihr seid ehrlich und sprecht euch aus. Angenommen, ihr könnt
euch einrichten, mit der Zeit, ihr schenkt euch was, ihr macht ein Kind,
zwei, drei, und lebt euer Leben bis zum normalen Ende.
Die Frauenstimme drohte zu ersticken, und der Sprecher erklärte,
das sei die Witwe eines von Schneiders Opfern, und diese meinte, sie fühle
sich wie in einem grausamen Film, es sei, als ob es jemand anderem passiert
wäre. Schneiders Audi war in der Nähe der französischen
Grenze gesichtet worden. Die Polizei nahm wohl zurecht an, dass er sich
aus dem Flachland absetzen wolle. Vielleicht, dachte ich, wird Schneider
sich erschiessen. Sich selbst richten, wie sie es nennen. Um mich herum
der Gestank von Bratöl. Der Fleischklumpen hing aufrecht am Spiess
und liess Fett. Im Radio nun wieder beschwingte Feierabendmusik. Der junge
Türke reichte mir den Döner mit derselben Hand, mit der er zuvor
das Geld in die Kasse verstaut hatte. Was für ein Leben, dachte ich
und war froh. Eine Männerrunde besetzte mit ihrem Lärm zwei
Tische, so stellte ich mich zum Zigarettenautomaten. Joghurtsosse tropfte
auf meinen Mantel. Jeder hat seinen York Mayer, dachte ich. Der junge
Türke fragte, ob ich einen Tee möchte. Ich winkte ab.
Über den Dächern dämmerte es, und innert Sekunden war der
Tag ausgeblendet, die Stadt angeknipst, lauter Lichtkrümel zwischen
Hügel und See, wie ich es oft mit Nina gesehen hatte. Ein Hubschrauber
startete vom Dach des Universitätsspitals, die Positionslichter entschwanden,
und ich musste an Schneider denken, der täglich im Amtshaus seinen
Aktenberg abzutragen versucht hatte, bis er eines Tages. Andererseits.
Jeder Mensch wägt Kosten und Nutzen ab, dann handelt er, sagte York
Mayer, auch eine Sozialarbeiterin handelt letztlich nur aus purem Eigennutz,
sie befriedigt ihren Helfertrieb. Aber wenn der Nutzen irgend etwas sein
kann, wandte ich ein, so ist diese Theorie doch sinnlos, sie besagt, dass
jeder handelt, weil er einen Grund dazu hat. York Mayer lachte mir ins
Gesicht. Er dachte eigentlich nicht an eine Sozialarbeiterin.
Mit dem Taxi wollte ich dorthin fahren, wo ich früher mit Nina und
Stefan gute Nächte erlebt hatte, eine Art Geschichte, und ich hatte
gewusst, ich bin. Der Taxifahrer sprach ein zerquetschtes Deutsch, und
ich musste ihm den Weg durchs Industrieviertel erklären. Ich bat
ihn, statt der orientalischen Musik, die ohnehin an meinem Harmoniebedürfnis
vorbeiklang, die Nachrichten einzuschalten. Als Chef der Baupolizei habe
Schneider unter enormem Druck gestanden, der Stadtrat bedauere den Vorfall,
habe sich aber nichts vorzuwerfen. Vier Tote und ein verstörtes Flachland.
Das ist Schneiders Bilanz. Ansonsten gehen die globalen Verhandlungen
weiter, wie auch der Krieg auf dem Balkan, der Dow Jones hat nochmals
zugelegt, alles wird gut. Eine Reihe umnachteter Lagerhäuser zog
vorüber, Umrisse von Industrieanlagen, von Hebekränen und Schloten,
eine Landschaft aus toten Insekten, und plötzlich kamen mir diese
stillgelegten Fabriken trostlos vor, nicht im Sinne von Fehlinvestitionen,
sondern blutleer, von Sinnlosigkeit strotzend. Schneider, immerhin, ist
wer. Das Taxi hielt auf der Höhe eines Gittertors. Der Fahrer entschuldigte
sich, weiss nicht wofür.
Wie damals schimmerte die Leuchtschrift auf den Vorplatz, aber der Türsteher
kannte mich nicht mehr. Ich bezahlte und stieg die enge Treppe hinunter,
Bässe wummerten mir entgegen, verschwitzte Leute rempelten vorbei,
das Schummerlicht liess die Gesichter geschlechtslos erscheinen, eine
einzige Zielgruppe, und ich fühlte mich wie ein Betrüger. Ich
muss jemanden finden, dachte ich, während ich mich zur Theke hindurch
zwängte, jemand, der ein Geheimnis hat. Ich bestellte einen Gin Tonic.
Das Glas phosphoreszierte. Hast du wirklich versagt. Mehrmals glaubte
ich Nina zu sehen, auf der Tanzfläche, wie sie ihren Körper
schlingern lässt, was unmöglich gewesen wäre, denn sie
hatte nur ihre Prüfung im Sinn. Ich räumte mich an den Rand
der Tanzfläche, den schweren Mantel im Arm, im Kopf das Gefängniskino.
Es dreht sich in konzentrischen Kreisen, es schraubt sich höher und
höher, als erzähle dir das Hirn seine eigene Geschichte, und
du ahnst, vom Augenreiben über das Bedienen des Faxgeräts, vom
Lösen des Fahrscheins über die Art, wie du die Hydraulik deines
Bürostuhls steuerst, wie du ihren Hals streichelst, wie du gehst
und denkst, bis in deine Träume hinein folgt alles dem gleichen Prinzip.
Du erkennst das Muster, möchtest dich abstellen, das Geräusch
der Filmspule, es stimmt. Da entdeckte ich Stefan, der ein paar Leute
um sich geschart hatte und mit ihnen lachte, und mir schwante, dass er
noch immer dieses Leben führte, das einem die Zukunft auf den Hinterkopf
projiziert. Andererseits. Was hatte ich. Stefan fragte, was ich hier mache.
Einen Rundgang, versuchte ich zu scherzen. Auf dem Gefängnishof,
wollte ich hinzufügen, aber die Musik und überhaupt. Hier war
ich der Irrläufer. Die Mädchen, die sich in knappen Latexkleidern
verausgabten, schenkten mir nichts, keine Beachtung. Mit dem Mantel im
Arm wirkte ich wie einer, der hergekommen ist, sein nächstes Investitionsobjekt
zu begutachten. Return on Investment, Amen. Das Licht, eben noch zerhackt,
entschwand den Wänden entlang, der Raum verzog sich, und ich wusste
nicht mehr, wieviel Wirklichkeit sich um mich drehte, Tagesreste stoben
umher, die Tanzenden verschwammen zu Schatten, die als Spirale an mir
vorbei sausten und einen Tunnel zurückliessen, und ich machte ein,
zwei Schritte, dorthin, wo ich einen helllichten Ausweg zu erkennen glaubte,
eine Art Aufstieg in die Seligkeit. Es war Stefans blasse Gesicht, das
sich zu mir hin wölbte. Alles klar. Ich nickte, löste mich aus
der Umarmung und ging aufs Klo. Das Neonlicht ernüchterte. Ich schlug
mir Wasser ins Gesicht. Für einen Tag dein Schatten sein. Ich fuhr
mir durchs Stoppelhaar. Als ich wieder an der Bar stand, vor mir die Tanzfläche,
ein Dutzend Ninas im Zwielicht, und links der Käfig, wo die Nacht
zur Tonspur wurde, versuchte ich ein Gesicht herauszufiltern, etwas anderes.
Sie glichen einander. Da wankte Stefans Kollegin durch mein Blickfeld,
und der Rest rückte in den Hintergrund. Dieses Gesicht, das keine
grossen Erwartungen zu haben schien, und dieser Puppenkörper. Stefan
winkte mir. Nochmals einen Gin Tonic. Die Kollegin stützte sich auf
mir ab, und ich fragte, ob sie von der Sache mit Schneider gehört
habe. Sie lachte. Kein Thema um diese Zeit. Ihren Namen verstand ich nicht,
und als wir im Taxi sassen, die Schlafstadt an uns vorbeispulte, gab ich
mich als Musiker aus und legte einen Arm um sie, die im Kopf bloss noch
ein pulveriges Bedürfnis hatte.
Sie wohnte am Stadtrand, in einer Blocksiedlung, die um halb drei Uhr
nachts tot war. Im Lift klemmte sie mein rechtes Knie zwischen ihre Beine,
und wir schmatzten, so wie wir es aus Filmen kannten, und in einer Atempause
sagte sie, ihr sei alles egal. Die Einzimmerwohnung schien keine Geheimnisse
zu bergen. Im Bad tastete ich lange nach dem Lichtschalter. Nein, du bist
kein Versager. Ich stiess gegen einen Haufen schmutziger Wäsche,
sah das ganze Schminkzeug und pinkelte über die Klobrille. Erleichterung.
Sie hatte den Fernseher angemacht, und ich sah meinen Mantel sorgsam ans
Ende der Matratze gebettet. Im zerhackten Schein der Videoclips bückte
sie sich zum Nachttisch und schnupfte. Ich empfand Ekel, doch kaum berührten
sich unsere Beine unter dem Laken, pulste es, stieg der Druck, und ich
knetete an ihrem Körper herum. Da fiel mir die Tätowierung ein.
Ich beugte mich über ihren Hintern. Ein chinesisches Schriftzeichen,
das ich schon mal gesehen hatte. Das kennst du bestimmt von dem Film,
meinte sie. Leben. Ninas Film. Sie drückte mir die Zunge ins Ohr,
und ich fingerte zwischen ihren Schenkeln. Nina hätte sich längst
zusammengerollt. Du denkst nur an dich. Breitwillig winkelte sie die Beine
an, ich aber schaute weg. Bilder von Manhattan. Bürotürme, gelbe
Taxis flitzten vorüber, dazu eine Musik, die mich auf die stillgelegten
Fabriken zurückwarf, und es kam mir vor, als gäbe es nur immer
alles gleichzeitig. Ich zog mir das Kondom über und versuchte mich
einzufädeln. Sie half ein bisschen nach. Niemand war bei Besinnung,
kein Gedanke an die Kugel, keine Stimme ausser Lust, kein Versagen, keine
Angst, während die Videoclips über uns hinwegrauschten. Dann
der Druckabfall. Mit zwei Fingern tastete ich hinunter, damit es nicht
in ihr steckenblieb. Eine Weile lagen wir nebeneinander im Bett, es roch
wie immer, um uns das Schattenspiel und die Musik. Endlich rieselte hinter
meiner Stirn ein wenig Serotonin. Nina fehlte mir, das konnte ich gerade
noch denken, mehr nicht. Wieder in den Tunnel gesperrt, sah mich ins Licht
laufen, eilte mir hinterher, ohne mich einzuholen. Was für ein Tag.
Ein Mann im Anzug stand mit dem Rücken zu mir, ich tippte an seine
Schulter, es war Schneider. Sein Beamtengesicht entkrampfte sich, und
er fragte mich anständig, wie er wieder zurückkomme. Nun ja,
ich wollte ihn genau dasselbe fragen. Der Film riss, und langsam trat
Nina aus dem toten Winkel auf mich zu, ihr Blick war so sehr mit Bedeutung
aufgeladen, dass ich hinter mir bloss noch die Wand spürte. Keine
Sorge. Nina strich über die Reste meiner Frisur. Alles wird gut.
Schneider wurde schliesslich in einer Pension im Burgund aufgespürt.
Er liess sich widerstandslos abführen. Heute arbeitet er als Gärtner
in einer offenen Strafanstalt und spielt ab und an Schach mit dem Gefängnisdirektor.
Schneider hat sich beruhigt.
Zitate der
Rede im üblichen Rahmen sind möglich und honorarfrei. Die Verwendung von
weiteren Ausschnitten müssen mit dem Verfasser, dem Tagungsbüro oder dem
Piper-Verlag geklärt werden.
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