Auszug aus einem langen Prosatext
Georg Klein

Barfuß tappte ich einen langen Gang hinunter; ich wollte ohne weitere Verzögerung in die Tiefen des alten Hallenbades, bis ins Kontor der Firma Hitzik dringen. Ein Hintergrundgefühl, vielleicht das Rauschen der Erfahrung, stimmte mich sicher, daß ich auf diesem letzten Wegstück das Glück auf meine Art erzwingen würde. Ich bog in einen neuen Korridor, die Schwüle nahm zu, die Luft war wie von Dampf geschwängert. Das Wasser, das an den verkalkten Knien der Rohre in Schwaden entwich, kondensierte auf den Wänden, hatte, unter den Estrich sickernd, die Dielen quellen lassen, sammelte sich in den welligen Verwerfungen des Bodens. Bis an die Knöchel sank ich in kalte Lachen. Der blattrig aufgesprungene Putz, die Schimmelkolonien, das Kupfer, Eisen oder Blei der dichtgereihten Rohre, alles vergeudete Aromen, gab salzigen Saft, Gase und feinste Partikel an die Atmosphäre. Das Chlor und seine keimtötenden Bruderstoffe, die mir die Augen tränen machten, hatten den Kampf gegen den Duft der Auflösung wohl längst verloren.
Im Schummerlicht einer von Sickerwasser überschlierten Lampe blieb ich stehen. Wie alle anderen Beleuchtungskörper war sie in ein Körbchen aus starkem Draht gebettet. Ich beugte mich in ihrem Schein und krempelte mir beide Hosenbeine hoch; der Anzug sollte im Endkampf dieses Auftrags keinen Schaden nehmen. Fast war ich froh, daß mir der böse Bademeister Unterwäsche, Hemd und Schuhe weggestohlen hatte. Barfüßig und mit nackter Brust, paßte ich besser in dieses Klima, und mein Geschlecht, das seit dem Moorbad juckende Pickel rahmten, war in der weitgeschnit-tenen Anzughose angenehm luftig aufgehoben. Schwungvoll wollte ich weiterschreiten, da machte mich ein wahres Unding stutzen. In dieser Stadt, die sich gern rühmt und sich noch lieber rühmen läßt, daß ihre Mauern Seltsamstes zu bieten hätten und die auch manche Kuriosität zu bieten weiß, hatte ich nie eine Installation wie diese, eine so widersinnig angebrachte Tür gesehen. Ihr eiserner Türstock, ihre Schwelle und ihr Blatt aus trübem Glas saßen, parallel zum Boden des Korridors, in dessen Decke. Von oben ragte die Klinke in meinen Weg, hing mir, verlockend nah, vor Augen - jedoch entdeckte ich kein Hilfsmittel, kein Höckerchen, nicht einmal eine Kiste, die mir, nach dem Öffnen der Falltür, den Aufstieg in den über mir gelegenen Raum ermöglicht hätte.
Ich trat unter ihr Blatt - es war mannslang, entsprach darin etwa der Höhe einer normalplazierten Tür - und konnte so eine ins Glas geschliffene Inschrift lesen:

Hitzik&Hitzik
Geschäfte aller Art

Das reichte aus, mich, ohne weitere Überlegung, handeln zu lassen. Ich wippte auf die Zehen, griff zu und ließ die Klinke schnappen. Die Tür kam mir, ich hätte es vorhersehen müssen, sofort entgegen. Entriegelt stürzte sie, nur noch gehalten von den Angeln, schräg auf mich nieder, die Klinke schrammte mir über die Stirn, bevor das Aufschwingen an meinem Schädel und meinen verspätet hochgeschnellten Händen sein Ende fand.
Auch ich stand still. Vom Schlag benommen, trat ich nicht unter der herabgekommenen Tür hervor, sondern starrte über den Ärmel meiner Jacke ins trübe Glas, das eingegossene Drähte kreuz und quer verstärkten. Als ich den Kopf bewegte, rutschte mir ein besonderes Fleckchen in den Blick. Gut bohnengroß und klar wie Wasser war eine Blase in die Scheibe eingeschlossen, und durch die Wölbung dieser einem Produktionsfehler entsprungenen Linse sah ich hinauf in einen Raum, der strahlend hell erleuchtet war. Wenn mich nicht alles täuschte, war das Licht zeitgleich mit meinem Unfall aufgeflammt.
Mein Zufallsguckloch ließ mich nicht viel vom nächsten Stockwerk sehen, aber der Blickwinkel war weit genug, mir einen Streifen prächtigen Deckenstucks zu zeigen. In seinem Gips kämpften Figuren. Götter oder Titanen drängten die prallen Muskeln aneinander, verrenkten sich die Glieder mit Ringergriffen und brachten Brust, Haupt und Gesäß in eindrucksvolle Posen. Ich kroch unter der Tür hervor, ihr Glas dröhnte gegen die Wand, und oben in den Gefilden der gesuchten und gefundenen Firma Hitzik erlosch das Licht, so daß ich aus dem Dämmer meines Gangs in nichts als Schwärze gaffte. Der ganze Prunk des eben noch geschauten Bildes, dieser Olymp, dieses Olympia der starken Männer, schien mit dem scheußlich fehlgestimmten Gong vergangen.
Der eigentliche Höhepunkt des Mißgeschicks, eine spezielle Schmach, stand mir jedoch, ohne daß ich es ahnen konnte, noch bevor. Vorsichtig meine Stirn betastend, spürte ich eine wulstförmig angeschwollene Stelle, jedoch kein Blut, und da der Schmerz schon abgeklungen war, glaubte ich mich imstande, die nächste Etage zu erobern. Ich hüpfte hoch, faßte mit beiden Händen den Türstock und wollte mich mit einem Klimmzug nach oben bringen. Aber die simple Turnerübung, die keinen Mann in die Verlegenheiten des Versagens bringen sollte, war nach dem Fasten der Auftragszeit, war nach dem schrecklichen Dürsten der letzten Stunden zu schwer für mich.
Ich zappelte, versuchte mit den nassen Fußsohlen Halt an der herabhängenden Tür zu finden, und selbst wie mir die Kraft zum Strampeln fehlte, ließ ich nicht los, als könnten noch ungeahnte Kräfte in meine lahm werdenden Arme schießen. Statt dessen wurde ich von hinten angepackt. Während sich große, warme Hände um meine Waden schlossen, vernahm ich jenes rasselnde Einverleiben, jenes puffartige Ausstoßen der Luft, das mir an meinem fetten und, wie sich nun zeigen sollte, auch starken Bademeister aufgefallen war. Er stemmte mich mit einem Ruck empor, schon war ich mit dem Kopf im oberen Raum, aber dann hielt er mit dem Heben inne. Sein muskulöser, spürbar starkbehaarter Arm preßte meine Unterschenkel gegen das grobe Netzhemd, sein Bauch klopfte im Rhythmus schneller Atemstöße gegen meine Fersen - und schließlich mußte ich fühlen, daß seine freigewordene andere Hand damit begann, durch den zum Glück sehr dicht gewebten Hosenstoff, tastend, drückend, reibend und kneifend, Kontakt mit meinem Geschlechtsteil aufzunehmen.
So hängend, so gehalten, wußte ich nicht, wie ich weiter nach oben kommen sollte, zugleich war mir der Weg zurück verwehrt. Mit meinen Ellenbogen, die schon auf dem Türstock lagen, schlug ich wie mit gestutzten Flügeln, mit den Beinen, die der Griff des Bademeisters zu einer Flosse aneinander preßte, versuchte ich mich aufzubäumen, jedoch das Zucken der Gesäß- und Schenkelmuskeln verlor schneller an Kraft als das Zappeln eines an Land geworfenen Fisches. Zumindest wollte es den wurstigen Fingern meines Peinigers nicht gelingen, einen der Knöpfe, die meine Hose verschlossen, aus seinem Schlitz zu pulen.
Die Rettung griff, gerade als ich es wagen wollte, mich rücklings über ihn hinabfallen zu lassen, von oben aus der Dunkelheit. Hände packten mein Sakko, Hände fuhren mir unter die Achseln, und zwei sich abwechselnde Männerstimmen schimpften in einer mir unbekannten Sprache und in einem seltsam wehklagenden Ton nach unten, erreichten mit diesem Jammerschmähen, daß mich der Bademeister losließ und sich murrend, mit seinen Holzpantinen durch die Wasserlachen patschend, trollte. Über mir ächzten die unbekannten Helfer. Das Wenige, was noch an Höhe fehlte, um meine Brust über den Türstock zu ziehen, kostete sie ihre ganze Kraft. Zwischen ihr Atemholen zwängten sie Rufe, die mich in meiner Anstrengung befeuern sollten. Und nach und nach verstand ich, was sie mir da entgegenschnauften, denn ihr Appell an meine Willenskräfte enthielt, verballhornt, aber doch verständlich, in großer Zahl, ja überwiegend deutsche Wörter.
Hinaufgezerrt, ins Türloch ragten nur noch meine nackten Zehen, lag ich auf meiner linken Seite, spürte ein schnelles, hartes Klopfen in meiner Brust. Ich sah, noch konnte ich den Kopf nicht heben, vor allem eine Kerze, ein Kerzchen bloß, schief auf ein Tellerlein geklebt. Der Schein umspielte die Schuhe meiner Helfer, dicksohlige, durch viele Ösen über Kreuz geschnürte Stiefeletten aus schwarzgefärbtem, grobgenarbtem Leder, altväterliches Schuhwerk, mit dem gewiß die denkbar längsten aller langen Wanderschaften durchzustehen waren. Selbst hier, im Büro der Firma Hitzik, war Unruhe in diesen Schuhen, sie schoben auf der Stelle, und auch das Reden meiner Retter gönnte sich keine Unterbrechung. Hoch über mir besprachen sie in aufgeregtem Ton etwas, was offenbar mit meiner weiteren Beförderung zusammenhing.
Ich drehte mich, noch immer unfähig, mich aufzurichten, auf den Rücken. Das Licht war schlecht. Ich sah zwei magere Hälse, ein Kinn war etwas günstiger erhellt. Das Fallen und Emporschnellen der dicken Unterlippe erinnerte mich an ein oft gesehenes Sprechen, und plötzlich löste das Hinschauen die Sperre vor dem hörenden Erkennen. Wie konnte ich die Stimmen dieser beiden alten Männer nur für fremd gehalten haben. Die beiden waren - mochte ich auch andere hinter dieser Tür erwartet haben - meine mir vielfach hilfreich zur Hand gegangenen Archivare, die Brüder Lionel und Arnold Ilbich.
Der Schock der Rettung machte mich erst das Ausmaß meiner Schwäche fühlen. Mein kaum handbreit erhobener Kopf fiel wieder auf die Dielen, aus meinem linken Augenwinkel sah ich den Kerzenstummel, langdochtig flammend, war er auf Daumennagelhöhe abgebrannt. Ach, hätten meine lieben Archivare, die ich erstmals außerhalb ihres Gebrauchttext-Fundus erleben durfte, doch nun den kleinen Finger einer Frage zu mir hinabgestreckt! Hätten sie sich in diesem gummiartig langgezogenen Augenblick nach dem Gewesenen erkundigt, es wäre mir vielleicht - wie eine akrobatische, aber mit müden und überdehnten Gelenken doch vollziehbare Verrenkung - ein Rückblick auf das Geschehene geglückt. Indes der Notstand der Beleuchtung zwang sie zu fliehender Betriebsamkeit. Aus ihrem Brabbeln glaubte ich zu verstehen, daß uns vollständige Verdunklung drohte, falls sich nicht ein Ersatz für das in seinen letzten Zügen liegende Stearinlicht fand.
Ich hörte die beiden in verschiedenen Ecken räumen, ich hörte Möbel rücken, Angeln quarren, Schubladen schaben und Gegenstände aneinander klicken, ich hörte die Brüder ihre Suche kommentieren. Ich glaube, Lionel war es, der dem ein Ende setzte. Für einen Satz in fehlerfreies Hochdeutsch fallend, versprach er uns, daß er im nächsten Handumdrehen das große alte Licht restituieren werde. Arnold stellte sein Scharren ein, auch ich fühlte mich von der Prophezeiung angerührt, ich krampfte Schulter- und Nackenmuskeln, und es gelang mir, das Kinn gegen die nackte Brust zu drücken. Und wirklich, Lionel hatte uns nicht zuviel versprochen, nach einem Schraubgeräusch und zeitgleich mit einem zarten Knacksen flammte das Licht von neuem auf.
Welch schwachen Abglanz hatte ich durch das dicke Glas erlinst! Jetzt sah ich, heftig blinzelnd, seinen Ursprung, sah einen Kronleuchter tief von der Decke hängen, sah viele starke Birnen auf jedem seiner Arme strahlen. Ich stützte mich auf einen Ellenbogen und überblickte, daß Lionel, der Lichtbereiter, in einem schmalen Wandkasten hantierte, während sein Bruder, den Oberkörper über die Schublade eines Schreibtisches gebeugt, mit verkniffener Miene zu den entflammten Bögen schaute. Es war, als traue er dem wiedergewonnenen Segen nicht. Und leider Gottes erwies sich seine brüderliche Skepsis als berechtigt. Kaum, daß es noch zu einem vorwarnenden Flackern kam. Erneut verging die Pracht, und das, was meine Augen als letztes faßten, der Deckenstuck, das Muskelspiel der ringenden Giganten, blieb, rot und grün, zu Ornament verallgemeinert, auf meiner Netzhaut stehen, hob sich in großer Schärfe ab von der nun absoluten Schwärze des Büros, denn ausgerechnet in der kurzen Phase der Erleuchtung, die uns Lionel beschert hatte, war jener Kerzendocht, der Notbehelf der Zeit davor, von allen unbemerkt, erloschen.
Noch heute lobe ich meine braven Archivare dafür, daß sie den Mut nicht sinken ließen. Mehr noch als ich waren sie fremd an diesem Ort. Gewiß hatten sie ILBICHS GEBRAUCHT-TEXTFUNDUS, das stillgelegte Parkhaus, das ihre Schätze barg und wo sie selbst geborgen waren, zum erstenmal seit Jahren verlassen, nur um mir, ihrem Lieblingskunden, in einer Art von Außendienst voranzuhelfen. Wenn ich mich recht erinnere, wollte ich eben fragen, wie sie mich hier gefunden hätten. Mein ausgedörrter Schlund setzte gerade zu einem ersten Krächzen an, als sich ein kühler Flaschenhals an meine aufgesprungenen Lippen drückte. Lautlos war Lionel an mich herangetreten, er kniete hinter meinem Rücken, stützte mir meinen Nacken, und an die Brust des alten Manns gelehnt, durfte ich lang, unfaßbar lang, den lang entbehrten Tee, meinen geliebten kühlen, gutgesüßten Kräutertee, in gierigen Zügen trinken.
Erquickt, dankbar wie nie zuvor in all den Arbeitsjahren, krähte ich laut, die gütigen Archivare sollten mir jetzt verraten, wie ich den jungen oder alten Hitzik finden könne. Denn ich war sicher, daß die Firma samt ihren Geldtransportern in Familienhand geblieben war. Statt einer schönen runden Antwort stieß mir ein flattriges Altmännerkichern in die Ohren, gefolgt von langgezogenen Freudenrufen aus der Kehle Arnolds. Zwei Kegel aus Licht, nicht stark, aber beständig, vermaßen die Finsternis von neuem zum Büro. Fast war ihr Funzeln wie ein Vorwärtstasten, zwei große Finger tippten sich voran, wiesen in alle Winkel, zeigten mir nach und nach das Mobiliar. So wie nun Arnold einen geflochtenen Papierkorb, den Buckel einer wuchtigen Rechenmaschine, das Zickzackmuster eines Kokosläufers und schließlich ein weit entferntes Stehpult mit schon bescheiden gewordenem Licht bestrich, so suchen sich wohl eingestiegene Diebe, die wahren Kenner unserer Wohn- und Arbeitsräume, ihre Beute.
Schließlich kippten die Kegel ineinander, um ihren Ursprung zu beleuchten. Ich sah die großen Hände Arnold Ilbichs zwei Taschenlampen gleichen Bautyps halten, fast prähistorisch ungetüme Exemlare aus unlackiertem, rostfleckigem Blech. Jetzt strahlte er sich ins Gesicht und sprach mit vorgestülpten Lippen, die theatralische Beleuchtung nutzend, langsam und überdeutlich meinen Namen aus, ergänzt um jene Silbe, die das Benannte zärtlich kleiner macht. Nachdem er mich so zwingend angerufen hatte, ließ er, zittrig und doch mit sicherem Gespür für meinen Blick, die Kreise der Taschenlampen über die Mauer gleiten, die sich wenige Schritte hinter ihm befand. Er wandte sich dazu nicht um, sondern lenkte, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Lichtkegel über die Achseln hinter sich, als kenne er die Wand so gut, daß er sie nicht mehr anzuschauen brauche. Im Schein, der in den Raum zurückfiel, entging mir nicht, daß seine Backen heftig zuckten, daß seine Mimik mit dem Ansturm einer starken Empfindung kämpfte.
Im eigentlichen Feld des Lichts, in dem Oval, zu dem sich die beiden Kreise hinter Arnolds Kopf vereinten, zeigte sich mir ein merkwürdiges Möbel: Bis hoch zum Stuck war ein gut schulterbreites Wandstück von einem feinverschachtelten Regalbau eingenommen. Die Konstruktion glich jenen Kästen, die einst, nachdem der technisch überholte Bleisatz aufgegeben worden war, noch einige Jahre in den Küchen und Wohnzimmern unserer privaten Reiche zur Aufbewahrung hübschen Schnickschnacks dienten. Auch hier, im Büro der Firma Hitzik, glitzerte es in allen Fächern, und wenn ich die Worte meiner Archivare richtig verstand, waren die ausgestellten Dinglein eigens für mich versammelt worden. Auf allen vieren kroch ich hin zu dieser Wand.
Inzwischen hatte Arnold Ilbich eine der beiden Taschenlampen an seinen Bruder abgegeben. Schulter an Schulter stehend, hielten sich die alten Männer an den Hüften umschlungen und leuchteten mit siamesischer Geschicklichkeit auf das Regal. Sie folgten jedem Drehen und Beugen meines Nackens, als wäre ein solcher Dienst, die Unterwerfung unter die Willkür fremder Augenzüge, seit Jahr und Tag ihr täglich Brot. Die Setzkästen, vor denen ich kniete, enthielten mehrere hundert Exemplare einer speziellen Spielzeugautomarke, Modelle, deren Handlichkeit und gußeiserne Schwere ich als Knabe lang zu schätzen wußte - zu lang vielleicht, denn wenn ich mich nicht irre, war ich es, der als halbwüchsiger Bengel die eigene Sammlung mit einem Luftgewehr beschoß, so gründlich, so verbissen, bis keines der Autos, mit abgesprengten Rädern und zerschundener Lackierung, länger zum Spielen taugte.
Begierig, aber noch ohne den Fluchtpunkt meiner Lüsternheit zu kennen, begann ich, aufgestanden, die Reihen abzusuchen. Mühsam bändigte ich meine Hände, pfiff sie zurück, wenn sie, um sich ein Autochen zu grabschen, nach vorne zuckten. Ich hielt die Zügel angezogen, bis ich den Janus sah. Er stand, die Motorhaube schnabelartig über das Vorderrad gekrümmt, bestürzend wirklichkeitsgetreu in seinem streichholzschachtelgroßen Kästchen - so wirklich, unwiderstehlich wirklich, wie vielleicht stets allein Modelle dastehen können. Das Fach lag ungefähr auf Höhe meiner Brust, und deren hart gewordene Warzen schienen mir wie zusätzliche Augen auf den Dreiradlieferwagen, auf seinen grünlackierten Körper, auf das winzige Emblem der Firma Hitzik hinzustarren.
Fast wäre ich in eine ungesunde Trance verfallen, aber das Schweigen meiner Archivare - noch nie, seit ich sie kannte, waren sie so lange stumm geblieben - saß mir als zunehmender Druck im Nacken, ich spürte die Erwartung so arg, daß ich den Janus packte. Drei Finger meiner Rechten krampften sich klauenartig um das Autochen. Schon in der ersten Anspannung des Griffs bemerkte ich, daß es nicht freibeweglich stand, sondern befestigt war. Ich zog mit aller Kraft. Metallisch schnalzend sprang das Modell des Geldtransporters - es war als Kopf auf eine Stahlstange geschraubt - gut einen Viertelmeter aus der Wand. Ein Mechanismus setzte sich in Gang, ich hörte das Brummen eines Elektroaggregats, das Schaben von Riemen oder Seilen, und schon drehte sich das Regal samt einem Stück der Bodenbretter, samt mir, um eine unsichtbare Achse, langsam und doch so schnell, daß ich ins Schwanken kam. Mit einer Schulter fiel ich gegen die Kästen, hing unglückselig schief an der herausragenden Stange, und schaute in das Büro der Firma Hitzik, das ich, bevor ich es begriffen hatte, wieder verlassen mußte. Mit diesem letzten Blick und wilder Rührung sah ich meine verstummten Gebrauchttexthändler. Sie standen da, die Lämpchen an die Brust gepreßt, so daß der Schein, von unten, die schönen großen Altmännernasen konturierend, die ganze Länge der Gesichter überströmte. Festlich und abschiedsschwanger kam mir die Beleuchtung vor. Sogar den Stuck erreichte noch einmal Licht, ganz kurz glaubte ich dessen kraftvoll ringende Giganten mit meinen stillstehenden Archivaren zu einer quälend verwirrenden Figur verschlungen, und eh ich Gips und Fleisch von neuem auseinanderdividieren konnte, warf mich die Drehplatte mit starkem Schwung auf die andere Seite der Mauer.
In Filmen aus der Zeit des glücklich stummen Zellu-loids, in frühen Filmen, deren verschrammte Kopien, auf Magnetband übertragen, mit Musik und witzelnden Erzählerstimmen nachgerüstet, an unzähligen Bildschirmnachmittagen abgeleiert wurden, war mir als kindlichem Zuschauer schon einmal eine solche Drehwand begegnet, wie sie mich nun in die letzte Etappe meines Auftrags geschleudert hatte. Vor meinen Füßen lagen die Spielzeugautos. Mein Blick suchte den Janus, aber die Stange, die ihn als Kopf getragen hatte, war samt dem Modell des Geldtransporters im Holz des Regals verschwunden. Es ging wohl nicht auf gleichem Weg zurück. Kurz war ich in Versuchung, auf die Knie zu sinken und Auto für Auto wieder in die Ordnung der Wand zu räumen. Aber die Spannung meiner Anzugjacke, die mir um meine nackten Schultern besser als je zuvor, vielleicht zum erstenmal wie angegossen saß, ihr feiner, gleichmäßiger Druck, brachte mich auf den Boden meiner Arbeit, brachte mich in den Freiraum meiner Arbeitszeit zurück.
Ich drehte mich und hob den Blick. Über mir wölbte sich eine weite, von mattem Licht durchspülte Saalbaukuppel. Von meinem Standort aus, von einer Balustrade, die den Saal umlief, konnte ich in das eischalenkrumme Dachgewölbe sehen. Es kam mir vor, als wäre dort ein riesiges Küken ausgeschlüpft. Allmählich, weil an das Grau in Grau gewöhnt, vermochte ich die Zackenlinien im Gewölbe besser zu deuten. Das Dach war stark beschädigt, Stahlträgerstummel ragten vor den nächtlichen Himmel. Ein Einschlag oder eine Explosion hatte die Kuppel aufgesprengt, die bloßgelegten Rippen ihres Korpus waren wohl schon lang den zermürbenden Kräften des Wetters preisgegeben. Die Nacht milderte mir den Eindruck dieser Destruktion, und wie um mich noch weiter mit dem Riß im schön Gewesenen zu versöhnen, wurde Helligkeit in das Loch geschwemmt. Strömende Schwaden verrieten, daß sie Wolken waren. Zügig zerstob das Schleierzeug, räumte den Himmelsfleck, den mir die Kuppelränder rahmten, und im gezackten Feld, wie aus dem Nichts herbeigehext, stand eine trübe, dennoch blendend helle Scheibe, hypnotisch linste sie auf mich herab, und ganz bestochen von dem Silberaug, fiel ich erst aus dem Bann der Anschauung, als ich an seiner zarten Marmorierung unseren Mond erkannte.

Zitate der Rede im üblichen Rahmen sind möglich und honorarfrei. Die Verwendung von weiteren Ausschnitten müssen mit dem Verfasser, dem Tagungsbüro oder dem Piper-Verlag geklärt werden.

© 2000 ORF Landesstudio Kärnten.


© 01.07.2000