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Auszug
aus einem langen Prosatext
Georg
Klein
Barfuß tappte ich einen langen Gang hinunter; ich wollte ohne weitere
Verzögerung in die Tiefen des alten Hallenbades, bis ins Kontor der
Firma Hitzik dringen. Ein Hintergrundgefühl, vielleicht das Rauschen
der Erfahrung, stimmte mich sicher, daß ich auf diesem letzten Wegstück
das Glück auf meine Art erzwingen würde. Ich bog in einen neuen
Korridor, die Schwüle nahm zu, die Luft war wie von Dampf geschwängert.
Das Wasser, das an den verkalkten Knien der Rohre in Schwaden entwich,
kondensierte auf den Wänden, hatte, unter den Estrich sickernd, die
Dielen quellen lassen, sammelte sich in den welligen Verwerfungen des
Bodens. Bis an die Knöchel sank ich in kalte Lachen. Der blattrig
aufgesprungene Putz, die Schimmelkolonien, das Kupfer, Eisen oder Blei
der dichtgereihten Rohre, alles vergeudete Aromen, gab salzigen Saft,
Gase und feinste Partikel an die Atmosphäre. Das Chlor und seine
keimtötenden Bruderstoffe, die mir die Augen tränen machten,
hatten den Kampf gegen den Duft der Auflösung wohl längst verloren.
Im Schummerlicht einer von Sickerwasser überschlierten Lampe blieb
ich stehen. Wie alle anderen Beleuchtungskörper war sie in ein Körbchen
aus starkem Draht gebettet. Ich beugte mich in ihrem Schein und krempelte
mir beide Hosenbeine hoch; der Anzug sollte im Endkampf dieses Auftrags
keinen Schaden nehmen. Fast war ich froh, daß mir der böse
Bademeister Unterwäsche, Hemd und Schuhe weggestohlen hatte. Barfüßig
und mit nackter Brust, paßte ich besser in dieses Klima, und mein
Geschlecht, das seit dem Moorbad juckende Pickel rahmten, war in der weitgeschnit-tenen
Anzughose angenehm luftig aufgehoben. Schwungvoll wollte ich weiterschreiten,
da machte mich ein wahres Unding stutzen. In dieser Stadt, die sich gern
rühmt und sich noch lieber rühmen läßt, daß
ihre Mauern Seltsamstes zu bieten hätten und die auch manche Kuriosität
zu bieten weiß, hatte ich nie eine Installation wie diese, eine
so widersinnig angebrachte Tür gesehen. Ihr eiserner Türstock,
ihre Schwelle und ihr Blatt aus trübem Glas saßen, parallel
zum Boden des Korridors, in dessen Decke. Von oben ragte die Klinke in
meinen Weg, hing mir, verlockend nah, vor Augen - jedoch entdeckte ich
kein Hilfsmittel, kein Höckerchen, nicht einmal eine Kiste, die mir,
nach dem Öffnen der Falltür, den Aufstieg in den über mir
gelegenen Raum ermöglicht hätte.
Ich trat unter ihr Blatt - es war mannslang, entsprach darin etwa der
Höhe einer normalplazierten Tür - und konnte so eine ins Glas
geschliffene Inschrift lesen:
Hitzik&Hitzik
Geschäfte aller Art
Das
reichte aus, mich, ohne weitere Überlegung, handeln zu lassen. Ich
wippte auf die Zehen, griff zu und ließ die Klinke schnappen. Die
Tür kam mir, ich hätte es vorhersehen müssen, sofort entgegen.
Entriegelt stürzte sie, nur noch gehalten von den Angeln, schräg
auf mich nieder, die Klinke schrammte mir über die Stirn, bevor das
Aufschwingen an meinem Schädel und meinen verspätet hochgeschnellten
Händen sein Ende fand.
Auch ich stand still. Vom Schlag benommen, trat ich nicht unter der herabgekommenen
Tür hervor, sondern starrte über den Ärmel meiner Jacke
ins trübe Glas, das eingegossene Drähte kreuz und quer verstärkten.
Als ich den Kopf bewegte, rutschte mir ein besonderes Fleckchen in den
Blick. Gut bohnengroß und klar wie Wasser war eine Blase in die
Scheibe eingeschlossen, und durch die Wölbung dieser einem Produktionsfehler
entsprungenen Linse sah ich hinauf in einen Raum, der strahlend hell erleuchtet
war. Wenn mich nicht alles täuschte, war das Licht zeitgleich mit
meinem Unfall aufgeflammt.
Mein Zufallsguckloch ließ mich nicht viel vom nächsten Stockwerk
sehen, aber der Blickwinkel war weit genug, mir einen Streifen prächtigen
Deckenstucks zu zeigen. In seinem Gips kämpften Figuren. Götter
oder Titanen drängten die prallen Muskeln aneinander, verrenkten
sich die Glieder mit Ringergriffen und brachten Brust, Haupt und Gesäß
in eindrucksvolle Posen. Ich kroch unter der Tür hervor, ihr Glas
dröhnte gegen die Wand, und oben in den Gefilden der gesuchten und
gefundenen Firma Hitzik erlosch das Licht, so daß ich aus dem Dämmer
meines Gangs in nichts als Schwärze gaffte. Der ganze Prunk des eben
noch geschauten Bildes, dieser Olymp, dieses Olympia der starken Männer,
schien mit dem scheußlich fehlgestimmten Gong vergangen.
Der eigentliche Höhepunkt des Mißgeschicks, eine spezielle
Schmach, stand mir jedoch, ohne daß ich es ahnen konnte, noch bevor.
Vorsichtig meine Stirn betastend, spürte ich eine wulstförmig
angeschwollene Stelle, jedoch kein Blut, und da der Schmerz schon abgeklungen
war, glaubte ich mich imstande, die nächste Etage zu erobern. Ich
hüpfte hoch, faßte mit beiden Händen den Türstock
und wollte mich mit einem Klimmzug nach oben bringen. Aber die simple
Turnerübung, die keinen Mann in die Verlegenheiten des Versagens
bringen sollte, war nach dem Fasten der Auftragszeit, war nach dem schrecklichen
Dürsten der letzten Stunden zu schwer für mich.
Ich zappelte, versuchte mit den nassen Fußsohlen Halt an der herabhängenden
Tür zu finden, und selbst wie mir die Kraft zum Strampeln fehlte,
ließ ich nicht los, als könnten noch ungeahnte Kräfte
in meine lahm werdenden Arme schießen. Statt dessen wurde ich von
hinten angepackt. Während sich große, warme Hände um meine
Waden schlossen, vernahm ich jenes rasselnde Einverleiben, jenes puffartige
Ausstoßen der Luft, das mir an meinem fetten und, wie sich nun zeigen
sollte, auch starken Bademeister aufgefallen war. Er stemmte mich mit
einem Ruck empor, schon war ich mit dem Kopf im oberen Raum, aber dann
hielt er mit dem Heben inne. Sein muskulöser, spürbar starkbehaarter
Arm preßte meine Unterschenkel gegen das grobe Netzhemd, sein Bauch
klopfte im Rhythmus schneller Atemstöße gegen meine Fersen
- und schließlich mußte ich fühlen, daß seine freigewordene
andere Hand damit begann, durch den zum Glück sehr dicht gewebten
Hosenstoff, tastend, drückend, reibend und kneifend, Kontakt mit
meinem Geschlechtsteil aufzunehmen.
So hängend, so gehalten, wußte ich nicht, wie ich weiter nach
oben kommen sollte, zugleich war mir der Weg zurück verwehrt. Mit
meinen Ellenbogen, die schon auf dem Türstock lagen, schlug ich wie
mit gestutzten Flügeln, mit den Beinen, die der Griff des Bademeisters
zu einer Flosse aneinander preßte, versuchte ich mich aufzubäumen,
jedoch das Zucken der Gesäß- und Schenkelmuskeln verlor schneller
an Kraft als das Zappeln eines an Land geworfenen Fisches. Zumindest wollte
es den wurstigen Fingern meines Peinigers nicht gelingen, einen der Knöpfe,
die meine Hose verschlossen, aus seinem Schlitz zu pulen.
Die Rettung griff, gerade als ich es wagen wollte, mich rücklings
über ihn hinabfallen zu lassen, von oben aus der Dunkelheit. Hände
packten mein Sakko, Hände fuhren mir unter die Achseln, und zwei
sich abwechselnde Männerstimmen schimpften in einer mir unbekannten
Sprache und in einem seltsam wehklagenden Ton nach unten, erreichten mit
diesem Jammerschmähen, daß mich der Bademeister losließ
und sich murrend, mit seinen Holzpantinen durch die Wasserlachen patschend,
trollte. Über mir ächzten die unbekannten Helfer. Das Wenige,
was noch an Höhe fehlte, um meine Brust über den Türstock
zu ziehen, kostete sie ihre ganze Kraft. Zwischen ihr Atemholen zwängten
sie Rufe, die mich in meiner Anstrengung befeuern sollten. Und nach und
nach verstand ich, was sie mir da entgegenschnauften, denn ihr Appell
an meine Willenskräfte enthielt, verballhornt, aber doch verständlich,
in großer Zahl, ja überwiegend deutsche Wörter.
Hinaufgezerrt, ins Türloch ragten nur noch meine nackten Zehen, lag
ich auf meiner linken Seite, spürte ein schnelles, hartes Klopfen
in meiner Brust. Ich sah, noch konnte ich den Kopf nicht heben, vor allem
eine Kerze, ein Kerzchen bloß, schief auf ein Tellerlein geklebt.
Der Schein umspielte die Schuhe meiner Helfer, dicksohlige, durch viele
Ösen über Kreuz geschnürte Stiefeletten aus schwarzgefärbtem,
grobgenarbtem Leder, altväterliches Schuhwerk, mit dem gewiß
die denkbar längsten aller langen Wanderschaften durchzustehen waren.
Selbst hier, im Büro der Firma Hitzik, war Unruhe in diesen Schuhen,
sie schoben auf der Stelle, und auch das Reden meiner Retter gönnte
sich keine Unterbrechung. Hoch über mir besprachen sie in aufgeregtem
Ton etwas, was offenbar mit meiner weiteren Beförderung zusammenhing.
Ich drehte mich, noch immer unfähig, mich aufzurichten, auf den Rücken.
Das Licht war schlecht. Ich sah zwei magere Hälse, ein Kinn war etwas
günstiger erhellt. Das Fallen und Emporschnellen der dicken Unterlippe
erinnerte mich an ein oft gesehenes Sprechen, und plötzlich löste
das Hinschauen die Sperre vor dem hörenden Erkennen. Wie konnte ich
die Stimmen dieser beiden alten Männer nur für fremd gehalten
haben. Die beiden waren - mochte ich auch andere hinter dieser Tür
erwartet haben - meine mir vielfach hilfreich zur Hand gegangenen Archivare,
die Brüder Lionel und Arnold Ilbich.
Der Schock der Rettung machte mich erst das Ausmaß meiner Schwäche
fühlen. Mein kaum handbreit erhobener Kopf fiel wieder auf die Dielen,
aus meinem linken Augenwinkel sah ich den Kerzenstummel, langdochtig flammend,
war er auf Daumennagelhöhe abgebrannt. Ach, hätten meine lieben
Archivare, die ich erstmals außerhalb ihres Gebrauchttext-Fundus
erleben durfte, doch nun den kleinen Finger einer Frage zu mir hinabgestreckt!
Hätten sie sich in diesem gummiartig langgezogenen Augenblick nach
dem Gewesenen erkundigt, es wäre mir vielleicht - wie eine akrobatische,
aber mit müden und überdehnten Gelenken doch vollziehbare Verrenkung
- ein Rückblick auf das Geschehene geglückt. Indes der Notstand
der Beleuchtung zwang sie zu fliehender Betriebsamkeit. Aus ihrem Brabbeln
glaubte ich zu verstehen, daß uns vollständige Verdunklung
drohte, falls sich nicht ein Ersatz für das in seinen letzten Zügen
liegende Stearinlicht fand.
Ich hörte die beiden in verschiedenen Ecken räumen, ich hörte
Möbel rücken, Angeln quarren, Schubladen schaben und Gegenstände
aneinander klicken, ich hörte die Brüder ihre Suche kommentieren.
Ich glaube, Lionel war es, der dem ein Ende setzte. Für einen Satz
in fehlerfreies Hochdeutsch fallend, versprach er uns, daß er im
nächsten Handumdrehen das große alte Licht restituieren werde.
Arnold stellte sein Scharren ein, auch ich fühlte mich von der Prophezeiung
angerührt, ich krampfte Schulter- und Nackenmuskeln, und es gelang
mir, das Kinn gegen die nackte Brust zu drücken. Und wirklich, Lionel
hatte uns nicht zuviel versprochen, nach einem Schraubgeräusch und
zeitgleich mit einem zarten Knacksen flammte das Licht von neuem auf.
Welch schwachen Abglanz hatte ich durch das dicke Glas erlinst! Jetzt
sah ich, heftig blinzelnd, seinen Ursprung, sah einen Kronleuchter tief
von der Decke hängen, sah viele starke Birnen auf jedem seiner Arme
strahlen. Ich stützte mich auf einen Ellenbogen und überblickte,
daß Lionel, der Lichtbereiter, in einem schmalen Wandkasten hantierte,
während sein Bruder, den Oberkörper über die Schublade
eines Schreibtisches gebeugt, mit verkniffener Miene zu den entflammten
Bögen schaute. Es war, als traue er dem wiedergewonnenen Segen nicht.
Und leider Gottes erwies sich seine brüderliche Skepsis als berechtigt.
Kaum, daß es noch zu einem vorwarnenden Flackern kam. Erneut verging
die Pracht, und das, was meine Augen als letztes faßten, der Deckenstuck,
das Muskelspiel der ringenden Giganten, blieb, rot und grün, zu Ornament
verallgemeinert, auf meiner Netzhaut stehen, hob sich in großer
Schärfe ab von der nun absoluten Schwärze des Büros, denn
ausgerechnet in der kurzen Phase der Erleuchtung, die uns Lionel beschert
hatte, war jener Kerzendocht, der Notbehelf der Zeit davor, von allen
unbemerkt, erloschen.
Noch heute lobe ich meine braven Archivare dafür, daß sie den
Mut nicht sinken ließen. Mehr noch als ich waren sie fremd an diesem
Ort. Gewiß hatten sie ILBICHS GEBRAUCHT-TEXTFUNDUS, das stillgelegte
Parkhaus, das ihre Schätze barg und wo sie selbst geborgen waren,
zum erstenmal seit Jahren verlassen, nur um mir, ihrem Lieblingskunden,
in einer Art von Außendienst voranzuhelfen. Wenn ich mich recht
erinnere, wollte ich eben fragen, wie sie mich hier gefunden hätten.
Mein ausgedörrter Schlund setzte gerade zu einem ersten Krächzen
an, als sich ein kühler Flaschenhals an meine aufgesprungenen Lippen
drückte. Lautlos war Lionel an mich herangetreten, er kniete hinter
meinem Rücken, stützte mir meinen Nacken, und an die Brust des
alten Manns gelehnt, durfte ich lang, unfaßbar lang, den lang entbehrten
Tee, meinen geliebten kühlen, gutgesüßten Kräutertee,
in gierigen Zügen trinken.
Erquickt, dankbar wie nie zuvor in all den Arbeitsjahren, krähte
ich laut, die gütigen Archivare sollten mir jetzt verraten, wie ich
den jungen oder alten Hitzik finden könne. Denn ich war sicher, daß
die Firma samt ihren Geldtransportern in Familienhand geblieben war. Statt
einer schönen runden Antwort stieß mir ein flattriges Altmännerkichern
in die Ohren, gefolgt von langgezogenen Freudenrufen aus der Kehle Arnolds.
Zwei Kegel aus Licht, nicht stark, aber beständig, vermaßen
die Finsternis von neuem zum Büro. Fast war ihr Funzeln wie ein Vorwärtstasten,
zwei große Finger tippten sich voran, wiesen in alle Winkel, zeigten
mir nach und nach das Mobiliar. So wie nun Arnold einen geflochtenen Papierkorb,
den Buckel einer wuchtigen Rechenmaschine, das Zickzackmuster eines Kokosläufers
und schließlich ein weit entferntes Stehpult mit schon bescheiden
gewordenem Licht bestrich, so suchen sich wohl eingestiegene Diebe, die
wahren Kenner unserer Wohn- und Arbeitsräume, ihre Beute.
Schließlich kippten die Kegel ineinander, um ihren Ursprung zu beleuchten.
Ich sah die großen Hände Arnold Ilbichs zwei Taschenlampen
gleichen Bautyps halten, fast prähistorisch ungetüme Exemlare
aus unlackiertem, rostfleckigem Blech. Jetzt strahlte er sich ins Gesicht
und sprach mit vorgestülpten Lippen, die theatralische Beleuchtung
nutzend, langsam und überdeutlich meinen Namen aus, ergänzt
um jene Silbe, die das Benannte zärtlich kleiner macht. Nachdem er
mich so zwingend angerufen hatte, ließ er, zittrig und doch mit
sicherem Gespür für meinen Blick, die Kreise der Taschenlampen
über die Mauer gleiten, die sich wenige Schritte hinter ihm befand.
Er wandte sich dazu nicht um, sondern lenkte, die Arme vor der Brust gekreuzt,
die Lichtkegel über die Achseln hinter sich, als kenne er die Wand
so gut, daß er sie nicht mehr anzuschauen brauche. Im Schein, der
in den Raum zurückfiel, entging mir nicht, daß seine Backen
heftig zuckten, daß seine Mimik mit dem Ansturm einer starken Empfindung
kämpfte.
Im eigentlichen Feld des Lichts, in dem Oval, zu dem sich die beiden Kreise
hinter Arnolds Kopf vereinten, zeigte sich mir ein merkwürdiges Möbel:
Bis hoch zum Stuck war ein gut schulterbreites Wandstück von einem
feinverschachtelten Regalbau eingenommen. Die Konstruktion glich jenen
Kästen, die einst, nachdem der technisch überholte Bleisatz
aufgegeben worden war, noch einige Jahre in den Küchen und Wohnzimmern
unserer privaten Reiche zur Aufbewahrung hübschen Schnickschnacks
dienten. Auch hier, im Büro der Firma Hitzik, glitzerte es in allen
Fächern, und wenn ich die Worte meiner Archivare richtig verstand,
waren die ausgestellten Dinglein eigens für mich versammelt worden.
Auf allen vieren kroch ich hin zu dieser Wand.
Inzwischen hatte Arnold Ilbich eine der beiden Taschenlampen an seinen
Bruder abgegeben. Schulter an Schulter stehend, hielten sich die alten
Männer an den Hüften umschlungen und leuchteten mit siamesischer
Geschicklichkeit auf das Regal. Sie folgten jedem Drehen und Beugen meines
Nackens, als wäre ein solcher Dienst, die Unterwerfung unter die
Willkür fremder Augenzüge, seit Jahr und Tag ihr täglich
Brot. Die Setzkästen, vor denen ich kniete, enthielten mehrere hundert
Exemplare einer speziellen Spielzeugautomarke, Modelle, deren Handlichkeit
und gußeiserne Schwere ich als Knabe lang zu schätzen wußte
- zu lang vielleicht, denn wenn ich mich nicht irre, war ich es, der als
halbwüchsiger Bengel die eigene Sammlung mit einem Luftgewehr beschoß,
so gründlich, so verbissen, bis keines der Autos, mit abgesprengten
Rädern und zerschundener Lackierung, länger zum Spielen taugte.
Begierig, aber noch ohne den Fluchtpunkt meiner Lüsternheit zu kennen,
begann ich, aufgestanden, die Reihen abzusuchen. Mühsam bändigte
ich meine Hände, pfiff sie zurück, wenn sie, um sich ein Autochen
zu grabschen, nach vorne zuckten. Ich hielt die Zügel angezogen,
bis ich den Janus sah. Er stand, die Motorhaube schnabelartig über
das Vorderrad gekrümmt, bestürzend wirklichkeitsgetreu in seinem
streichholzschachtelgroßen Kästchen - so wirklich, unwiderstehlich
wirklich, wie vielleicht stets allein Modelle dastehen können. Das
Fach lag ungefähr auf Höhe meiner Brust, und deren hart gewordene
Warzen schienen mir wie zusätzliche Augen auf den Dreiradlieferwagen,
auf seinen grünlackierten Körper, auf das winzige Emblem der
Firma Hitzik hinzustarren.
Fast wäre ich in eine ungesunde Trance verfallen, aber das Schweigen
meiner Archivare - noch nie, seit ich sie kannte, waren sie so lange stumm
geblieben - saß mir als zunehmender Druck im Nacken, ich spürte
die Erwartung so arg, daß ich den Janus packte. Drei Finger meiner
Rechten krampften sich klauenartig um das Autochen. Schon in der ersten
Anspannung des Griffs bemerkte ich, daß es nicht freibeweglich stand,
sondern befestigt war. Ich zog mit aller Kraft. Metallisch schnalzend
sprang das Modell des Geldtransporters - es war als Kopf auf eine Stahlstange
geschraubt - gut einen Viertelmeter aus der Wand. Ein Mechanismus setzte
sich in Gang, ich hörte das Brummen eines Elektroaggregats, das Schaben
von Riemen oder Seilen, und schon drehte sich das Regal samt einem Stück
der Bodenbretter, samt mir, um eine unsichtbare Achse, langsam und doch
so schnell, daß ich ins Schwanken kam. Mit einer Schulter fiel ich
gegen die Kästen, hing unglückselig schief an der herausragenden
Stange, und schaute in das Büro der Firma Hitzik, das ich, bevor
ich es begriffen hatte, wieder verlassen mußte. Mit diesem letzten
Blick und wilder Rührung sah ich meine verstummten Gebrauchttexthändler.
Sie standen da, die Lämpchen an die Brust gepreßt, so daß
der Schein, von unten, die schönen großen Altmännernasen
konturierend, die ganze Länge der Gesichter überströmte.
Festlich und abschiedsschwanger kam mir die Beleuchtung vor. Sogar den
Stuck erreichte noch einmal Licht, ganz kurz glaubte ich dessen kraftvoll
ringende Giganten mit meinen stillstehenden Archivaren zu einer quälend
verwirrenden Figur verschlungen, und eh ich Gips und Fleisch von neuem
auseinanderdividieren konnte, warf mich die Drehplatte mit starkem Schwung
auf die andere Seite der Mauer.
In Filmen aus der Zeit des glücklich stummen Zellu-loids, in frühen
Filmen, deren verschrammte Kopien, auf Magnetband übertragen, mit
Musik und witzelnden Erzählerstimmen nachgerüstet, an unzähligen
Bildschirmnachmittagen abgeleiert wurden, war mir als kindlichem Zuschauer
schon einmal eine solche Drehwand begegnet, wie sie mich nun in die letzte
Etappe meines Auftrags geschleudert hatte. Vor meinen Füßen
lagen die Spielzeugautos. Mein Blick suchte den Janus, aber die Stange,
die ihn als Kopf getragen hatte, war samt dem Modell des Geldtransporters
im Holz des Regals verschwunden. Es ging wohl nicht auf gleichem Weg zurück.
Kurz war ich in Versuchung, auf die Knie zu sinken und Auto für Auto
wieder in die Ordnung der Wand zu räumen. Aber die Spannung meiner
Anzugjacke, die mir um meine nackten Schultern besser als je zuvor, vielleicht
zum erstenmal wie angegossen saß, ihr feiner, gleichmäßiger
Druck, brachte mich auf den Boden meiner Arbeit, brachte mich in den Freiraum
meiner Arbeitszeit zurück.
Ich drehte mich und hob den Blick. Über mir wölbte sich eine
weite, von mattem Licht durchspülte Saalbaukuppel. Von meinem Standort
aus, von einer Balustrade, die den Saal umlief, konnte ich in das eischalenkrumme
Dachgewölbe sehen. Es kam mir vor, als wäre dort ein riesiges
Küken ausgeschlüpft. Allmählich, weil an das Grau in Grau
gewöhnt, vermochte ich die Zackenlinien im Gewölbe besser zu
deuten. Das Dach war stark beschädigt, Stahlträgerstummel ragten
vor den nächtlichen Himmel. Ein Einschlag oder eine Explosion hatte
die Kuppel aufgesprengt, die bloßgelegten Rippen ihres Korpus waren
wohl schon lang den zermürbenden Kräften des Wetters preisgegeben.
Die Nacht milderte mir den Eindruck dieser Destruktion, und wie um mich
noch weiter mit dem Riß im schön Gewesenen zu versöhnen,
wurde Helligkeit in das Loch geschwemmt. Strömende Schwaden verrieten,
daß sie Wolken waren. Zügig zerstob das Schleierzeug, räumte
den Himmelsfleck, den mir die Kuppelränder rahmten, und im gezackten
Feld, wie aus dem Nichts herbeigehext, stand eine trübe, dennoch
blendend helle Scheibe, hypnotisch linste sie auf mich herab, und ganz
bestochen von dem Silberaug, fiel ich erst aus dem Bann der Anschauung,
als ich an seiner zarten Marmorierung unseren Mond erkannte.
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