Fell und Federn
Malin Schwerdtfeger

Als Tata von Polen nach Deutschland ging, um uns nachzuholen, war es aus mit dem Spielen und Schlachten. Wenn Tata ein Kaninchen schlachten wollte, sagte er: "Komm, wir spielen ein Spiel, das heißt Hieb und Stich." Er haute dem Kaninchen auf dem Kopf und schnitt ihm die Kehle durch, und mir, die ich neben dem Hauklotz saß, gab er zuerst den Kaninchenschwanz für meine Puppe. Ich machte die Fleischfetzen ab und legte den Schwanz meiner Puppe um den Hals, und so besaß meine Puppe zwar nur einen Hosenanzug und keine Schuhe, aber mehr Pelze als die Königin von England. Wenn das Kaninchen abgezogen am Apfelbaum neben dem Hauklotz hing, sah es frisch und rot aus wie eine Frucht.
Als Tata in Deutschland war, um uns nachzuholen, kam mit dem ersten Paket eine Barbie, die drei Paar Schuhe hatte, ein Ballkleid, einen Skianzug und einen Bikini. Ihre Beine konnte ich biegen und ihre Knie knacken lassen wie Kaninchenknochen, und sie war so neu, daß jedes Haar noch einzeln für sich stand.
Ohne Tata kam der Tod jetzt leise und selten in unsere Ställe, denn Mama war Vegetarierin. Vegetarierin wollte ich von nun an auch sein und das Beil endlich nicht mehr anrühren müssen, weil ich es doch war, die den Kaninchen und Gänsen ihre Namen gab, und erst zu taufen und dann zu töten war grausam. So taufte ich nur noch, häutete und begrub, und niemand war mehr da, der den Tieren mit den schönsten Namen den frühesten Tod bereitete.
Tata und meine Schwester Guga waren sich immer nur im Töten einig gewesen, Mama und ich nur im Kampf für das Leben. Als Guga fünf gewesen war und ich drei, hatten wir Ananda gehabt, eine Gans, die bei uns in der Küche wohnte. Ananda war genauso alt wie Guga, und so lieb wie Guga war sie mir allemal. Als Ananda mit Tata zum Hauklotz hinters Haus gehen und ein Spiel namens Schlag und Ader spielen sollte, warfen Mama und ich uns vor ihr über die Küchenschwelle. Aber Guga, die in ihrem Hochstühlchen saß, sagte zu Tata:
"Bring sie um!"
"Warum?", fragte Tata. "Sie macht immer Zzz!", lispelte Guga. Ihre Augen trafen sich fast über der Nase. Für Guga gab es tausend Gründe, ein Tier zu töten, und Zischen war ein guter Grund. Schmutz war ein anderer, schlechtes Benehmen oder Beißen der beste. Doch als sie groß war und lesen konnte, hatte Guga Namenstage am allerliebsten. Jeden Tag sah sie in ihrem Heiligenkalender nach und ging petzen.
"Das ist die Regel", sagte Guga über das Gänsegurgeln hinweg, als Tata zu Ehren des Heiligen Johannes Asia und Ania schlachtete, die ich beide Joanna getauft hatte, nach mir. Eigentlich war es Tata, der die Regeln aufstellte, und wir mußten nur versuchen, sie uns zu merken. Die Regel mit den Namenstagen hatte sich Guga zwar ganz allein ausgedacht, aber da sie Tata gefiel, galt sie bis auf weiteres. Ein Punkt für Guga. Aber es machte Tata rasend, daß Guga nur zuschaute und die Hände hinter dem Rücken verschränkt hielt.
"Pack mit an!", schrie er und versuchte, Asia in ihre Arme oder gegen ihren Bauch zu drücken. Guga trat einen Schritt zurück.
Beim Rupfen wollte sie nicht einmal zusehen, denn davon täten ihr die Haarbälge weh. Sie drehte sich um und ging davon. Asia und Ania lagen überbrüht und kopflos neben dem Hauklotz und zeigten mit ihren Hälsen wie mit Fingern auf Guga, aber Gugas breiter Rücken blieb hart und gerade wie die Hauswand. Bevor Guga um die Ecke bog, blieb sie noch einmal stehen und putzte sich die Schuhe ab. Dann ging sie weiter, und pflügte mit den Schuhspitzen durch das Gras. Ich ließ Asias und Anias Blut auf den Spitzen meiner Schuhe langsam eintrocknen, setzte mich mit neben Tata und rupfte, bis mir die Arme wehtaten.

Im Sommer, wenn die Wege schwarz waren von zertretenem Holunder, floß das Blut in Strömen hinter dem Haus, denn dann bekamen wir Besuch aus den Städten. Wenn die Leute samstags zu uns hinauskamen, war Mama gezwungen, ihre Finger eine Weile von der Schreibmaschine zu lassen, denn die Leute kamen extra mit dem Zug aus Kattowitz zu uns und sogar ganz aus Krakau. Die Kattowitzer mußten auf dem Bahnsteig erst einmal den Ruß aus ihren Haaren schütteln und die Krakauer den Kellergeruch aus ihren Kleidern, denn Kattowitz war dreckig und Krakau war alt, und wenn die Städter dann tief einatmeten, wurde ihnen schlecht von unserer sämigen schlesischen Luft, und sie mußten blinzeln, denn sie waren den Horizont nicht gewöhnt. Ihre Augen waren wie Kaninchenaugen nichts als Pupillen. Sogar die dunkle Spätsommersonne, die von Tag zu Tag langsamer über den blassen Himmel schmierte, hinterließ Schlieren auf ihrer Netzhaut. Sie formten die Hände zu Scheuklappen und legten sie an die Schläfen, und so hielten sie Ausschau nach Tata, der vor dem Bahnhof auf sie wartete, und zu Hause wartete noch sehnlicher Guga, die Beine durch die Gitterstäbe des Gartentors gesteckt. Guga war diejenige, die alle wichtigen unter unseren Besuchern erkannte. Sie war diejenige, die wußte, welchen Namen man flüstern und welchen man laut rufen mußte, bevor man dem Besucher aus der Stadt in die Arme sprang. Guga stieg vom Gartentor und schmiegte sich an die Sängerin Magdalena Kaminska. Ich stand an der Hausecke, die Ställe im Rücken, und schüttelte Kaninchendreck aus meiner Unterhose.
"Komm", sagte Tata und hob mich hoch, "wir spielen ein Spiel, das heißt Kaninchenscheiße und ein Kuß." Ich legte ihm die Arme um den Hals und klammerte mich fest. Tatas Gesicht lag in meiner Halsbeuge, und meine Beine waren so lang, daß ich sie fast zweimal um Tatas Hüften wickeln konnte. Tata küßte mich. Er ließ mich einen Moment lang frei an seinem Hals schweben und klatschte mir mit beiden Händen auf den Hintern.
"Spitz wie ein Hühnerarsch", sagte er und pustete abwechselnd auf seine Handflächen.
Die Gäste aus der Stadt saßen schon an den Tischen, die Mama in den Garten geschleppt und unter einem Tischtuch zusammengerückt hatte, und Tata trug mich fort von den Ställen und stellte mich auf einen Stuhl neben seinen Freund Andrzej. Er schaute mich an wie ein Bild und haute mir dann die Handkante in die Kniekehlen, damit meine Beine einknickten. Ich konnte nicht anders als zusammenzuklappen und mich hinzusetzen.
"Heilige Joanna", sagte Tatas Freund Andrzej, der Automechaniker, zu mir, und auch er griff mir in die Kniekehle und kitzelte mich, und es kam mir vor, als seien meine armen Knie heute der Mittelpunkt der Welt.
Zu essen gab es unter anderem den fetten Murzynek, dessen Blut so schwarz gewesen war wie sein Fell, und Guga ging mit der Wodkaflasche herum. Sie umkreiste die Tische so schnell und leise, daß ich sie oft aus den Augen verlor, aber wenn der Raubtiergeruch am stärksten war, wußte ich, daß sie hinter mir stand, und wenn er verflogen war, dauerte es eine kleine Weile, bis ihr Gesicht an der gegenüberliegenden Seite des Tisches über den Schultern der Gäste aufging wie der Mond. Das Herumgehen mit der Flasche war Gugas Amt. So war die Regel. Und wenn sie sich beim Einschenken vorbeugte und in die Gespräche der Gäste geriet, blieb der Blütenstaub der Neuigkeiten an Guga hängen, und sie trug ihn herum wie den Wodka.
"Der Maler Ginko macht eine neue Aktion", flüsterte sie zwischen mir und Tata hindurch.
Tata lächelte dem Maler Ginko zu. Der Maler Ginko hatte lange wilde Haare und keine Schultern und sah aus wie ein Angorakaninchen. Seine Hand hatte er Mama in den Nacken gelegt.
"Ich werd ihm mal mein Reich hinterm Haus zeigen", sagte Tata.
Kein guter Witz, fand Guga. Ich fand es ungerecht, daß Tata das Reich hinterm Haus nicht ernsthaft auch den Menschen zeigen wollte, denn ich war, wenn es schon sein mußte, für eine gleichmäßige Verteilung des Leides unter allen.
Unter den Menschen hatte ich keine Lieblinge. Wenn ich mir unsere Gäste anschaute, sah ich nichts als eine Menge Namen auf Stühlen, Namen, die ich mir nicht merken konnte, weil sie nicht von mir waren. Guga aber merkte sich nur Menschennamen, gern fremde und fremdartige, am liebsten ausländische, und die übte sie sogar vor dem Spiegel. Mamas Gäste waren Gugas Lieblinge, so wie ich die Kinder von Igor und der grauen Lucia am liebsten hatte. Gugas Lieblinge waren Mamas ehemalige Kommilitonen, der Maler Ginko, der Theaterdichter Grajan und die Sängerin Magdalena Kaminska, deren Haar noch schwärzer war als das Fell des fetten Murzynek. Tatas Gäste dagegen waren Guga und Mama zu schmutzig, und sie tranken ihnen zu viel. Mit Leuten, die Tata irgendwo aufgelesen hatte, Leuten wie dem Rinderbesamer von der PGR und dem alten Baranczak, der jedesmal sein Stuhlkissen naß machte, wollten Guga und Mama nichts zu tun haben. Die Kumpels, mit denen Tata und sein Freund Andrzej fischen gingen, an Motoren herumschraubten und in der Kneipe neben dem Bahnhof Zukunftspläne schmiedeten waren für Mama allesamt Zigeuner, und wenn sie zu Besuch kamen, hatte Mama Angst um ihr Besteck. Manchmal verglich sie sich mit der Gräfin Tolstoj, denn irgendwann war zu Tatas alten Freunden und Zufallsbekanntschaften ein paar finstere Jungen aus Kattowitz gestoßen, die sich kein bißchen für die Jagd, für Tiere, Autos oder todsichere Geschäfte interessierten, sondern Gedichte schrieben wie Mamas Gäste. Nur konnten wir diese Gedichte nie hören, denn Mama schickte uns hinters Haus, wenn einer aus Tatas neuem Gefolge einen Zettel aus seiner Hosentasche zog, und jedesmal holte Tata uns zurück, und in seinem Gebrüll gingen die Gedichte der Kattowitzer unter. Die Kattowitzer trugen Hosen, die am Po eng und staubig waren und um die Knöchel weit und schlammig, sie ließen sich Bärte wachsen wie Tata und machten sich ununterbrochen Notizen. Und obwohl man zu dieser Zeit in Polen ganz allgemein notizenmachende Leute mied, schlug Tata den Jungen auf ihre krummen Schultern und nannte sie freundlich seine ungewaschenen Jünger.
Mama wollte nicht den gleichen Fehler machen wie Tolstojs Frau, die die verrückten Anhänger ihres Mannes nie rausgeschmissen hatte, und, soweit Mama wußte, gleich mehrmals ins Wasser gegangen war.
"Aber wer ist am Ende dabei draufgegangen?", fragte Tata, "Tolstoj!".
Die Jünger aus Kattowitz verfolgten die Wodkaflasche in Gugas Hand mit den Augen und versuchten, Guga herbeizupfeifen. Aber Guga hörte nicht und kniff die Jünger im Vorübergehen in die Oberarme.
"Stell die Flasche auf den Tisch", brüllte Tata, "laß die Gäste sich verdammt noch mal selber nehmen!" Er griff nach Guga, aber Guga konnte ihr Schleichen in einen Sprung verwandeln, weg von Tatas Hand. Sie lief zum Maler Ginko, schenkte ihm nach und schaute Tata über den Tisch hinweg mit ihrem Zyklopenauge an.
Meine Beine waren länger als Gugas. Meine Hände drehten ihr die Arme auf den Rücken und meine Finger zwangen sich unter Gugas Finger, die den Flaschenhals festhielten. Ich hielt Guga so, daß ihre Zähne ins Leere schlugen.
Nachdem Mama Guga ins Haus nachgelaufen war, stellte ich die Flasche vor die Kattowitzer auf den Tisch. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz, neben Andrzej, den Automechaniker, und erst am Abend, als ich hinterm Haus und um den Hauklotz herum nach dem Fell des fetten Murzynek suchte, sah ich, wie schwarz meine Knie von seinen öligen Griffen geworden waren.

Den fetten Murzynek hatte ich ein paar Tage vorher für Tata aus dem Stall geholt. Ich hatte mich vor den Stall hocken und beide Arme links und rechts vom Murzynek tief hineinstecken müssen, um ihn richtig zu fassen zu kriegen, und erst nach vielem Ziehen und Zerren war der Murzynek in meinen Schoß gefallen, wie drei Jahre zuvor blind aus dem Bauch der schwarzen Baba Jaga. Mühselig war es, so ein großes, schweres Kaninchen wie den Murzynek aus seinem Verschlag zu lösen, aber mit den kleinen hatte ich es auch nicht unbedingt leichter, denn die schlüpften mir durch die Finger wie Fische.
Tata wartete hinter dem Haus auf mich, und das Kaninchen wurde mir immer schwerer, je näher ich dem Hauklotz kam. Gut, daß der Murzynek sich nicht wehrte, denn sein brombeerfarbenes Fell war so glatt, daß er mir sonst aus den Armen gerutscht wäre. Tata stand am Hauklotz und fragte sich, ob ich es wohl schaffen würde, den Murzynek zu schlachten, der doch in meinen Schoß hineingeboren worden war.
Und nun konnte ich das Fell des schwarzen Murzynek nicht mehr finden. Bei den Ställen, an der Hauswand und unter dem Apfelbaum war es nicht, und neben dem Hauklotz lagen nicht einmal mehr die Pfoten.

Am folgenden Tag, als die Städter fort waren, hörte ich schon mittags die Türen von Andrzejs Fiat knallen. Ich saß auf der Treppe, die Hände in einem Wurf junger Kaninchen, und Andrzej, der Automechaniker, stieg über mich hinweg.
"Du wirst ja wohl hoffentlich nicht mehr wachsen", sagte er, und da ich wußte, daß man über Kinder nicht steigen darf, wenn sie weiter wachsen sollen, vermutete ich, daß ich kein Kind mehr war. Und überhaupt wäre ich froh darum gewesen, nicht weiter wachsen zu müssen.
Mama war den ganzen Tag noch nicht heruntergekommen. Sie saß mit fettigen Haaren an ihrer Schreibmaschine und hoffte, Buchstabe für Buchstabe die ungeschriebenen Gedichte vom Samstag noch einholen zu können. Und so schöpfte ich die nackten Kaninchen aus meinem Schoß in ihre Kiste zurück, legte ein Brett darauf und lief hinter Andrzej her in die Küche, um ihm und Tata ein paar Brote zu machen.
"Ich fahre", schrie Andrzej noch in der Tür Tata entgegen.
"Schweinehund", schrie Tata und küßte Andrzej die Wangen.
Andrzej reparierte landwirtschaftliche Fahrzeuge für die PGR, aber er sprach und träumte nicht von Traktoren und Dreschmaschinen, sondern von Autos aus Westdeutschland. Und für Westdeutschland hatte Andrzej ein Visum und einen Paß.
Andrzej setzte sich neben mich an den Küchentisch.
"Warum hast du ein Visum?", fragte ich. Ich schnitt Salzgurken klein und legte sie auf ein Wurstbrot. Ein Visum oder ein Paß war etwas, das man nicht haben konnte, sondern etwas, worüber Tata in der Bahnhofskneipe redete, wenn er sehr viel getrunken hatte. So wie das Mittelmeer oder eine Harley Davidson.
"Weil ich ein Deutscher bin", sagte Andrzej und ließ seine schwarze Hand auf mein Bein fallen. Ich mußte lachen, weil Andrzej so polnisch war wie die Salzgurken auf seinem Wurstbrot.
"Und du bist so deutsch wie ich, heilige Joanna", sagte Andrzej. Seine Hand krallte sich um meinen Oberschenkel. "Und von der deutschen Schokolade wirst du fett werden wie eine Gans."
"Bald", sagte Tata, "spielen wir ein Spiel, das heißt Vier Koffer und das Mittelmeer."
In Tatas erstem Paket aus Deutschland waren neben meiner Barbiepuppe und einer Jeans für Guga so viele Süßigkeiten gewesen, daß sie den ganze Wohnzimmerteppich bedeckten, nachdem Mama den Karton mit einem Messer aufgeschlitzt und einfach über dem Boden ausgeleert hatte. Und das beste war nicht einmal die Schokolade, das beste waren die Kaugummikugeln, auf lange durchsichtige Plastikstreifen geschweißt, ein Haufen bunter Maschinengewehrmunition.
"Die Waffen des Westens", sagte Mama und ging hinauf zu ihrer Schreibmaschine.

Nachdem Tata mich mit dem Mittelmeer gelockt hatte, kam Guga in die Küche und nahm sich einen Apfel. Sie trug ihren roten Badeanzug und eine Hose die sie bis unters Knie hochgekrempelt hatte, aber Schuhe trug sie keine. Ihre Füße waren kurz und breit wie Tigertatzen.
"Wo gehst du hin?", fragte Tata.
"Zum Baden", sagte Guga.
"Aber nicht in der Rawa", sagte Tata.
"Im See", sagte Guga, "ich bin doch nicht blöd."
Die Rawa war ein Fluß, der Tata gerade gut genug zum Katzenertränken war. Die Rawa wechselte alle paar Tage ihre Farbe, sie schäumte und stank.
"Die Rawa ist dazu da, die Kattowitzer Scheiße hinaus zu uns aufs Land zu tragen", sagte Tata, "Genau wie unsere Gäste."
"Ich geh dann", sagte Guga.
Sie hielt es nicht so lange unter Andrzejs Blicken aus wie ich.
"Nimm deine Schwester mit", sagte Tata.
"Bestimmt nicht", sagte Guga und zeigte ihre Handgelenke her. Sie waren über Nacht blau geworden, wo meine Finger tags zuvor zugedrückt hatten, als sie die Wodkaflasche nicht hatte hergeben wollen.
"Nimm sie mit", befahl Tata.
"Das ist doch peinlich", sagte Guga, "ihre Beine sind so dünn, und sie sagen Storch zu ihr."
"Beine sind nicht wichtig bei einer Frau", sagte Andrzej, "Beine gehen zur Seite."
Als ich hinter Guga her die Treppe hinunterlief, war die Kiste mit den jungen Kaninchen nicht mehr dort, wo ich sie stehengelassen hatte.

Neben Guga und einem fremden Jungen auf dem warmen Rindenmulch am See zu liegen war langweilig und anstrengend zugleich. Guga ließ sich küssen und die Hand unter den Rand ihres roten Badeanzuges schieben, und ich sah an den Bäumen hinauf und wirbelte roten Staub mit den Füßen auf. Der Wald reichte bis fast an das Seeufer heran, und die geraden Stämme hielten die warme Luft gefangen. Ich wunderte mich, daß Gugas Geruch den Jungen nicht störte. Wenn Guga im Liegen die Arme an den Körper preßte, fächerten sich die Haare unter ihren Achseln auf, und wenn sie die Arme ausbreitete, roch es nach Raubkatzenschweiß.
Zu Beginn hielten Guga und der Junge bloß die Lippen aneinander. Später öffnete erst Guga ihren Mund und dann der Junge, und zusammen gab es ein Geräusch wie beim Kaninchenausweiden.
"Wir fahren bald nach Deutschland", sagte ich.
"Quatsch", sagte Guga und drehte sich auf den Rücken. Vor lauter Trägheit bekam sie die Augen nicht auf.
"Wir sind Deutsche, weil wir einen deutschen Nachnamen haben", sagte ich.
"Spinnst du, Storch?", fragte der Junge. "Geh spielen!"
Anders als bei Guga knackten die Äste und Zweige laut unter meinen Füßen, wenn ich zwischen den Bäumen herumlief. Es war schön im Wald, aber zu tun gab es für mich nichts, bis ich unter einer Fichte die tote Taube fand. Als ich sie schon begraben hatte, fiel mir ein, daß ich sie doch gern behalten hätte, und ich grub sie wieder aus. Ich klopfte die trockene Erde von ihren Federn. Die tote Taube fühlte sich anders an als eine Gans, das Federkleid war nicht dick und von Kämpfen zerpflückt, sondern zart und glatt und ohne eine Lücke. Eine Taube brauchte man nicht zu rupfen. Eine tote Taube durfte sich einfach auflösen, so, wie sie war. Als wir in der Dämmerung durch den Wald zurück zur Straße liefen, ging ich hinter Guga und dem Jungen her, die sich gegenseitig die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatten. Ich drückte die Taube an mich und küßte sie, und es war doch sehr ungerecht zugegangen an diesem Tag, denn am Ende des Tages hatte Guga einen Freund und ich bloß den Mund voller Verwesung.

Die Frage, wo meine jungen Kaninchen geblieben waren, konnte mir niemand ernsthaft beantworten. Daß Guga sie in die Rawa geschmissen hatte, glaubte ich nicht, denn als sie das behauptete, lächelte sie nur mit einer Seite ihres Gesichts, und das tat sie immer, wenn sie log.
Tata sah mich suchen, zog mich an den Beinen unter dem Leiterwagen hervor und legte mich über den Hauklotz.
"Komm", sagte er und hob das Messer, "wir spielen ein Spiel, das heißt Schlitz und Auf."
"Sie waren noch nicht einmal getauft", sagte ich, und Tata ließ mich los und nannte mich Joanna die Täuferin. Ich rutschte von Hauklotz und riß mir dabei einen Splitter ins Knie. Von den kleinen Kaninchen war mir nichts geblieben, genausowenig wie vom schwarzen Murzynek. Wenn ich schon nicht begraben konnte, mußte ich wenigstens etwas zum Behalten haben, so war die Regel, und nun hatte ich gleich von mehreren meiner Lieblinge weder Grab noch Fell noch Pfote.

Als Tata in Deutschland war, wurde nur mehr nach Mamas Regeln gespielt.
In Tatas zweitem Paket aus Deutschland waren zwei Affen aus Stoff gewesen für mich und Guga gewesen, die, schrieb Tata, "Mon Czi Czi" hießen, und eine Flasche mit einem dicken gelben Saft. Wegen der verschiedenen Obstsorten und der vielen Zahlen auf dem Etikett vermutete Mama Unmengen von Vitaminen in diesem Saft, und so bewahrte sie die Flasche im Wohnzimmerschrank auf, und wir bekamen davon jeden Tag einen winzigen Schluck aus dem Schraubdeckel. Bald schwammen in der Flasche grüne Schimmelinseln, und Guga mußte kotzen. Mama schüttete den restlichen Saft weg und schimpfte auf die schlechte deutsche Medizin
Besuch bekamen wir samstags immer noch, aber ohne Tata wurde weniger getrunken und mehr vorgelesen, die Leute redeten leiser, und es gab leichtes, fleischloses Essen. Von allen tat es Guga am meisten leid um das gute Fleisch, aber selbst zum Beil greifen mochte sie nicht. Immer häufiger ging sie jetzt mit Wein herum, roten in der einen, weißen in der anderen Hand. Den ungewaschenen Kattowitzern verbot Mama das Haus, aber der Maler Ginko blieb immer öfter bis zum Sonntagmorgen.
Tata hatte ein dreimonatiges Touristenvisum für Deutschland bekommen, doch das bedeutete nicht, daß er nach drei Monaten wieder zu Hause sein würde, sondern daß er, wenn diese drei Monate abgelaufen waren, für lange Zeit nicht mehr nach Polen zurückkonnte.
In der Nacht, bevor Tata ging, suchte und fand er mich bei den Kaninchen. Ich saß im Dunkeln vor den Ställen, blind vor einer meterhohen Wand aus Kratzen, Schaben und Atmen, und als Tata kam, fing es an zu regnen.
"Komm", sagte Tata, "wir spielen ein Spiel, das heißt Regen und ein eklig riechender Mantel." Unter Tatas Mantel roch es tatsächlich eklig nach Petroleum und verbranntem Gummi. Tata nannte mich Kaninchenkönigin, weil królik, Kaninchen, und królowa, Königin, fast ein und dasselbe Wort sind.
"Holst du uns?", fragte ich.
"Nein", sagte Tata, "Ihr werdet kommen."

Tata war fort. Die Kaninchen vermehrten sich, und mit dem Taufen kam ich nicht mehr nach. Wenn ein Kaninchen starb, starb es eines natürlichen Todes. Nur manchmal mußte ich eines begraben, das morgens ohne Kopf in seinem Verschlag gelegen hatte, bei weit geöffnetem Türchen, mit Wirbeln im Fell, wo der Herbstwind hineingeblasen hatte.
"Marder", sagte Mama. Bevor ich das Fell abzog, lief ich herum und schaute nach, ob ich den Kopf nicht doch irgendwo fände, obwohl gerade die fetten Kaninchen ohne Kopf viel besser in eine Schuhschachtel paßten.
Dann gab es Krieg auf den Werften im Norden, und von Tata kam ein verwirrender Brief voller Spielvorschläge. Mama zerriß den Brief und machte Tata nach.
"Komm", sagte Mama mit ihrer Zigeunerstimme, "wir spielen ein Spiel, das heißt Aufgeben und Abhauen!"
"Komm", sagte Guga mit genau der gleichen Stimme, "wir spielen ein Spiel, das heiß Schiß und Verrat!".
Ich ging zu den Kaninchen und sortierte sie neu nach Farbe und Größe. Mittlerweile mußten sich zwei oder drei Tiere einen Verschlag teilen, doch eigentlich waren die Ställe dazu zu klein, und morgens hockten die Kaninchen oft mit blutigen Pfoten und krustigem Fell in ihrem eigenen Dreck.
"Bring endlich mal wieder eins um!", sagte Guga, die den Gestank nicht mehr aushielt und sich vor Jacek, ihrem Freund, dem Jungen vom See, schämte. Aber wenn ich nicht dazu gezwungen war, konnte ich nicht töten. Mittlerweile waren Messer und Beil stumpf geworden. Tatas Reich des Blutes, des Fells und der Federn war verwaist, und aus dem Hauklotz wuchsen rötliche Pilze.
Um die Gänse stand es nicht besser als um die Kaninchen: Sie verdrängten sich gegenseitig von unbefruchteten Eiern, brüteten sinnlos darauf herum mit ihren verklebten Hinterteilen, und weil ich es nicht schaffte, den Gänsestall auszubessern, bildeten sich beim Brüten an ihren Bäuchen schmutzige Wächten aus Federn und hereingewehtem Schnee. Wenn sich der Maler Ginko am Sonntagmorgen auf den Weg zum Bahnhof machte, kam er nur mit der Nase im Mantelkragen und angehaltenem Atem an den Ställen vorbei.
Irgendwann kam der Maler Ginko nicht mehr. Er hatte sich entschlossen, nach den selben Regeln zu spielen wie Tata. Mama ließ sich von der Sängerin Magdalena Kaminska trösten, deren Haar inzwischen nur noch zur Hälfte so schwarz wie das Fell des schwarzen Murzynek war, das ich noch immer nicht wiedergefunden hatte. Die andere Hälfte, vom Scheitel bis zum Ohr, hatte die gleiche Farbe wie mein Liebling, die graue Lucia. Wie ich das Beil rührte Mama nun die Schreibmaschine nicht mehr an.
Als kein Schnee mehr lag und die Sonne nicht mehr so silberfahl wie Aluminium am Himmel stand, kamen Tatas Kattowitzer Jünger zum Packen, und sie fuhren unsere Kisten mit drei Autos nach Danzig, wo sie auf ein Schiff geladen wurden. Da in Danzig noch immer Krieg war, wußte niemand, wann das Schiff mit unseren Kisten auslaufen würde. Für uns kaufte Mama Flugtickets und Billets für den Zug nach Warschau.
An unserem letzten Abend kam nur noch der alte Baranczak zu Besuch, und nun war es egal, wohin er sich mit seinem feuchten Hosenboden setzte, denn die Küchenstühle blieben ohnehin hier. Gugas Pupillen verschmolzen miteinander vor Ekel, als der alte Baranczak nach Mamas Hand griff.
"Vielleicht könnten Sie mir freundlicherweise einmal einen schönen Anzug schicken", sagte der alte Baranczak. "Nicht mehr für dieses Leben, so eitel bin ich nicht", sagte er, "nur für im Sarg."
Mama entzog dem alten Baranczak ihre Hand, steckte ihm ein paar übriggebliebene Wodkaflaschen in die Manteltaschen und schob ihn zur Tür hinaus.
In der Nacht konnte ich nicht schlafen, weil Jacek in Gugas Zimmer gekommen war. Im ganzen Haus hatte sich Mangegengeruch ausgebreitet, und das Geräusch, das Guga und Jacek machten, wenn sie einander gegen die Wand stießen, so klang es jedenfalls, war ähnlich dem Kratzen und Klopfen der Kaninchen, die in den engen Verschlägen um ein bißchen Platz kämpften.
Im Flur zog ich Schuhe und Mantel an. Dann lief ich hinaus zu den Ställen. Es war so dunkel, daß ich die Kaninchen nicht sehen konnte, ich konnte nur hören, wie sie sich gegen die Bretterwände stemmten, und als ich mich gegen den Stall lehnte, fühlte ich ihr Fell durch die Maschen des Kaninchendrahts an meiner Wange.
"Komm", sagte ich, "wir spielen ein Spiel, das heißt Hau und Ab!"
Ich hakte die Türchen auf und schaufelte die Kaninchen hinaus. Obwohl Andrzej, der Automechaniker, über mich drübergestiegen war, war ich weiter gewachsen, und um die obersten Verschläge zu öffnen, mußte ich nicht einmal mehr auf einen Schemel steigen. Das letzte Kaninchen klatschte wie ein nasser Sack auf den Boden. Immer noch wagte keines, davonzulaufen. Ich stand bis über die Knöchel in einem Meer aus Kaninchen, die einfach sitzen blieben und sich nicht rührten.
"Los!", sagte ich und stampfte mit dem Fuß auf. Aber erst, als ich das Beil nahm und damit gegen die Stallwände haute, donnerten die Kaninchen davon wie losgetretenes Geröll, und fünf Minuten später folgten ihnen die Gänse wie eine Schneelawine.

"Lieber Gott!" sagte Mama, als sie gegen Morgen in den Gänsestall schaute und mich dort auf meinem riesigen Haufen sitzen sah, in dem nur das Fell des schwarzen Murzynek fehlte. Sonst war mir von allen etwas geblieben, und was ich konnte, hatte ich aufgehoben.
"In einer Stunde!", sagte Mama. Sie zog die Brauen zusammen wie Guga und schlug die Tür wieder zu.
Ich saß da wie die Königin von England und trug zum letzten Mal meinen Mantel aus Fell und meine Krone aus Federn.

Zitate der Rede im üblichen Rahmen sind möglich und honorarfrei. Die Verwendung von weiteren Ausschnitten müssen mit dem Verfasser, dem Tagungsbüro oder dem Piper-Verlag geklärt werden.

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© 01.07.2000