DER WASSERSCHADEN

"Hanna hat Schlaftabletten aus der Apotheke ihres Vaters genommen, hat Wasser dazu getrunken und sich in den Schlafzimmerschrank ihrer Eltern gesetzt", sagt meine Cousine, meine linke Hand legt sich auf die Bremse zwischen unseren Sitzen, die rechte um den Griff der Beifahrertür, ich werde Hanna aus meinem Adreßbuch streichen, ein kleines Kreuz hinter ihren Namen malen müssen, denke ich, "sie hat sich vergangenes Jahr im Frühsommer umgebracht", sagt meine Cousine, wir fahren im Wagen ihrer Mutter, meiner Tante, durch den Regen, "sie hat Tabletten aus der Apotheke ihres Vaters geschluckt, hat Wasser dazu getrunken und sich in den großen Kleiderschrank ihrer Eltern gesetzt", und mir fällt ein, daß Hanna sich selbst in mein Adreßbuch eingetragen hat, sie hat ihren Namen und ihre Wiener Anschrift in breiter Kinderhandschrift aufgeschrieben, "sie ist unter den Röcken und Kleidern ihrer Mutter, nicht weit von den Anzügen ihres Vaters, gestorben", sagt meine Cousine, der Wagen wiegt und schaukelt, wir rollen über eine Landstraße, und was meine Cousine sagt, kommt ohne Gewicht, sie schaltet einen Gang höher und vor der nächsten Kurve wieder zurück, der Motor jault, das Auto schiebt sich nach links und rechts durch die Kurven, und hin und wieder spritzt Rollsplitt vom Straßenrand gegen den Unterboden, die Steinchen stechen wie tausend Nadeln in den Autobauch. Hanna ist unter den Kleidern ihrer Mutter, nicht weit von den Anzügen ihres Vaters, gestorben, wiederhole ich mir und erinnere mich an den Tag, an dem ich sie das erste Mal sah: Wir fuhren zu dritt auf zwei Motorrollern über die Grenze nach Tschechien, Tschechei, wie meine Großmutter noch immer sagt, Grenze sei ein slawisches Lehnwort, eines der wenigen, die es im Deutschen gebe, sagte meine Cousine und erzählte von dem Volksschullehrer, der immer davor gewarnt habe, dieser Grenze zu nahe zu kommen, er habe gesagt, wer der Grenze zu nahe kommt, wird von den Russen mitgenommen und nach Sibirien verschleppt, meinte Hanna, da saß ich hinter ihr auf dem Roller, eine Hand lag auf ihrer Schulter, und die Finger der anderen spielten mit den kurzen dunklen Haaren in ihrem Nacken. Hier war einmal Meer, Böhmen lag am Meer, man kann Versteinerungen finden, sagte sie, und die blonden Locken meiner Cousine wehten neben uns unter ihrem Sturzhelm hervor. Meine Cousine wußte, wo wir anhalten mußten, um ein Paddelboot zu mieten, wir ließen uns durch harmlose Stromschnellen und an Felsen vorbei ein Stück die Moldau hinunter treiben, von hier fließt das Wasser erst in die Elbe, dann in die Nordsee, sagte meine Cousine, auf der anderen Seite, jenseits der Wasserscheide, fließt es ins Schwarze Meer, sagte Hanna, sie zog eine Hand durchs Wasser nach und hielt nur ihren Zeichenblock, kein Paddel in der anderen. Ihre Malsachen ließ sie auch dann nicht los, als das rote Plastikboot an einer seichten Stelle kenterte, sie hatte sich zu lange an dem Ast eines Baumes festgehalten, der über das Ufer hinaus ins Wasser hing. Das vollgelaufene Boot mußte ausgeschöpft werden, meine Hose triefte, vier Brustwarzen schauten mich durch T-Shirts an. Wir standen barfuß im Fluß und lachten, dann trocknete die Sonne uns wie Wäsche auf der Leine, Hannas Skizzenblock war nicht naß geworden, er hatte in einer durchsichtigen Plastiktüte gesteckt. Hanna zeichnete die Hautabschürfungen auf unseren Beinen, malte kleine weiße Wolken ins Blau, die Schaumkronen im Wasser, Baumwipfel als grüne Punkte und den Flußlauf der Moldau als Schlangenlinie über das ganze Blatt. In einem Städtchen spazierten wir durch das Schloß, tranken von dem süßen tschechischen Bier und schliefen in einer Pension, in der nur noch ein großes Bett frei gewesen war. Links von mir lagen die langen blonden, rechts die mittellangen schwarzen Haare, Hanna hatte den Block, meine Cousine den Reiseführer auf dem Nachttisch abgelegt. Unter dem offenen Fenster rauschte die Moldau, und ich war schon fast eingeschlafen, da sagte Hanna noch einmal, von hier fließt alles in die Nordsee, danach war ihr Murmeln nicht mehr zu verstehen. Immer wenn eine der beiden aufs Klo mußte, wachte ich auf, und irgendwann in der Nacht berührte mich Hannas Knie. Am nächsten Tag fuhren wir zurück nach Süden, Hanna hatte keine Lust zu lenken, also fuhr ich ihren Roller, sie saß die meiste Zeit hinter mir, verschränkte ihre Arme unter meinem Brustkorb und ließ mich ihre Muttermale in der rechten Unterarmbeuge sehen. Ab und zu legte sie ihr Kinn auf meine Schulter, manchmal, wenn sie versuchte mir etwas ins Ohr zu sagen, klackerten unsere Helme wie die zweier Taucher tief unter Wasser aneinander. Im Fahrtwind verstand ich auch nach der zweiten oder dritten gebrüllten Wiederholung kein einziges Wort, irgendwann nickte ich ihr nur noch zu und folgte den Schlangenlinien, die meine Cousine auf die Dünung der leeren tschechischen Straßen malte. Links und rechts lagen dunkelgrüne Wiesen wie Süßwasserpriele im Wald, wir fahren über Meeresgrund, der sich gehoben hat, sagte meine Cousine und zeigte uns die Gartenzwerge, die es an Tankstellen zu kaufen gab, hin und wieder standen auch Campingtische mit Schraubgläsern voller frischgepflückter Heidelbeeren an der Straße. Hinter der Grenze, unsere Pässe wurden nur flüchtig gemustert, veränderte sich der Straßenbelag. Wir fuhren ein oder zwei Kilometer, bis meine Cousine anhielt und uns zu einem Felsen führte, der wie eine stehengebliebene Klippe aus der Wiese ragte, hier verläuft die europäische Wasserscheide, sagte sie, stellte sich vor den Felsblock und wies von einer Seite auf die andere. Hanna sprach von Tropfen, die sich von hier aus auf die Reise machten, sie zog eine Feldflasche aus ihrem Rucksack, bot mir und meiner Cousine zu trinken an, stellte sich auf die Schwarzmeerseite, sagte, zwei Wassertropfen, die hier nur Zentimeter voneinander entfernt zu Boden fallen, bringen Tausende Kilometer zwischen sich, und spuckte erst auf die eine, dann auf die andere Seite. Eine Wasserscheide werde oft durch Gebirgszüge oder Hügelketten gebildet, sagte meine Cousine, mitunter aber, ich glaube, sie wußte das aus ihrem Reiseführer, verlaufe sie auch, fast unmerklich, in einer sumpfigen Tiefebene.
"Sie saß unter Mänteln ihrer Mutter, nicht weit von den Anzügen ihres Vaters im Schrank", höre ich meine Cousine sagen, sie spricht gegen das Geräusch der Lüftung und das des Scheibenwischers an, "das Haus ihrer Eltern liegt ganz in der Nähe", und während ich sie das sagen höre, sitzt ihre Stimme in meinem Ohr und klingt wie die unserer Großmutter, sie füttert mich mit Anhaltspunkten, kleinen Krümeln, und ich bin das Tier, das frißt. Meine Cousine biegt von der Landstraße ab, das Fernlicht streift das Schild eines Güterwegs, sie sagt, "das Haus ihrer Eltern liegt wirklich nicht weit von hier", sie beugt sich vor, wischt mit der Hand über die beschlagene Windschutzscheibe und verschmiert das Glas von innen, sie sagt: "Hanna hat sich vergangenes Jahr im Frühsommer umgebracht", vielleicht bilde ich mir diesen Satz aber auch nur ein, vielleicht rauscht die Lüftung bloß, "das war das Jahr, in dem du nicht da warst", sagt meine Cousine, dreht am Regler des Gebläses, und es kommt mir vor, als drehe sie mit der Lüftung die Geschichte vor und zurück, sie spult, verändert den Empfang, stellt leiser und wieder laut. Von der Heizungsluft werde ich schläfrig und gähne, und mir fällt ein, daß Hannas Mundwinkel nach unten fielen, wenn sie müde war, und ihre Nasenlöcher weiter wurden, wenn sie gähnte, und sie ihren Mund beim Sprechen oft ein klein wenig länger als nötig offen ließ. Meine Cousine weiß nicht, daß Hanna eines Morgens, acht oder neun Monate nach unserem tschechischen Ausflug, plötzlich müde und bleich vor meiner Wohnungstür stand, ich bin mit dem Nachtzug gekommen und vom Gare de l'Est hierher gelaufen, sagte sie, ich bin zum Zeichnen gekommen, störe ich, ich hatte keine Lust mehr auf Wien. Ihre Haut lag weiß auf ihren Knochen, ich hatte das Gefühl, nur eine Hülle zu sehen, große, offene Augen und das länger gewordene Haar, das ihr über die Lippen fiel. Wir setzten uns in die Küche, Hanna betrachtete die Kacheln an der Wand und fuhr mit einer Fingerspitze über die Fugen, sie zog ihren Block aus der Tasche und zeichnete den Raum, über dem die Decke ziemlich niedrig hing. Ich kochte ein zweites Mal Kaffee und hörte Hanna sagen, in Wien denke ich immer nur daran, vor welche Straßenbahn ich springen soll, außerdem geh' ich nicht gern auf die Akademie, und als sie ein Messer in die Hand nahm, um sich Butter auf ein Stück Baguette zu streichen, glaubte ich, sie werde sich schneiden. Das Brot, das schon geschmiert auf meinem Teller lag, wollte ich nicht mehr essen. Sie sei zum Zeichnen gekommen, sagte sie wieder, und wolle die Goldfische sehen, die nachts im Mondlicht unter dem Petit Pont im Wasser stehen, hast du die noch nie gesehen, fragte sie, nein, antwortete ich, und mußte zugeben, von diesen Fischen nichts gewußt zu haben. Im Badezimmer, das mehr Kabine als Zimmer war, stieg sie auf die Kloschüssel, die wird doch nicht kaputt gehen, sagte sie und schaute durch das Vasistas auf den Eiffelturm. Mit dem Block in der Hand harrte sie dort stundenlang aus, zeichnete und rief immer wieder, manchmal mit, manchmal ohne s hinter dem langen i, Paris, Paris, und ich dachte laut und sagte leise, du spinnst. Die Stadt fand sie angenehm grau und weiß, grün sind hier anscheinend nur die Fegebesen der Straßenkehrer, sagte sie und blickte aus dem vorderen Zimmerchen auf die Straße. Sie malte die Leuchtreklame des kleinen Kinos ab, Schlaflosigkeit vertrieb sie mit Ausweidungsübungen, sie stülpte sich um und erzählte ihr ganzes kurzes Leben. Was ich nicht malen kann, muß ich erzählen, sagte sie, da lag sie auf der Schaumstoffmatratze in meinem Zimmer, eine Tote, die noch zappelt und spricht, dachte ich, und sie kam mir vor wie ein Playmobilmännchen, bloß weniger unverletzlich. Ich weiß nicht, warum ich Lust hatte, ihr wehzutun, ich hätte ihr gern ein Stück Fleisch aus dem Oberarm, aus der Schulter gebissen, als sie erzählte, ihr Vater habe nie ein Wort mit ihr geredet, sie sagte, sie hätte sich nicht gewundert, wenn er ihre Mutter eines Tages nach dem Namen des Mädchens gefragt hätte, das da immer mit am Tisch saß, sie schilderte eine Kindheit auf dem Lande, lange Busfahrten jeden Morgen, über die Dörfer in die kleine Stadt, in der das Gymnasium stand, ich habe mich immer abgeschnitten gefühlt, sagte sie und sprach von einem Prinzen, auf den sie gewartet habe und warte, so, wie sie auf das große Glücklichsein warte, in das sie sich nicht hineinmalen könne. In ihren kurzen Redepausen tischte ich ihr Desillusionsromane auf, alles kommt fast immer anders, zweitens als man drittens denkt, ich sagte Kalendersprüche her und überlegte, wie ich sie bewegen könnte, zurück nach Wien zu fahren. Dann aber, wir standen gerade im Treppenhaus, strahlte sie mich wieder an, und ihre Augen leuchteten über eine Stelle an der Wand, an der Putz abgebröckelt war, sie behauptete, sie sehe die Umrisse einer Insel. Wir gingen auf den Cimetière Montmartre, spazierten durch die Reihen der Gräber und setzten uns auf eine Bank, die zu einer Gruft gehörte. Hanna hatte den Block und ihre Stifte dabei und skizzierte die Autobrücke, die den Friedhof an einer Stelle überquerte, es war ein warmer, fast heißer Tag. Sie nahm ihre Wasserflasche aus ihrem kleinen Rucksack und sagte, vielleicht nur um einer meiner Bemerkungen zuvorzukommen, trinken schadet nie, und du, du trinkst bestimmt eh nicht genug. Sie selbst trank erst, nachdem ich einen großen Schluck genommen hatte, dann fuhr sie mir mit der Hand durchs Haar und zog ihren kurzen Rock, dessen Stoff mich an das Fell eines gescheckten Ponys erinnerte, ein Stückchen höher. Sie gab mir einen Kuß, der sich, was mich nicht störte, anfühlte, als habe sie sich ihn lange zuvor ausgedacht. Meine Zunge tupfte gegen ihre Schneidezähne, und ich mußte an die Kieferknochen der Rehböcke denken, die mein Onkel, wenn er auf der Jagd gewesen war, den Sommer über zum Ausbleichen auf der Fensterbank liegen ließ. Später lief ich mit ihr durch die großen Kaufhäuser am Boulevard Haussmann, sie suchte ein leichtes, dünnes Sommerkleid, probierte viele und entschied sich für eines in Flieder. Zu Hause setzte sie sich wieder in die Küche, trank Wasser und rauchte, essen wollte sie nichts. Sie blätterte durch Modezeitschriften und fragte, ob ich nie daran gedacht hätte, mich umzubringen, wieso, der Tag war doch schön, versuchte ich auszuweichen, und auf den Vorschlag, mit ihr vom Pont Neuf zu springen, sagte ich nur, ich kenne den Film, ich fand ihn kitschig. Nachts kam sie mit offenem Haar zu mir ins Zimmer, ohne Licht zu machen, zog sie ihr T-Shirt über den Kopf und legte sich neben mich ins Bett. Sie fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, ihre Nägel kratzten über meine Kopfhaut, und ich hätte sagen können: Solange es wehtut, ist man da, doch ich sagte nichts, bis sie mir - die Leuchtreklame des Kinos schien ins Zimmer - die kleine Narbe über ihrer linken Brust zeigte. Hast du versucht, dich zu erdolchen, fragte ich und mußte lachen, sie aber antwortete, ein Zeck - sie sagte Zeck und nicht Zecke - hat mich gebissen, da war ich elf oder zwölf, und ich bin nicht an Hirnhautentzündung gestorben. Zum Frühstück aß sie nichts und hatte auch abends keinen Hunger, sie trank Wasser, knabberte trockenes Brot und verzog ihr Gesicht, wenn ich nur einen Augenblick durch sie hindurch oder anderswo hinsah, sie fing an zu spülen oder putzte den Herd, stellte sich wieder auf die Kloschüssel, schaute aus dem Fenster und malte, sie nahm jetzt Wasserfarben, die vierte oder fünfte Aussicht. Ihr neues Kleid zog sie an und wieder aus, legte es zusammen, um es zu verstauen, packte ihre Tasche und fragte mich, ob ich nicht manchmal mit einem anderen Menschen ganz weit weg wolle, um einfach alles loszuwerden, ich sagte, ja, vielleicht, doch heute nicht, und sie packte ihre Tasche wieder aus. Drei oder vier Tage nach ihrem unerwarteten Auftauchen trug ich ihre Tasche zum Bahnhof, sie selbst ging wie mit mehreren Röntgenschürzen behängt neben mir. Sie sagte nicht viel. Ihre Haut war durchsichtig geworden, an den Schläfen, auf der Stirn und den Unterarmen zeichneten sich Blutgefäße ab. In der Gare de l'Est stand der Zug schon im Gleis, der Bahnsteig war voll mit Rekruten, die zurück in ihre Kasernen nach Ostfrankreich mußten. Vor der dunkelgrünen Waggontür, sie sagte, das ist die Farbe, die ich hasse, küßte ich sie links und rechts auf die Wange, sagte, ohne mir selbst zu glauben, alles halb so schlimm, wird schon, und wünschte ihr gute Reise. In ihrem Abteil saßen schon ein paar angetrunkene Soldaten, alle anderen Plätze waren besetzt. Ich blieb bis zur Abfahrt des Zuges, und obwohl sie nicht einmal mehr aus dem Fenster sah, winkte ich ihr hinterher.
"Keiner weiß, wo sie in den letzten zwei oder drei Wochen gewesen ist", sagt meine Cousine plötzlich, auch sie hat eine Weile dem Regen zugehört. Das Fernlicht tastet sich durch die Nacht, gelegentlich erfaßt der rechte Scheinwerfer Bäume, einen Felsen oder eines der vielen Wegkreuze, leuchtet auf die kleinen, auf Glas gemalten Marien- oder Heiligenbilder, bevor sie, zu kurz belichtet, zurück in die Dunkelheit gleiten. Auf der Windschutzscheibe schieben die Wischblätter das Wasser erst in die eine, dann in die andere Richtung, sie umkurven das Dreieck im toten Winkel, ein Tropfen, der im Fahrtwind zur Seite weht, wird mit der nächsten Wischbewegung zurückgeschoben. "Sie behauptete, auf einer Sommerschule für Malerei in Prag zu sein", sagt meine Cousine, "ich wollte sie dort besuchen, bin sogar nach Prag gefahren, kannte aber ihre Adresse nicht. Selbst ihre Eltern wußten nicht, wo sie wohnte, in Wirklichkeit ist sie dort nie gewesen", sagt meine Cousine und nimmt den Blick aus dem Rückspiegel, hinter uns fährt schon lange kein Auto mehr. Meine Cousine blendet auf und wieder ab, die kleinen Katzenaugen am Straßenrand blitzen und schauen uns an, dann fällt das Licht auf ein Ortsschild. Aus den Pfützen auf dem Asphalt spritzt Wasser gegen den Unterboden des Wagens, die Luft, die durch die Lüftungsschlitze hereinströmt, ist feucht, Hanna hätte ein dunkles Bild gemalt, Schwarz ist auf meinen Bildern oft ein sehr dunkles Dunkelgrün, mußte sie mir einmal erklären, "sie wußte, daß ihre Eltern in Urlaub waren", sagt meine Cousine, "sie ist nicht aus Prag, sondern aus Wien gekommen, hat ihre Wohnung aufgeräumt und alle Skizzenblöcke verbrannt", ich könnte in der nächsten Kurve die Handbremse ziehen, als ließe die Erzählung meiner Cousine sich damit anhalten, als könnte Hanna auf diese Weise für immer in der Eisenbahn sitzen bleiben und nie nach Hause in den Schrank geraten, ich könnte die Handbremse ziehen, das Auto würde von der Straße abkommen, sich auf der Wiese überschlagen, in den Wald hinein rasen, gegen einen Baum oder einen der Felsen prallen, und niemand würde in meinem Adreßbuch ein kleines Kreuz hinter Hannas Namen malen, "sie fuhr von Wien über Linz nach Norden", sagt meine Cousine, "auf der Strecke, auf der vor dem Krieg die Schnellzüge zwischen Stockholm und Venedig gefahren sind, sie verließ den Zug an der letzten Station vor der tschechischen Grenze, da, wo auch heute noch die meisten Züge enden, ich habe sie auf dem Bahnhof nur knapp verpaßt, ich kam am selben Tag aus Prag, ich habe sie nur um eine halbe Stunde verpaßt", sagt meine Cousine, "als ich ankam, war sie schon auf dem Heimweg, die letzten Kilometer ging sie zu Fuß über Güterwege und, um abzukürzen, auch ein Stück durch den Wald, das Haus ihrer Eltern liegt ganz nah an der Grenze. Sie hat dann die Tabletten aus der Apotheke ihres Vaters genommen, die Packungen geöffnet und, um für den Fall, daß jemand sie findet, keine Anhaltspunkte zu liefern, alle Schächtelchen sorgfältig wieder geschlossen. Und zurückgestellt. Sie wußte, daß die Putzfrau erst nach dem Wochenende wiederkommen würde, und wußte auch, daß sie sehr viel Wasser trinken mußte, das sei der Fehler ihres letzten Selbstmordversuchs gewesen, zuwenig getrunken zu haben, hat sie einmal gesagt, trinkt man zuwenig, verpappen die Tabletten im Magen zu Medikamentenpaste, die sich leicht wieder auspumpen läßt", höre ich meine Cousine sagen, "sie hat die Tabletten geschluckt und sich mit einer Flasche in der Hand in den großen, beinah begehbaren Kleiderschrank ihrer Eltern, unter die Röcke ihrer Mutter, gesetzt", höre ich weiter und sehe, wie Hanna eine Plastikflasche Wasser, Volvic, Evian oder Vittel, an die Lippen setzt, "sie hat immer weiter getrunken und die Schrankschiebetür bis auf einen schmalen Spalt geschlossen", sagt meine Cousine, sie bremst vor einer Kurve, und ich muß denken: vielleicht ist die Flasche neben ihr dann umgefallen und ausgelaufen, und das ausgelaufene Wasser unter der Schiebetür hindurch aus dem Schrank getropft. Und als hätte meine Cousine meinen Gedanken erraten, fängt sie an, von dem Unfall in Großmutters Badezimmer zu erzählen, der sich bald nach unserem tschechischen Ausflug ereignet haben muß. Wir saßen im Wohnzimmer, unterhielten uns und hörten plötzlich ein Rauschen, gefolgt von einem scheppernden Knall, meine Cousine und ich schauten einander verwundert an, der Spülkasten ist abgestürzt, der Spülkasten ist aus der Wand gerissen und auf dem Boden zerbrochen, ich habe ganz nasse Füße, rief Hanna aus dem Badezimmer, das Wasser lief unter der verschlossenen Tür hindurch, tropfte die Stufe hinunter und sammelte sich, als wüßte es nicht, in welche Richtung es weiterfließen sollte, zu einem Stausee auf dem Teppich. "Ein wenig davon sickerte durch die Decke", sagt meine Cousine, "zum Glück aber blieb nur ein kleiner Wasserschaden". Draußen regnet es nicht mehr, die Straße wird langsam trocknen. Ich höre die Lüftung rauschen, und meine Cousine sagt, "gleich sind wir da".

Zitate der Rede im üblichen Rahmen sind möglich und honorarfrei. Die Verwendung von weiteren Ausschnitten müssen mit dem Verfasser, dem Tagungsbüro oder dem Piper-Verlag geklärt werden.

© 2000 ORF Landesstudio Kärnten.


© 01.07.2000