Annegret Held
Hesters Traum - Romanauszug
Wofür Schrippen eigentlich gut
war, wußte hier auch keiner. Am Morgen ging er ins Dorf und
holte im kleinen Konsum Schrippen. Weil er immer Schrippen statt
Brötchen sagte, nannten ihn die Leute Schrippen. Und als wir
hörten, daß die Leute ihn so getauft hatten, da nannten
wir ihn auch Schrippen. In Wirklichkeit hieß er Dietrich,
glaube ich. Das hatten wir bald vergessen. Schrippen aß immer
Kirschen vom Baum. Als hätte noch kein Mensch vor ihm entdeckt,
daß es Früchte gab. Er nahm zwei und hängte sie
über seinen Zeigefinger und ließ sie baumeln. Betrachtete
sie zuerst. Hielt sie hoch, damit jeder sie sah. Und weihte sich
dem Augenblick, wenn sein Mund aufging, sie aufzunehmen und zu verschlingen.
Die winzigen Kirschen verloren sich vollkommen in Schrippens offenem
Rachen. Sie zerspritzten sicherlich in seinem Gaumen, vom Zungenschlag
zermantscht, bis dann ein kleiner, zerquetschter, weinroter Rest
den Schlund herunterglitt und seine nackten Steine den vollen Lippen
Schrippens überließ, die sie sanft wieder herausglutschen
ließen. Sehr sinnlich sei dieser Garten, sagte Schrippen.
Alles sei sehr sinnlich. Darum lag er Tag und Nacht darinnen, umkränzet
von Blumen und Brombeeren und Birnbaumblättern. Er könne
spüren, wie der Wind sanft über seine Lenden streiche.
Sonst strich ja auch niemand. Schrippen achtete auf die Gefühle,
die die Natur seinem Körper beibrachte. Das kalte, frische
Flußwasser auf der Haut. Der Geruch der Brennesselmeere am
Ufersaum für seine Nase. Die Kirschen für seinen Mund.
Schier alles ließ Schrippen sich gefallen. Badete sich wolllüstig
wie ein Säugling im Schoße des rankenden und blühenden
Gartens und hatte keinerlei Ansinnen, etwas anderes zu tun. Dabei
hatte er den Leib von Sean Connery. Mit weißem kurzgeschorenen
Haar und leichter Tonsur auf dem Hinterhaupt, Schrippen sah gut
aus. Wir mußten uns noch an die kurzen Haarschnitte gewöhnen,
wir waren ja alle langhaarig. Aber ansonsten - ein ganzer Kerl.
Mit der Kraft eines Berserkes, eines Schiffeversenkers, eines bäumeentwurzelnden
Rübezahls. Aber Schrippen verbrauchte seine Kräfte ausschließlich
unter Wasser. Am Abend stieg er die Flußböschung hinunter,
tauchte in das kühle Nass zu den Fröschen und Olmen, spannte
dann seine meterlangen Arme aus, drängte sich brustwärts
gegen die Wasserwände und schwamm los. Er lernte bald, wo die
Steine auf dem Grund lagen und wo die tiefliegenden Äste die
nassen Säume streiften, er wusste, wo der Schafsbach zufloss
und wo der Strom sich bald beeilte, kurzum, er studierte den Fluss,
er studierte ihn, wie nur einer studieren kann, der den ganzen Tag
auf einem einzigen Fleck gelegen hatte. Beim Nachtessen erzählte
er dann, strahlend, freudig, stolz, was er alles gelernt hatte vom
Scharenbach, wie weit er gekommen war und welche Tiere er gesehen
hatte, wie schön das Land war, das er durchschwamm. Schrippen
verweigerte die Leistung. Selbst wenn er etwas hätte leisten
wollen, verhinderte dies sein Spätflegeltrotz, denn der Trotz
richtete sich derart gegen alles und alle, dass er sich am Ende
sogar gegen seine eigene innere Stimme wandte. Schrippen gefiel
uns. Er war richtig. Von allen, die gegen das Leistungsprinzip waren,
verhielt sich Schrippen diesbezüglich vollkommen. Er taugte
also genaugenommen für uns lediglich als lebendes Symbol für
unsere Prinzipien. Sonst war er für nichts gut, vielleicht
noch um Brötchen zu holen. Aber wieso sollte ein Mensch immer
für etwas gut sein? Wieso? Wir mochten ihn und hatten ihn einfach
mitgenommen, da lag er nun umkränzet im Garten und da ließen
wir ihn eben liegen und da lag er auch gut.
Wir arbeiteten so gerne in diesem Sommer.
Das Einreißen der Wände mit Schlaghämmern war den
Männern eine staubeswolllüstige Angelegenheit und der
Widerstand der Lehmwände überstieg auch nicht die Kraft
ihrer dürren Stadtkörper, die nach dem sporadischen Steineschmeissen
der letzten Jahre noch etwas von der Schlagwut, Durchbruchswut und
Besetzungswut mitgebracht hatten. Das war das Berliner Erbe. Nach
wenigen Stunden zitterten ihre Oberarme und die Unterhemden klebten
an ihren Körpern, aber der Rausch des Einreißens war
nicht vorüber. Sie schlugen zu nach Instinkt, das hatten sie
von der Straße. Aber am Nachmittag waren sie mit der Kreuzberger
Kraft doch am Ende und sie tauchten in den Fluss und legten sich
zu Schrippen in den Garten und kamen von da an nicht mehr hoch.
Da nahmen Maritta und ich die Schlaghämmer nochmal und begannen
mit ungeheurer Freude im heißen Haus den brüchigen Mörtel
aus dem Gerippe des Fachwerkes zu brechen. Die Türen und die
Fenster standen auf und bald schon schien der leise Wind der Landschaft
durch das Haus zu fegen und frische Luft fuhr durch die Wandgefächer,
und wenn der Luftzug nicht gekommen wäre, dann wären wir
vielleicht in den Wolken von Staub und Gerüchen erstickt. Der
Staub legte sich auf unsere nassgeschwitzte Haut und setzte sich
in unsere Nasen und Augen. Aber auch die Gerüche nahmen jetzt
überhand, aufgewühlte Ladungen aus jahrealten, stillstehenden
Dunstkonserven stiegen empor in aufgescheuchten Schwaden und Modergestank,
Schmodderkränze und Fäulnis stiegen uns entgegen. Es roch
nach der alten Seitz. Nach schimmeliger Blutwurst und vergessenen
Einmachgläsern, in denen nur noch uralte Birnen in Auflösung
flockten, es roch nach Selbstgeschlachtetem von vor fünfzig
Jahren, nach Altweiberleins Ausscheidungen, ungelüfteter Wäsche
und nach behelfsmäßigem Klo. Wir husteten und spuckten,
hielten uns die Nasen zu und hieben immer weiter. Wir wollten eine
alternative Pension aufmachen. Wir dachten daran, jeweils zwei Zimmer
beieinanderzulassen, damit eine Familie oder ein Paar darin leben
könnten. Unten die Räume der Seitz konnte man zu Einzelzimmern
herrichten. Jedenfalls würde die Wohneinheit jeweils ein Bad
brauchen. Und dann noch auf jedem Stockwerk einen Gemeinschaftsraum
und einer Küche. Oben mußte das speissverschmierte und
zugeklebte Fachwerk wieder herausgearbeitet werden, und das Dach
wollten wir vollständig ausbauen. Es sollte quer über
Haus und Scheune hinweg die Kernwohnung der WG werden, in der wir
leben wollten. Mit Matratzenlager und Küche und Wohntisch.
Maritta wollte uns alle zusammen haben, damit sie nicht mit Schorsch
alleine leben mußte. Benno bedingte sich ein Einzelzimmer
aus, Schrippen ebenso. Ich nahm mir vorsichtshalber das Kämmerlein
zwischen den Stockwerken, das liebte ich besonders. Ansonsten schlief
ich gerne mit den anderen in einem riesigen Lager zusammen. Es ähnelte
einem Pennerlager unter der Brücke. Aber auch wir hatten die
Gemütlichkeit von Außenseitern, die zusammen gehören.
Wir wickelten uns am Abend in eine einzigem Gelage zusammen und
bildeten mit den Körpern in den Decken und Schlafsäcken
ein wohliges, hügeliges Auf und Ab.
Es war heiß, ich hatte mir die
Haare zu einem dicken Zopf zusammengeflochten und dennoch blieben
mein Nacken und der Rücken den ganzen Tag feucht. Im Rock ließ
sich nicht arbeiten, also trug ich meine Jeanshose, die ich kurz
abgeschnitten hatte, und ein altes Herrenunterhemd dazu. Ich schleppte
Eimer um Eimer alten Mörtels hinaus, den die Männer aus
den Wänden herausgeschlagen hatten. Auch Joshua hatte einen
dicken Hammer bekommen und die Arbeit machte ihm einen gewaltigen
Spass. Die kleine Maximiliane rannte zwischen den freigelegten Streben
und kletterte im Fachwerk herum. Sammelte ein Häufchen Staub
und ließ es Joshua auf den Kopf rieseln, der unter ihr den
Balken sauber abkratzte. "Hör auf du dumme Sau!"
schrie Joshua. "Das ist aber ein ganz schön starkes Wort,"
sagte ich. "Ferkel hätte doch auch genügt."
Maxi aber machte ungerührt weiter und entfachte einen solchen
Zorn bei Joshua, daß er aufsprang und sie von ihrem Holzbalken
herunterstieß. Maxi schlug auf dem Boden auf und verletzte
sich das Knie. Sie heulte sofort los und schrie nach Maritta. Joshua
blickte starr unter sich und kratzte Mörtelreste weg. Maritta
kam und schnappte sich Maxi und zog sie auf die Knie. "Mensch,
was war denn, du blutest ja!" "Der Joshua hat mich vom
Balken geschubst!" Einen Moment lang sagte Maritta nichts.
Dann drehte sie sich zu Joshua um, weiß vor Wut und dann sagte
sie: "Weißt du, daß das eine typisch männliche
Form ist, sich abzureagieren? Weil Männer in aller Regel nicht
dazu in der Lage sind, Konflikte auf sprachlicher Ebene zu lösen.
Schwach, Joshua. Sehr schwach." "Aber sie hat mir immer
Dreck auf den Kopf geschüttet!" Joshuas Stimme wurde dünner.
"Scheiße ist das. Einfach Scheiße. " Maritta
drehte sich kühl weg und bedeckte Maxis Knie mit kleinen Küssen.
"Meine Ärmste, meine Kleine, das wird bald wieder gut.
Da machen wir ein Pflaster drauf." "Aber hör dir
doch wenigstens an, was er zu seiner Verteidigung zu sagen hat,"
sagte ich vorsichtig. "Es gibt keine Verteidigung bei körperlicher
Gewalt." "Maxi hat ihn provoziert." "Mensch
sie ist noch ein Kind!" "Aber Joshua ist auch noch ein
Kind." "Das wird ein schöner kleiner Chauvi, merkst
du das nicht? Halt du dich da raus," sagte Maritta. Nahm Maxi
und ging mit ihr fort. "Tut mir leid, Joshua," sagte ich.
"Ich bin der Meinung, daß du sie zwar nicht so stoßen
durftest. Aber ich glaube auch, daß deine Mutter jetzt nicht
fair zu dir war." Wenigstens wollte ich in diesem Punkt Maritta
nicht in den Rücken fallen. Joshua jedenfalls antwortete nicht.
Er kratzte noch ein wenig mit der Spachtel am Mörtel, aber
im großen und ganzen hatte er den Spass an der Arbeit verloren.
Was ich sagte, half nichts, er schien nicht zuzuhören, warf
dann die Spachtel hin, lief hinaus und verdrückte sich irgendwo
in den Wäldern. Für den Rest des Tages habe ich ihn nicht
mehr gesehen.
"Vier Eimer fetter Lehm, zwei Eimer
Stroh, zwei Eimer Pferdemist, nullkommavier Kilogramm Haare,"
las Schorsch vor. "Und das Stroh muß immer sechs Zentimeter
lang sein. Habe ich nachgemessen, das stimmt so." Schorsch
studierte die Bücher der alten Handwerkskünste mit dem
überschäumenden Eifer eines Idealisten, in perfekter Kombination
mit einem natürlichen schwäbischen Häuslebauertrieb.
Es begann also mit dem Haus. Aus der Erde schaffen, wie die Naturvölker
es taten, wie es die ersten Menschen taten: eine Hütte aus
Lehm haben. Und so wie sie damals Lehm gesucht hatten, so hatte
auch Schorsch überall danach gesucht und er hatte ihn gefunden
in einer alten Grube, die ihm ein Bauer gezeigt hatte. "Da
wo die Kratzdistel wächst." Wo die schmutzig-schönen
violetten Gräslein aus ihrem Bastkörbchen ragten und darunter
die stachelig gewimperten Blätter mit spitzigen Dörnchen
hervorkamen, dort hatten wir den Lehm gefunden. So hatten wir billiges
Baumaterial, alles war praktisch umsonst, die Weiden wuchsen einfach
so, die Haare holte Schorsch vom Friseur, und wer wollte schon Geld
für Pferdeäpfel nehmen? Wir lebten, wie wir wollten, von
dem, was uns die Erde gab. Die Erde. Schorsch redete viel von der
Erde, denn er hatte den Papalagi gelesen. Die Reden des Südseehäuptlings
Tuiavii aus Teavea an seine Stammesmitglieder. Und da er sonst nichts
gelesen hatte außer Plakate, Spruchbänder und Flugblätter,
war der Papalagi sein Gebetbuch. Das Haus war also von Anfang an
Schorschs Sache. Er arbeitete mit dem Lehm wochenlang. Stand früh
auf und mixte und schmierte, und seine Öko-Handwerksbücher
lagen überall mit Mörtel bespritzt und von Wasserflecken
gewölbt herum. Wir hatten die brüchigen Lehmgefächer
leergeräumt um sie mit frischen Lehmwänden zu füllen.
Wir fügten Eichenstaken in die Kerben der oberen und unteren
Waagrechten und darum musste ich Weiden flechten. Die Weiden am
Flußufer suchen, mit Joshua daraus schnitzen, das hatte ich
von meinem Vater gelernt. Ein Weidengeflecht. Die Biegsamkeit der
dünnen Ruten in meinen Händen, das senfartige Grün,
die zarten Reifen im Abstand ihres Wachstums, ich hatte wohl die
schönste Arbeit im ganzen Haus. Schorsch aber hing auf beiden
Knien vor dem allerersten Gefach, nahm die hölzerne Kelle und
strich andächtig die erste Schaufel Lehm über das Geflecht.
Es hielt. Er prüfte noch einmal, wie fest die Eichenstaken
waren, aber sie waren gut und fest im Holz. Während er den
tonigen Brei über das Geflecht verteilte, beugte er den Kopf
schief nach vorne, wand sich beinahe mit in das Gefach hinein, um
den Balken auch von unten zu sehen, er hatte die Unterlippe eingezogen
und sein Mund stand halb offen. So konnte man leicht stöhnen.
Es entrang sich auch hier und da ein Seufzen, ein Seufzen und ein
Schmachten, das begeistert mit den Lehmmassen mitging und seinen
gesamten, mageren Körper mitnahm, bis seine dünnen, blonden
Tigerhaare im Nacken zitterten. Natürlich hatten wir ihm alle
geholfen, außer Schrippen, aber im Vergleich zu Schorsch,
war unsere Mitarbeit kaum der Rede wert. Im Spätsommer vollendete
er Innenwände, verputzte sie weiß, reinigte die Balken
und strich sie nochmals mit Holzschutz. Einen Tag ruhte er sich
aus. Und an einem gewöhnlichen Mittwochmorgen stand er wieder
auf und begann, das Linoleum herauszureißen. Maritta sah ihn
schuften und legte ihm von Zeit zu Zeit zufrieden ihre Hand auf
den Nacken, wie eine gnädige Königin, der man auf allen
Vieren einen Palast baute. Als der Sommer vorbei war, hatte Schorsch
eine kräftige Farbe bekommen, Muskeln und Oberarme von der
Gestalt eines Bergkletterers, rauhe Hände und ein stures Gesicht.
Er arbeitete wie besessen, achtzehn Stunden am Tag. Das wunderte
uns nicht. Schorsch hatte sein ganzes Erbteil aufs Spiel gesetzt.
Für die zusätzliche Schuld hatten wir alle unterschrieben.
Und so hingen an jedem von uns im Sommer 1982 je fünfundzwanzigtausend
Mark.
Der Duft von Zinnien und Kapuzinerkresse,
von Kamille, Kerbel und Klee überströmte den Garten. Ich
liebte die Gänsedisteln und die Schafgarben, die zerrissenen
Brombeersträucher und die Dornschlehen, ich liebte alles, was
um das Haus herum ungestüm aus der Erde schoss und mir beim
Laufen um die Beine schlug. Die Grasbüschel standen hoch an
der Wand entlang, in runden Ansammlungen, konnten die überlangen
Gräser nicht mehr halten, lang und aufgeschossen knickten sie
oben um. Doch dann fuhr eine mächtige Hand hinein, eine Hand
mit weißen Härchen, an den Gelenken etwas geschwollen,
packte sie und riß sie aus. Und zwar tat sie das mit solcher
Wut, als ob es darum ginge, jemanden an den Haaren aus den Sümpfen
zu ziehen. Da gab es nicht viel Federlesen. Schrippen riß
alles aus der Erde, was ihm an dem steinernen Fundament entlang
entgegenkam. Farne, Efeu, Holunderbüsche, einfach alles. Warf
es auf einen Schubkarren und kippte es in den Hof. Es war der Tag,
an dem Schrippen beschlossen hatte, zu arbeiten. Er wollte keineswegs
den Schuppen aufräumen oder die Tür reparieren oder die
Fenster dicht machen. Nein, er hatte sich nicht mehr und nicht weniger
vorgenommen, als von dem gesamten Haus rundherum die alte, rosé
Farbe abzukratzen und es danach weiss zu verputzen. Dazu war er
angetreten in seinen schwärzlichen Turnschuhen mit den vielen
Knoten im Schnürsenkel und in einer langen Herrenunterhose,
was wiederum dazu führte, dass den ganzen Tag die Leute aus
dem Dorf stehenblieben und herüberschauten. Wir waren weder
der Meinung, daß er unbedingt sämtliche Fauna und Flora
ausreissen mußte, noch daß er es hinten in den Hof kippen
sollte. Aber die Kunst unseres Miteinanders bestand darin, sich
gegenseitig nichts zu sagen. Also sahen wir stumm zu, wie Schrippen
uns in den Garten einen großen Haufen machte. Wir vermuteten,
daß er dort liegen bleiben würde, bis sich jemand von
uns seiner erbarmte. Wenn Schrippen auch so tat, als sei er inbrünstig
von seinem Vorhaben überzeugt, hatte er offenbar noch kein
Verhältnis dazu gefunden. Er arbeitete gegen das Haus, gegen
die Sträucher, als kämpfe er unstet mit einem Drachen,
als hätte man ihn gezwungen, den Drachen besiegen zu sollen.
Darum das Gewüte. Vielleicht war es auch einfach so, daß
sich der Körper nach den langen Liegejahren über eine
Tätigkeit freute und so die Kräfte in ihm förmlich
explodierten. Er hatte keine Gewalt mehr über die entfesselte
Arbeitswut. Jedenfalls war es für uns alle eine Freude, Schrippen
arbeiten zu sehen. So eine Freude, daß dauernd einer von uns
aus dem Fenster sah, um die Wände lugte und im Hof stehenblieb,
wir ergötzten uns, wir belustigten uns ingrimmig, Schrippen
zuzusehen. Jupp hatte ihm angeboten, ihm zu helfen, aber er wollte
ja nicht. Und so hatte Jupp lediglich den langen Riß in der
Giebelwand verputzt, ansonsten war er im Keller zugange und bereitete
der ewigen Heimat unserer Frösche ein grausames Ende. Schluß
mit den Pfützen. Ende mit dem Mauerfraß. Jupp legte den
Keller vorläufig trocken und goß ihn mit Harz aus - und
das tat er weißgott gründlich. Wenn man Schrippen arbeiten
sah und Jupp daneben, da konnte einem bei Jupp das Herz schmelzen.
Ich weiß nicht, wieso ich so angerührt davon war, wenn
jemand seine Arbeit gut und mit Liebe versah. Aber das brachte mich
einfach zum Schmelzen. Diese Fürsorge. Die Hingabe. Und eben,
als ich noch darüber nachdachte, wie die beiden Männer
arbeiteten, ich stand im Hof mit dem Komposteimer, da merkte ich,
wie jemand hinter mir angeschlichen kam, um mich zu erschrecken.
Ich dachte, es sei eines der Kinder und hielt mich ganz still, um
die Überraschung nicht zu verderben. Doch was kam, war ein
mächtiger Arm, der sich genau von hinten um meinen Leib legte.
Es war Jupp. Ich hatte ihn offensichtlich herbeigedacht. Aber jetzt
war ich wirklich erschrocken. Der Arm um den Leib war so kräftig.
So unmißverständlich. So gut, daß es Konsequenzen
haben mußte. Ich war froh, daß er einfach den Arm um
mich gelegt hatte. So war ich der Frage enthoben, ob es mir recht
sei. Ich konnte sogar erst einmal mit weitem Blick über die
Brennesselmeere schauen und mich beruhigen. Das heisst, er ersparte
es mir auch, ihm direkt in die Augen zu sehen und das volle Ausmaß
dessen zu bemerken, was da vor sich ging. Einstweilen war es nur
ein kräftiger Arm um meinen Bauch, was heißt nur. Ich
musste erst einmal Luft holen. Dann eine Wange an der meinen. Ein
Atem, der stossweise ging und schnaufte. Und so hatte ich den ganzen
Konflikt am Körper. Einen Arm, der gut war und der mich hielt,
wie sich alle Frauen der Welt einen Arm wünschen, der sie halten
kann. Dann am Ohr der Hinweis auf die ganze physische Wahrheit,
die sich hinter mir befand, Jupps gesamte Beschaffenheit. Groß,
schwer, mein Gott, Jupp war dick. So dick, daß seine Wangen
am Kinn eine sanfte Hängeschleife bildeten, durch einen Bart
gemildert, durch Grübchen verschönt, dennoch schwer herabhängend,
wie bei einem Trompeter in höherem Alter. Ein übermäßiger
Bauch, den ich jetzt am Rücken spürte, wie er sich weich
an mich drückte, weich wie ein Sofakissen, nachdrücklich,
beständig. Ein Mann wie ein Baum sagte ich mir. Ein Mann wie
ein Schwamm, kam mir ein Gedanke dazwischen. Ich geriet in einen
Konflikt, in dem sich die Argumente um schön oder nicht schön
stritten, oder eher: annehmbar oder nicht annehmbar, wie unwürdig,
aber die Frage war, konnte ich das kurze Atmen aushalten oder nicht.
Das war es doch. Denn im Herzen hätte ich mich allezeit für
ihn entschieden. Es war sein Wesen. Sein Wesen passte zu dem meinen.
Alle seine Kinder hätten noch zu mir gepasst, die hätte
ich alle mitgewiegt auf meinen Knien, auf meine Knie passten reichlich
Kinder. Ich hatte mir geschworen, in diesem Leben lieben zu lernen
mit solcher Ausschließlichkeit, daß es die Frage krumme
Beine, dicke Finger, lange Nase einfach nicht gab. Ich erinnerte
mich an die eigenen Versprechen, die ich mir gegeben hatte. Ich
wollte kein Liebesbedürfnis zurückweisen. Säbelbeine,
Leberflecke, Hühnerbrüste, rote Wangen, Schmachtaugen,
vollkommen egal. Und immer wieder stellte ich mir vor, wie es mir
gelingen könnte, genau diese weißbehaarten Schenkel,
diese schmale Brust und jenen lichten Hinterkopf zu lieben. Immer
wieder im Geiste über diesen Kopf streichen, bis jegliche Widerstände
in mir verschwanden und sich in eine tiefe Zuneigung transformierten.
Ich wollte lieben, bis mir die Gebrechen zum Vergnügen wurden.
Aber jetzt hielt ich meinen Argumenten von damals nicht stand, weil
ich mich unversehens auf einmal ekelte. Meine Großmutter hat
immer gesagt: es hat sich ja niemand selber gemacht. Aber Jupp hatte
eben doch noch eine ganze Menge mehr aus sich gemacht. Wie kam ich
bloß aus diesen Gedanken heraus. Jetzt ließ Jupp mich
los. Da spürte ich ein leises Ziepen in den Haaren, das Wohlgefühl,
das einen überläuft, wenn einen etwas zart im Nacken am
Haaransatz berührt. Jupp roch nach Kunststoffharz. Dann biß
er mich ins Ohr. Dasselbe Gemisch wie vorhin. Wohlgefühl und
Abwehr. Konnte ich diese biologischen Reaktionen nicht übertölpeln?
Konnte ich nicht selbst entscheiden, welche Emotionen ich haben
wollte? Mein Gott, mußte er mir denn mit der dicken Lippe
ins Ohr beißen, wo ihm doch der Atem so laut ging. Er ruinierte
ja wieder alles. Ich kämpfte ohne Ende. Was, wenn es darum
ging, seine Liebe zu erwidern. Es war doch Liebe, oder nicht? Vielleicht
nicht für die Ewigkeit. Vielleicht für den Augenblick?
Konnte ich Jupp nicht wenigstens einen Augenblick lang lieben? Soweit
war ich, als mich Jupp auf einmal fester packte, so daß mir
die Hüften ins Schwanken gerieten, förmlich in seine untere
Hälfte gedrückt wurden, gleichzeitig aber seinem Mund
ein schweres Seufzen entglitt, was heisst da Seufzen, es war ein
ängstliches oder liebendes Stoßseufzen, nein, es war
ein Keuchen. Anders konnte man es nicht nennen. Ein Keuchen. Und
genau dieser Laut verursachte in mir einen Impuls, der mich selbst
mehr erschreckte als ihn, nämlich ein einziges Herausdrehen
aus seiner Umarmung, eine Spirale innerhalb der Umarmung, ich entzog
mich, meine Hand war erhoben wie zu einem Schlag, jawohl, ich wollte
ihn schlagen, wegschlagen. Zu allem Umstand hinzu, hatten sich Haare
an meinem kunstvoll geschmiedeten Armreif verheddert, so daß
sich eine Strähne darin verfing und zwischen uns auffächerte,
wie eine Gardine, ein unfreiwilliger, goldbrauner Schleier. Das
sollte schön aussehen, ein schönes Bild der verschleierten
Situation, aber wir standen voreinander wie zwei Tölpel. Auge
in Auge, schockiert, betreten, mit hängenden Armen. Jupp hatte
sehr, sehr hängende Arme neben seinem mächtigen Bauch
im Blaumann. Unbeholfenheit. Die verband uns. "Verzeihung!"
stammelte er tief bekümmert. Die Bekümmerung hingegen
landete bei mir goldrichtig, es tat mir alles so leid. Ich wollte
doch nicht zurückweisen, verdammtnochmal. Ich glaube, dass
meine Liebe zu Jupp erwachte in dem Augenblick, als ich ihn zurückstieß.
Als er rot vor Scham mit übermäßig baumelnden Armen
zutiefst zerknirscht vor mir stand. Wie konnte ich diesen Stoß
wieder gutmachen, so tun, als hätte ich nicht gemeint, was
ich gemeint hatte? Wie diese Demütigung wieder aufheben und
ihm die Ehre im nachhinein retten? Ich verzweifelte und starrte
ihn an, schrie heimlich zum Himmel in meiner Verlegenheit - bis
ich auf einmal die genialste Eingebung hatte, die mir der liebe
Gott auf Schnelle ins Hirn hineinzuflüstern vermochte. Ich
berührte Jupps Unterarm, um ihn am Baumeln zu hindern, sah
ihn fest an und fragte: "Wie geht es Irmgard?" Das war
genug Ausrede für mein Wegstoßen. Die Frage barg die
Erlösung und öffnete gleichzeitig einen neuen Krater,
eine weitere Wirklichkeitsschlucht. Jedenfalls richtete Jupp sich
wieder auf, und das war erstmal das Wichtigste. "Nun...."
Doch mit dem kratzenden Schrippen, der wie ein riesiger Spatz auf
dem wackeligen Gerüst über der Haustür hing, und
mit den schreienden Kindern am Fluß kamen wir nicht weiter.
Jeden Moment konnte eines der Kinder herbeikommen und mich anfallen
und Hunger und blutige Knie und Beschwerden über ein anderes
Kind an mich herantragen. Darum packte ich Jupps Hand und zog ihn
hinter mir her in den Stall. Dort waren wir alleine. Vor uns hingen
die alten Ringe zum Festbinden längst verschiedener Kühe
und rechts davon, mit modrigem, weißlichen Pelz bedeckt, war
die Mauer zum Schweinepferch und auch der Trog, in dem einstmals
unzählige Schweinerüssel fast hundert Jahre ihre Schnauzen
tunkten. Die Egge stand an der Wand und ein Stoß Kartoffelsäcke
lag in der Ecke, ein Schwarm von Fliegen summte um uns herum. Wir
setzten uns gegenüber, ich auf den Melkschemel und Jupp auf
die Kartoffelsäcke. Schön dunkel war es und der helle
Tag gleisste scharf ausgeschnitten durch den Stalltürbogen
herein. So war das im Stall. Und Jupp fing an zu reden. Wie das
war mit Irmgard. Wie sie dauernd davonlief. Die kettensprengende
Frauenbefreiung hatte uns alle so befreit, daß manche so davonliefen,
das sie den Weg zurück nicht mehr fanden. Und er sagte was
von Strassentheater und der Gruppe "Friede den Hütten"
und Freaks, Irmgard bei den Freaks und dass Baghwan gesagt hatte,
nur soviel mitnehmen, wie man in einer Hand lose tragen kann. Ich
hörte Jupp nicht zu, wie er redete. Umständlich und mühevoll
und schmerzensreich. Jupp im Stall. Ein Josef gehört in einen
Stall. Und während er redete, war es mir leichter, ihn anzufassen.
Vielleicht, weil er es nicht so merkte. Ich fasste ihn an der Hand,
dann am Unterarm. Und diesmal war ich froh, das meine Hände
so gross waren, denn wenn sie Jupp in seiner ganzen Macht bewältigen
wollten, dann waren sie eben richtig. Jupp merkte es wohl, daß
ich ihn berührte. Vielleicht aus Angst, ich könne aufhören,
sprach er immer weiter, redete unaufhörlich von Irmgards Sünden,
grub Sünden aus, die schon gar keine mehr waren, liess sich
neue einfallen, machte Irmgard schlechter und schlechter, fing an
zu erfinden und zu fabulieren, damit ich nicht aufhörte. Und
ich hatte längst aufgehört ihm zu lauschen. Vielmehr schloss
ich die Augen, weil ich dachte, ich könnte Jupp dann besser
sehen. Das war richtig. Denn als ich die Augen schloss, begannen
meine Hände ganz einfach und vollkommen sicher zu wandern,
legten sich auf seine Knie, auf seine Brust, auf seine Wange. Ich
machte ihn mir vertraut wie eine Blinde. Nach und nach, Bein für
Bein, Schenkel für Schenkel, Knie für Knie, nahm ich ihn
an. Den Bauch, die Brust, die Kehle. Rippe für Rippe, Schulter
für Schulter, Schlüsselbein für Schlüsselbein.
Und über jedes Körperteil, das ich mir eroberte, glühte
ich auf einmal vor Stolz. Ich eroberte ihn wie Flecken auf einer
Landkarte, so wie ich zugleich unbekannten Flecken in mir selbst
eroberte und etwas von mir fand, das ich noch nicht gekannt hatte.
Vielleicht schaffte ich es nicht ganz heute. Vielleicht würde
ich es morgen wieder machen müssen und die Hände, die
Finger, die Gelenke einzeln anfassen und aufs neue anfassen und
mir vertraut machen müssen. Und es konnten Wochen darüber
vergehen. Hier im Dunkeln jedenfalls war die Begegnung vollkommen.
Sie war so vollkommen, dass ich mit der Handinnenfläche auf
seiner Wange etwas Nasses spürte und seine Geschichten verstummten,
ein Naseziehen erklang, und das war es. Wir neigten uns. Wie durch
natürliche Schwerkraft. Eine Neigung der Oberkörper, sich
aufeinander zu zu bewegen, wie selbstverständlich, bis ich
meinen Kopf auf seine Schulter legen konnte und er meinen Nacken
fasste. Dann küsste ich ihn. Es war mein schwerster Kuss gewesen
und darum auch mein schönster, und er eröffnete in mir
einen Strom von Liebe. Darauf war ich nicht gefasst gewesen. Aber
so hat es angefangen, inmitten von Sensen und Fliegen und im Geruch
von modriger Schweinevergangenheit und Kunstharz, Jupp wie der Kellyvater
auf Kartoffelsäcken und ich in meinen alten Röcken. Doch,
so wie wir aussahen, standen wir einander gut. Ja. Wir standen uns
gut und hatten zueinander gefunden, ganz blind und still.
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