Mütter und Fahrzeuge
Es begab sich, dass meine Mutter aufgeregt
war. Sie war irritiert. Sie hatte Weizenkörner im Haar.
Das Problem bestand darin, dass mein Volkswagen
wegen umfangreichen Schweißarbeiten am Auspuff in der Werkstatt
stand, die Angelegenheit jedoch keinerlei Aufschub duldete. Frl.
Ursula wollte das Geplante sofort in die Tat umsetzen. Ich alleine
war skeptisch. Für Frl. Ursula bestand nicht der geringste
Zweifel, dass es mir ohne Schwierigkeiten gelingen würde, ein
Ersatzfahrzeug aufzutreiben. Das könne doch kein Problem sein,
sagte sie. Und so, wie sie es sagte, hätte man es fast glauben
können.
Dass durch die eigene Mutter überhaupt
keine Beschädigung der Seele stattfinden kann, halte ich für
vollkommen ausgeschlossen. Mütter wollen schließlich
immer nur das Beste für ihre Kinder. Vor allem für die
Söhne wollen Mütter stets das Beste. Sie sollen Rechtsanwälte
werden. Es gibt Statistiken, die besagen, dass sich 88 Prozent aller
Mütter sehnlichst den Rechtsanwaltsberuf für den Sohn
wünschen. Wenn man nun davon ausgeht, und man kann davon ausgehen,
dass auf jeden Anwalt mindestens ein Mandant kommen muss, bedeutet
dies nicht mehr oder weniger, als dass 38 Prozent aller Mütter
ihre Söhne in die berufliche Aussichtslosigkeit treiben. Und
deshalb haben wir auch so viele Taxifahrer, die auf Scheidungsrecht
spezialisiert sind.
Noch am selben Abend musste es sein, soviel
war klar. Der Film lief spät, soweit ich mich erinnere ab 23.00
Uhr. Solche Filme liefen auch damals ziemlich spät. Das Autokino
befand sich weit ausserhalb im düsteren Osten unserer Stadt,
den ich stets nur unter Protest oder eben in Fällen, in denen
es nicht zu vermeiden war, aufsuchte. Ein solcher Fall lag vor.
Das Leben ist schließlich kurz, und der Mensch neigt dazu,
die wenigen gesunden, schönen, erstrebenswerten und elementaren
Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Mann und Frau bewusst
oder unbewusst ins Kontraproduktive zu überführen. Ich
bin übrigens nicht sicher, ob das gentechnisch zu lösen
ist, schließlich ginge die wunderbare Leichtigkeit des Seins
verloren, die mir widerfuhr, als sich Frl. Ursula damals zu mir
in den Opel Ascona setzte, meine Hand nahm und sie zwischen ihre
Beine legte.
Ein Betrag x war lange Jahre angespart worden,
endlich wollte man ein vernünftiges Fahrzeug besitzen. Einen
Jahreswagen. Mein Vater hatte in den heißen Monaten der Entscheidung
nach dem langen Ansparprozess auf ein Fabrikat der Bayerischen Motorenwerke
gedrängt. Er konnte Zeit seines Lebens nie eine emotionale
Bindung zu den eher soliden Fahrzeugen, beispielsweise denen aus
Rüsselsheim, entwickeln, denn meine Mutter definierte den Begriff
Vernunft anders. Meiner Mutter war die sogenannte Dynamik der Bayerischen
Motorenwerke erläßlich. Demzufolge wurden lange Debatten
geführt, in denen mein Vater immer wieder wütend seine
Zigaretten in den Aschenbecher rammte, ohne natürlich auch
nur einen Millimeter Raumgewinn verzeichnen zu können. Er unterlag
und fiel in eine tiefe Depression. Er hat den Opel Ascona, den meine
Mutter schließlich erwarb, Zeit seines Lebens weder gewaschen
noch gelenkt. Er suchte seine Würde in der totalen Verweigerung.
Meine Mutter dagegen fuhr einfach regelmäßig in die Waschanlage.
Es dürfte doch wohl kein Problem sein,
für diesen Abend einen Wagen zu organisieren, sagte Frl. Ursula.
Sie machte die herrlichsten Andeutungen. Es hörte sich an,
als hätte sie schon eine Menge erlebt. Ich blätterte aufgeregt
in meinem Telefonbuch und Frl. Ursula wurde in ihren Ausführungen
immer präziser. Ihre Phantasie schien grenzenlos zu sein. Dann
drehte sie sich um, nicht ohne vor dem Hinausgehen ihren Rock zu
heben, um mir etwas zu zeigen. Die Angelegenheit duldete wirklich
keinen Aufschub. Und ich versuchte alles, obwohl ich von Anfang
an wusste, dass es auf das Fahrzeug meiner Mutter hinauslaufen würde.
Die anderen Fahrzeuge waren in jenen Tagen stark nachgefragt, besonders
abends. Alles, was mir tatsächlich angeboten wurde, war eine
750er Kawasaki, welche nicht geeignet war. Übrigens wollte
auch meine Mut-ter, dass ich Rechtsanwalt werde. Aber als junger
Mensch weigerte man sich seinerzeit natürlich kategorisch.
Ich war in dieser Hinsicht allerdings schon damals ein moderner
Verweigerer: ich entschied mich für Volkswirtschaftslehre.
Und meine Mutter war nach anfänglicher Skepsis durchaus stolz.
Ihr Sohn sollte einmal ein Volkswirt werden.
Nachdem ich mich gründlich vorbereitet
hatte, bat ich meine Mutter um einen Besprechungstermin am frühen
Abend, der schließlich für 18 Uhr anberaumt wurde. Ich
erklärte ihr, dass ich mich am Folgetag einer akademischen
Prüfung zum Thema "mikroökonomische Theorie der Unternehmung"
zu unterziehen hätte und zu befürchten wäre, dass
ich den Anforderungen nicht genügen würde. Ich legte offen,
dass mir beim Stabilitätsproblem zwar klar sei, dass steigende
und sinkende Grenzkosten zu Problemen bei der Partialanalyse führen,
welche die Unabhängigkeit von Angebots- und Nachfragefunktion
voraussetzt. Relevante Fälle aber, beispielsweise die sinkenden
Grenzkosten, wären für mich nicht nachvollziehbar, da
Sraffas, Robinson und Chamberlin hier höchst unterschiedliche
Theorien anbieten würden. Und das zöge unweigerlich die
Konsequenz nach sich, dass mir der komplette Gewinnmaximierungsprozess
schleierhaft bliebe.
Hinzugefügt werden muss, dass es damals
keineswegs nur um Fachwissen ging. Stand und Verfügbarkeit
von Allgemeinwissen hatten bereits zu jener Zeit eine geradezu disparate
Komplexität und einen eigentlich nicht mehr zu bewältigenden
Umfang angenommen. Selbst ein gebildeter Mensch musste zum Beispiel
früher nicht unbedingt über detaillierte Kenntnisse der
Landwirtschaft verfügen. Hätte ich zum Beispiel damals
gewusst, wann Weizen geerntet wird, wäre das alles nicht passiert.
Aber wie hätte ich als Enkel eines angesehenen Mineralwasserproduzenten
je mit der Landwirtschaft in Berührung kommen können?
Fleisch kam bei mir immer schon vom Metzger, da lag doch auch die
Vermutung nicht weit, dass das Brot vom Bäcker kommt. Heutzutage,
ja heutzutage, würde jeder ernstzunehmende Hirnforscher eine
notwendige Wissensreduktion des modernen Homo Sapiens einräumen.
Spezialisten sind schließlich Leute, die so lange in der Glut
stochern, bis sie schließlich und endlich von gar nichts alles
wissen. Man kann und soll sich nicht alles merken. Darauf läuft
es hinaus.
So weit, so gut. Ich kam nun entschlossen
auf den Punkt und beteuerte, es gäbe nur eine Lösung,
nämlich das Problem noch am selben Abend mit einem erfahrenen
und kompetenten Kommilitonen durchzuarbeiten, der allerdings weit
außerhalb der Stadt wohnen würde, genauer gesagt an einem
Ort, der nicht einmal auf den Schienen der Deutschen Bundesbahn
zu erreichen wäre, sondern lediglich per Automobil oder Helikopter.
Wenn nun davon ausgegangen werden kann, und es konnte davon ausgegangen
werden, dass meiner Mutter einerseits kein Helikopter zur Verfügung
stand, sie aber andererseits nur das Beste für mich und meine
Berufsausbildung wollte, war die Wahrscheinlichkeit, das geliebte
Fahrzeug leihweise überlassen zu bekommen, relativ hoch, was
nicht heißt, dass wir ohne ein retardierendes Moment ausgekommen
wären. Meine Mutter, die den Ascona abgöttisch liebte,
bäumte sich geradezu erwartungsgemäß auf und schlug
vor, ich solle mich krank melden und die Prüfung zu einem späteren
Zeitpunkt nachholen. Ich aber war auf diesen Fall vorbereitet, und
behauptete, dies wäre schon wiederholt geschehen und nun nicht
mehr möglich. Es gäbe schließlich universitäre
Regeln.
Ich bekam den Wagen angesichts meiner mangelnden
Fahrpraxis mit einigen Auflagen. So wurde zum Beispiel ein absolutes
Rauchverbot sowie ein Tempolimit von maximal 100 Km/h verhängt,
und ich musste zusagen, die Strecke auf dem kürzesten Weg zwischen
A und B zurückzulegen. Ich erinnere mich auch noch vage an
eine Drehzahlbegrenzung, obwohl das Fahrzeug gar nicht mit einem
Drehzahlmesser ausgerüstet war. Meine Mutter ließ sich
ausserdem bestätigen, dass der Zielort auf geteerten Wegen
erreichbar sei und wies schließlich eindringlich darauf hin,
dass sie eine innere und äußere Verschmutzung des Fahrzeugs
nicht dulden würde. Ich schmutze nicht, sagte ich und dachte
daran, einige Handtücher mitzunehmen. Und dann konnte es auch
schon losgehen. Frl. Ursula trug ein Sommerkleidchen, das nicht
mehr als zwanzig Gramm wiegen konnte, und - wie bereits angedeutet
- nichts darunter. Sie zeigte mir ihren kleinen Pelz, und ich jubilierte
innerlich. Der zarte, blonde Flaum auf ihren Oberschenkeln trieb
mir den Schweiß auf die Stirn. Ich hätte am Liebsten
vor Freude geschrieen. Aber sie küsste mich.
Frl. Ursula war nicht ganz unschuldig am nun
folgenden Desaster, denn sie gab sich sehr kundig und war auch sonst
sehr selbstbewusst. Man hätte also davon ausgehen können,
dass sie das Revier kennt. Je weiter wir dann aber in den Osten
kamen, desto unsicherer wurden ihre Kommandos. Hinzu kam, dass sie
mich während der Fahrt massierte. Es wird niemanden wundern,
dass ich mich in Folge meiner mangelnden Ortskenntnisse sowie eines
gewissen Aufmerksamkeitskonfliktes bald schon nicht mehr auf dem
kürzesten Weg zwischen A und B befand, und Frl. Ursula unter
nahezu unmenschlichen Anstrengungen auffordern musste, ihre Bemühungen
vorerst einzustellen, um mir den Weg zu weisen. Schwer atmend nahm
ich Frl. Ursulas Kommentar zur Kenntnis: Wir würden uns wohl
etwas zu weit nördlich befinden, ich solle bei der nächsten
Möglichkeit rechts abbiegen, das wäre alles kein Problem.
Sie kenne sich aus. Rechts abbiegen, wiederholte ich, um die Anweisung
zu bestätigen. Man könnte freilich einwenden, ich hätte
damals an einen Stadtplan denken können. Dazu fehlte mir allerdings
erstens die Lebenserfahrung, und zweitens gehöre ich zu den
vier Prozent Männern, die sich auch in Puncto Orientierung
gerne auf die Frau verlassen. Umwege erhöhen die Ortskenntnis,
sagte ich mir. Und immerhin musste ich mir keine Ausreden anhören:
Frisurprobleme, Fehlstellung der Gestirne, Unterzucker, Fall- und
Seitenwinde, Kopfschmerzen, Angst vor tierischem Ungeziefer et cetera,
et cetera.
Man täuscht sich eben manchmal in diesen
Dingen. Frl. Ursula dirigierte mich nun, ich hatte also Zeit, über
Visionen nachzudenken. Über die Vorstellung beispielsweise,
ein Geschäftsmann könnte eines Tages eine wichtige Position
in seiner Firma anbieten und aus einer Laune heraus Frl. Ursula
fragen, ob sie sich diese Position zutrauen würde. Die Angesprochene
könnte, so meine Vorstellung, vor Aufregung zwei Mal kurz die
Beine übereinander schlagen. Der Rock könnte zurückrutschen
und die Auserwählte könnte meinen, der Tag ihres Lebens
wäre nun endlich gekommen. Sie würde sich natürlich
beeilen, die Frage zu bejahen. Natürlich würde sie einen
wichtigen Volkshochschulabschluß ins Feld führen. Zusammen
mit den freigelegten Oberschenkeln wären dies doch respektable
Argumente. Der Geschäftsmann könnte in Folge dessen kalten
Herzens die Champagnergläser etwas zu sehr füllen. Etwas
von dem Champagner könnte beim An-stossen zweifellos aus den
Gläsern schwappen und die freigelegten Oberschenkel Frl. Ursulas
benetzen. Selbstverständlich würde der Geschäftsmann
sich beeilen, die der Schwerkraft gehorchende Flüssigkeit mit
saugstarkem, dreilagigem Haushaltspapier abzutupfen. Das wäre
schließlich das Mindeste an auszutragender Höflichkeit,
auch im ständig untergehenden Abendland. Vorstellbar wäre
auch, dass sich Frl. Ursula in einer solchen Situation affirmativ
verhalten würde. Der Geschäftsmann würde sich aufs
Angenehmste beflügeltnach oben arbeiten. Natürlich würde
er sich in diesem Fall relativ schnell vom eigentlichen Reinigungsvorgang
verabschieden. Es wäre denkbar, dass er dicht an Frl. Ursulas
Ohr, ungeheure Zahlen und Wünsche verlauten lassen würde.
Ausserdem könnte er doch auch feststellen, dass Frl. Ursula
wohl vorbereitet, ja in gewisser Weise vorausschauend in dieses
geschäftliche Treffen gegangen wäre. Frl. Ursula könnte
schließlich kein Höschen tragen. In diesem Fall wäre
beider Verhalten aus der Sicht der Strategie des Bedürfnisses,
Diogenes` skandalöseste Geste übrigens, zu interpretieren.
Ob Zahlen und Wünsche des Geschäftsmannes nun Vater oder
Mutter welchen Gedankens auch immer wären, sei dahingestellt,
angesichts der emotionalen Anspannung und der Gesamtsituation. Vorstellbar
wäre auf alle Fälle, dass nun insgesamt die Dramaturgie
entgleiten würde. Vorstellbar wäre eine Vermengung von
Zuständen, Benennungen und Zuversichtlichkeiten: Erregung,
Sehnsucht, Erfolg, Macht, Besinnungslosigkeit, Liebe, Wahnsinn,
Gier und Romantik. Und in all der Aufregung könnte Frl. Ursula
zum Beispiel mit nervöser Hand eine derart flotte Massage leisten,
dass sogar der Geschäftsmann ausser Kontrolle geraten würde.
Es könnte doch passieren, dass er schon nach sehr kurzer Zeit
Flüssigkeit verlieren würde, die beispielsweise wiederum
auf den Oberschenkeln Frl. Ursulas Halt finden und - wie sich nach
einer kurzen Verschnaufpause sicherlich zeigen würde - ebenfalls
der Schwerkraft gehorchen müsste. Allerdings wesentlich langsamer
als der Champagner. In diesem Fall hätte Frl. Ursula den Aufwand
aufs Minimalste beschränkt, und der Geschäftsmann müßte
feststellen, daß man manchmal auch mit der besten Strategie
merkwürdigerweise strategisch bedingt zu schnell an seine Grenzen
stößt.
Jedenfalls schaffte es Frl. Ursula, mich im
Umfeld unserer Millionenstadt auf eine völlig unbeleuchtete
Straße zu führen, die - rechts und links gesäumt
von Stoppelfeldern - ins Nichts zu führen schien. Kilometerlang
nichts als Stoppelfelder rechts und links der Straße, nicht
ein einziger Zigarettenautomat, keine Supermärkte, von Detekteien
oder anderen Auskunftsbüros ganz zu schweigen. Natürlich
war auch der ADAC nicht präsent. Dies war ja nun auch nicht
wirklich zu erwarten. Ich fuhr und fuhr und Frl. Ursula wurde immer
schweigsamer. Nach weit über zwanzig Minuten wurde ich nachdenklich
und dann dauerte es nur noch wenige Minuten bis ich korrekt und
profan vermutete, dass wir von jeglicher Zivilisation völlig
abgeschnitten waren. Es war schon sehr dunkel. Eine brisante Situation
deutete sich an. Man vergesse nicht den stets begrenzten Kraftstoff.
Als Frl. Ursula schließlich zugab, nicht die geringste Ahnung
von unserer Position zu haben, war mir als Kind des Films auch schon
klar, dass ich handeln musste. Und ich ordnete Auftauchen an.
Es herrschte völlige Windstille.
Wenn nicht Windstille geherrscht hätte,
wäre das alles nicht passiert. Wenn an jenem Abend nicht totale
Windstille geherrscht hätte, wäre alles einfacher gewesen.
Aber es herrschte eben Windstille. Und so begab es sich, dass sich
der Weizen nicht bewegte. Erschwerend kam hinzu, dass der Weizen
etwa eineinhalb Meter tiefer als der Opel Ascona auf dieser Straße
stand. Der Weizen stand derart gedrängelt und zusätzlich
exakt eineinhalb Meter hoch im Feld, dass ich der optischen Täuschung
einfach unterlag. Wann immer nämlich die Scheinwerfer die Felder
überstrahlten, musste man angesichts der dicht und unbeweglich
stehenden Halme als Nichtfachmann annehmen, man hätte es mit
einem Stoppelfeld auf Höhe der Strasse zu tun. Jedenfalls nicht
mit so tief wurzelndem Weizen, den man - so sehe ich es heute -
längst hätte mähen können, anstatt die Zeit
damit zu verbringen, das Landwirtschaftsministerium mit Anträgen
zu überhäufen und damit auch die Europäische Union,
damals immerhin noch jungfräulich, zart und zerbrechlich, zu
schädigen.
Ich wollte eigentlich nur wenden, von Rangieren
war nie die Rede. Ich rangiere doch nicht, wenn es nicht nötig
ist. Also fuhr ich in das Stoppelfeld, welches aber nun einmal nicht
zur Verfügung stand. Es krachte. Obwohl ich fabelhaft reagierte,
hingen unsere Vorderräder bald über dem Weizenfeld, der
hintere Teil des Fahrzeugs befand sich allerdings dankenswerterweise
weiterhin auf der Straße. Und nichts ging mehr. Ich schaute
hinüber zu Frl. Ursula. Sie schien kein schlechtes Gewissen
zu haben. Ich stieg aus. Da hing das Fahrzeug meiner Mutter also
über der Böschung. Darin dieses wunderbare Geschöpf,
das sich die Lippen nachzog. Wie sollte ich jetzt noch in den Genuss
dieser Lippen kommen, dachte ich. Ich dachte aber auch an den Auspuff,
der ganz ohne Zweifel zu Schaden gekommen sein musste, und natürlich
an all die langweiligen taxifahrenden Jurastudenten, mit denen ich
in Konkurrenz treten müsste, um den Schaden begleichen zu können.
Und sie hatte kein Höschen an. Drei Mal wollte sie mich in
den interessantesten Variationen verwöhnen. Ich sollte mich
ganz dem Film widmen und sie einfach machen lassen. Ich ging in
die Knie. Sanftmut.
Aber dann bäumte ich mich noch einmal
auf, sprang in das Weizenfeld und gab Frl. Ursula Anweisung auf
den Fahrersitz zu rutschen, den Rückwärtsgang einzulegen
und die Kupplung langsam kommen zu lassen. Ich stemmte mich von
unten gegen die vordere Stoßstange, und sie legte den ersten
Gang ein. Das Fahrzeug machte einen Ruck nach vorne. Man darf sich
in solchen Situationen nicht aufregen. Man muß jederzeit Herr
der Lage sein. Sanftmut muß auch in solchen Situationen die
Mutter eines jeden einzelnen Gedankens sein. Ich war etwas zur Seite
gefallen, nicht der Rede wert, es waren keine drei Meter. Frl. Ursula
machte ihrem Unwohlsein durch lautes Rufen Luft, da das Fahrzeug
drohte, der Schwerkraft nachzugeben. Es wankte. Ohne Hollywood würde
man in einer solchen Situation wahrscheinlich auch vergessen, dass
nie etwas wirklich passiert.
Schließlich rief ich zurück, an
den genauen Text kann ich mich nicht mehr erinnern, wenn ich mich
aber ansonsten erinnere, muß ich zugeben, der Sanftmut wahrscheinlich
für einen Moment abgeschworen zu haben. Ich gab aber schließlich
das Kommando, den Motor abzustellen. Dies geschah, und ich nahm
wieder meinen Platz unter der Stoßstange ein. Wenn du so nett
bist, rief ich, aussteigst und dich auf den Kofferraumdeckel setzt.
Dies geschah, und ich kletterte auf die Straße und zündete
mir eine Zigarette an. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie wenig
Stoff nun diesen Hintern von banalem Kofferraumblech trennte. Was
machen wir jetzt, sagte sie. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen,
damit ihre Waden besser zur Geltung kamen. Ja, was machen wir jetzt,
sagte ich, nahm sie bei der Hand und zog sie vom Kofferraumdeckel.
Das Fahrzeug wankte, aber es fiel nicht. Ich setzte einen Fuß
auf die hintere Stoßstange und drückte leicht. Das Fahrzeug
meiner Mutter krachte ins Weizenfeld.
Jetzt musste ich Frl. Ursula nur noch ins
Weizenfeld hinunterhelfen. Wir nahmen im Fahrzeug Platz. Ich entblödete
mich nicht, ihr den Unterschied zwischen dem Rückwärts-
und den alternativen Vorwärtsgängen kurz zu demonstrieren.
Sie nahm es hin. Sie hatte ja keine Wahl. Was hätte sie auch
sagen können? Es war vielleicht ein wenig unfair, das gebe
ich zu. Dann startete ich den Motor und dann geschah das nicht absehbare:
ich vernahm überraschenderweise völlig normale Auspuffgeräusche.
Völlig normale Auspuffgeräusche! Meine Güte! Bei
dieser Belastung. Gute Arbeit machen die da in Rüsselsheim,
sagte ich zunächst zu mir. Gute Arbeit! Gute Leute muß
man eben haben, sagte ich zu Frl. Ursula, das ist das ganze Geheimnis.
Gute Leute muß man eben haben. Ich legte den ersten Gang ein,
und dann pflügten wir durch das Weizenfeld. Immer an der Straße
entlang.
Man kann sich den Flurschaden vorstellen.
Da trennte sich die Spreu vom Weizen, bei Gott, so platt das auch
klingen mag. Ich musste das Fenster herunterkurbeln und mich außerhalb
des Wagens an der Böschung orientieren, die Weizenkörner
prasselten gegen die Windschutzscheibe, als wollten sie protestieren.
Paris-Dakar kam mir in den Sinn, ich konnte allerdings noch nicht
Mal die zulässige Höchstgeschwindigkeit der deutschen
Straßenverkehrsordnung ausreizen. Die Pflanzen bremsten zu
sehr. Wir waren ein gute Stunde im Weizenfeld unterwegs. Frl. Ursula
benahm sich äusserst gelassen. Sie hatte ein Maß an Sanftmut
angenommen, das mir für immer fremd bleiben wird. Wir schaufelten
uns durch dieses Weizenfeld und sie suchte im Radio nach den Gipsy
Kings. Einige lange Kilometer lang. Aber dann kamen wir endlich
an eine Kreuzung. Und da schrägte sich das Feld gegen die Straße
ab, und ich musste nur noch vorher alles platt walzen, und dann
ein wenig Anlauf nehmen und mit Karacho auf die Straße rauf.
Und so wurde es dann auch gemacht, es blieb mir schließlich
keine andere Wahl. Und dann stieg ich aus und zündete mir eine
Zigarette an. Und das Fahrzeug meiner Mutter sah nicht mehr aus,
wie das Fahrzeug meiner Mutter. Mein Gott, sagte Frl. Ursula, obwohl
nur der schwache Mond herunter geleuchtet hatte.
Immerhin stand an der Kreuzung ein rettendes
Hinweisschild. "Trabrennbahn Daglfing > 3 Km." Es half.
Wir fanden schließlich zurück in die Stadt und zu ihrem
Elternhaus. Es war nicht zu vermeiden, obwohl ich es wirklich liebend
gerne vermieden hätte. Normalerweise nämlich setzte ich
Frl. Ursula in züchtigem Abstand zu diesem Haus ab, dieses
Mal aber musste das Fahrzeug meiner Mutter gewaschen werden. Frl.
Ursula sagte, ihr Vater wäre geradezu perfekt dafür ausgerüstet.
Sie sagte, es werde schon gut gehen. Allerdings stellte sie sich
am Hoftor sehr ungeschickt an. Ich will das gar nicht kommentieren.
Normalerweise steckt man einfach den Schlüssel ins Schloß,
dreht ihn gegen den Uhrzeigersinn und öffnet. Sie aber fummelte,
bis die Vorhänge des elterlichen Anwesens zuckten. Und im hell
erleuchteten Hof wartete dann auch schon ihr Vater mit durchgeladener
Waffe auf mich. Es wunderte mich nicht, denn ich wusste, dass er
mich hasst. Ich war der Inbegriff seiner Phantasie. Sie entschuldigte
den Vorfall später einfach damit, dass ihr Vater in einem Tobsuchtsanfall,
meine Person betreffend, Ideen und Wahnvorstellungen in der Wahrscheinlichkeitsform
von sich gegeben hatte, die sie inspiriert hätten. Sie sagte,
sie hätte das alles sehr interessant gefunden. Sie sagte, sie
hätte das ganz einfach einmal ausprobieren wollen.
Eine relativ konservative Familie eben.
Mein Gott, sagte ihr Vater, als er das Fahrzeug
meiner Mutter sah. Er ließ die Flinte sinken und ging fassungslos
um den Wagen herum. Er war so entsetzt, dass ich schließlich
den Mut fasste, vor ihn zu treten und lückenlos zu rapportieren.
Der Mann erkundigte sich ziemlich genau nach den Hintergründen,
und auch nach meiner Mutter. Dann musterte er mich von oben bis
unten, und dann sah er hinüber zu seiner Tochter, die an ihrem
Sommerkleid herumzupfte. Für einen Augenblick war die Situation
alles andere als eindeutig. Aber dann öffnete er ruckartig
seine Doppelgarage, in der ein blitzender Opel Commodore stand.
Und es waren in der Tat alle benötigten Utensilien vorhanden.
Vom Industriestaubsauger bis zum Industriedampfstrahler, diverse
Cockpitsprays, antistatische Putztücher, Poliermittel aller
Art, auch Chromschutzmittel. Sogar Sagrotan stand im Regal. Der
Mann war tatsächlich sagenhaft ausgerüstet.
Ich musste noch mal kurz in die Knie gehen,
nachdem wir die Motorhaube geöffnet hatten. Kein Wunder, die
Funktion eines Kühlergrilles besteht ja in erster Linie darin,
Einlaß zu gewähren. Keine Bange mein Junge, sagte Frl.
Ursulas Vater beinahe kameradschaftlich. um den Motor kümmere
ich mich. ELVIRA, schrie er ins Haus, setz mal Wasser auf, nicht
zu knapp. Und Elvira setzte Wasser auf, und zwar nicht zu knapp.
Und Frl. Ursula reckte ihren Hintern industriestaubsaugend durch
die Fahrgastzelle, und ihr Vater sagte immer nur: Das wäre
ja gelacht, ich habe noch jedes Auto sauber gekriegt. Ein einziges
Mal noch konnte ich kurz sehen, dass sie nichts drunter an hatte.
Meiner Mutter ist übrigens nichts aufgefallen.
Erst im Herbst, als sie das erste Mal das Gebläse für
die Windschutzscheibe brauchte, wunderte sie sich.
Weizenkörner im Haar meiner Mutter. Ich
sehe es noch heute.
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