Die Texte
bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2001

 

Heiner Link

geb. 1960 in München, lebt in München




Mütter und Fahrzeuge

Es begab sich, dass meine Mutter aufgeregt war. Sie war irritiert. Sie hatte Weizenkörner im Haar.

Das Problem bestand darin, dass mein Volkswagen wegen umfangreichen Schweißarbeiten am Auspuff in der Werkstatt stand, die Angelegenheit jedoch keinerlei Aufschub duldete. Frl. Ursula wollte das Geplante sofort in die Tat umsetzen. Ich alleine war skeptisch. Für Frl. Ursula bestand nicht der geringste Zweifel, dass es mir ohne Schwierigkeiten gelingen würde, ein Ersatzfahrzeug aufzutreiben. Das könne doch kein Problem sein, sagte sie. Und so, wie sie es sagte, hätte man es fast glauben können.

Dass durch die eigene Mutter überhaupt keine Beschädigung der Seele stattfinden kann, halte ich für vollkommen ausgeschlossen. Mütter wollen schließlich immer nur das Beste für ihre Kinder. Vor allem für die Söhne wollen Mütter stets das Beste. Sie sollen Rechtsanwälte werden. Es gibt Statistiken, die besagen, dass sich 88 Prozent aller Mütter sehnlichst den Rechtsanwaltsberuf für den Sohn wünschen. Wenn man nun davon ausgeht, und man kann davon ausgehen, dass auf jeden Anwalt mindestens ein Mandant kommen muss, bedeutet dies nicht mehr oder weniger, als dass 38 Prozent aller Mütter ihre Söhne in die berufliche Aussichtslosigkeit treiben. Und deshalb haben wir auch so viele Taxifahrer, die auf Scheidungsrecht spezialisiert sind.

Noch am selben Abend musste es sein, soviel war klar. Der Film lief spät, soweit ich mich erinnere ab 23.00 Uhr. Solche Filme liefen auch damals ziemlich spät. Das Autokino befand sich weit ausserhalb im düsteren Osten unserer Stadt, den ich stets nur unter Protest oder eben in Fällen, in denen es nicht zu vermeiden war, aufsuchte. Ein solcher Fall lag vor. Das Leben ist schließlich kurz, und der Mensch neigt dazu, die wenigen gesunden, schönen, erstrebenswerten und elementaren Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Mann und Frau bewusst oder unbewusst ins Kontraproduktive zu überführen. Ich bin übrigens nicht sicher, ob das gentechnisch zu lösen ist, schließlich ginge die wunderbare Leichtigkeit des Seins verloren, die mir widerfuhr, als sich Frl. Ursula damals zu mir in den Opel Ascona setzte, meine Hand nahm und sie zwischen ihre Beine legte.

Ein Betrag x war lange Jahre angespart worden, endlich wollte man ein vernünftiges Fahrzeug besitzen. Einen Jahreswagen. Mein Vater hatte in den heißen Monaten der Entscheidung nach dem langen Ansparprozess auf ein Fabrikat der Bayerischen Motorenwerke gedrängt. Er konnte Zeit seines Lebens nie eine emotionale Bindung zu den eher soliden Fahrzeugen, beispielsweise denen aus Rüsselsheim, entwickeln, denn meine Mutter definierte den Begriff Vernunft anders. Meiner Mutter war die sogenannte Dynamik der Bayerischen Motorenwerke erläßlich. Demzufolge wurden lange Debatten geführt, in denen mein Vater immer wieder wütend seine Zigaretten in den Aschenbecher rammte, ohne natürlich auch nur einen Millimeter Raumgewinn verzeichnen zu können. Er unterlag und fiel in eine tiefe Depression. Er hat den Opel Ascona, den meine Mutter schließlich erwarb, Zeit seines Lebens weder gewaschen noch gelenkt. Er suchte seine Würde in der totalen Verweigerung. Meine Mutter dagegen fuhr einfach regelmäßig in die Waschanlage.

Es dürfte doch wohl kein Problem sein, für diesen Abend einen Wagen zu organisieren, sagte Frl. Ursula. Sie machte die herrlichsten Andeutungen. Es hörte sich an, als hätte sie schon eine Menge erlebt. Ich blätterte aufgeregt in meinem Telefonbuch und Frl. Ursula wurde in ihren Ausführungen immer präziser. Ihre Phantasie schien grenzenlos zu sein. Dann drehte sie sich um, nicht ohne vor dem Hinausgehen ihren Rock zu heben, um mir etwas zu zeigen. Die Angelegenheit duldete wirklich keinen Aufschub. Und ich versuchte alles, obwohl ich von Anfang an wusste, dass es auf das Fahrzeug meiner Mutter hinauslaufen würde. Die anderen Fahrzeuge waren in jenen Tagen stark nachgefragt, besonders abends. Alles, was mir tatsächlich angeboten wurde, war eine 750er Kawasaki, welche nicht geeignet war. Übrigens wollte auch meine Mut-ter, dass ich Rechtsanwalt werde. Aber als junger Mensch weigerte man sich seinerzeit natürlich kategorisch. Ich war in dieser Hinsicht allerdings schon damals ein moderner Verweigerer: ich entschied mich für Volkswirtschaftslehre. Und meine Mutter war nach anfänglicher Skepsis durchaus stolz. Ihr Sohn sollte einmal ein Volkswirt werden.

Nachdem ich mich gründlich vorbereitet hatte, bat ich meine Mutter um einen Besprechungstermin am frühen Abend, der schließlich für 18 Uhr anberaumt wurde. Ich erklärte ihr, dass ich mich am Folgetag einer akademischen Prüfung zum Thema "mikroökonomische Theorie der Unternehmung" zu unterziehen hätte und zu befürchten wäre, dass ich den Anforderungen nicht genügen würde. Ich legte offen, dass mir beim Stabilitätsproblem zwar klar sei, dass steigende und sinkende Grenzkosten zu Problemen bei der Partialanalyse führen, welche die Unabhängigkeit von Angebots- und Nachfragefunktion voraussetzt. Relevante Fälle aber, beispielsweise die sinkenden Grenzkosten, wären für mich nicht nachvollziehbar, da Sraffas, Robinson und Chamberlin hier höchst unterschiedliche Theorien anbieten würden. Und das zöge unweigerlich die Konsequenz nach sich, dass mir der komplette Gewinnmaximierungsprozess schleierhaft bliebe.

Hinzugefügt werden muss, dass es damals keineswegs nur um Fachwissen ging. Stand und Verfügbarkeit von Allgemeinwissen hatten bereits zu jener Zeit eine geradezu disparate Komplexität und einen eigentlich nicht mehr zu bewältigenden Umfang angenommen. Selbst ein gebildeter Mensch musste zum Beispiel früher nicht unbedingt über detaillierte Kenntnisse der Landwirtschaft verfügen. Hätte ich zum Beispiel damals gewusst, wann Weizen geerntet wird, wäre das alles nicht passiert. Aber wie hätte ich als Enkel eines angesehenen Mineralwasserproduzenten je mit der Landwirtschaft in Berührung kommen können? Fleisch kam bei mir immer schon vom Metzger, da lag doch auch die Vermutung nicht weit, dass das Brot vom Bäcker kommt. Heutzutage, ja heutzutage, würde jeder ernstzunehmende Hirnforscher eine notwendige Wissensreduktion des modernen Homo Sapiens einräumen. Spezialisten sind schließlich Leute, die so lange in der Glut stochern, bis sie schließlich und endlich von gar nichts alles wissen. Man kann und soll sich nicht alles merken. Darauf läuft es hinaus.

So weit, so gut. Ich kam nun entschlossen auf den Punkt und beteuerte, es gäbe nur eine Lösung, nämlich das Problem noch am selben Abend mit einem erfahrenen und kompetenten Kommilitonen durchzuarbeiten, der allerdings weit außerhalb der Stadt wohnen würde, genauer gesagt an einem Ort, der nicht einmal auf den Schienen der Deutschen Bundesbahn zu erreichen wäre, sondern lediglich per Automobil oder Helikopter. Wenn nun davon ausgegangen werden kann, und es konnte davon ausgegangen werden, dass meiner Mutter einerseits kein Helikopter zur Verfügung stand, sie aber andererseits nur das Beste für mich und meine Berufsausbildung wollte, war die Wahrscheinlichkeit, das geliebte Fahrzeug leihweise überlassen zu bekommen, relativ hoch, was nicht heißt, dass wir ohne ein retardierendes Moment ausgekommen wären. Meine Mutter, die den Ascona abgöttisch liebte, bäumte sich geradezu erwartungsgemäß auf und schlug vor, ich solle mich krank melden und die Prüfung zu einem späteren Zeitpunkt nachholen. Ich aber war auf diesen Fall vorbereitet, und behauptete, dies wäre schon wiederholt geschehen und nun nicht mehr möglich. Es gäbe schließlich universitäre Regeln.

Ich bekam den Wagen angesichts meiner mangelnden Fahrpraxis mit einigen Auflagen. So wurde zum Beispiel ein absolutes Rauchverbot sowie ein Tempolimit von maximal 100 Km/h verhängt, und ich musste zusagen, die Strecke auf dem kürzesten Weg zwischen A und B zurückzulegen. Ich erinnere mich auch noch vage an eine Drehzahlbegrenzung, obwohl das Fahrzeug gar nicht mit einem Drehzahlmesser ausgerüstet war. Meine Mutter ließ sich ausserdem bestätigen, dass der Zielort auf geteerten Wegen erreichbar sei und wies schließlich eindringlich darauf hin, dass sie eine innere und äußere Verschmutzung des Fahrzeugs nicht dulden würde. Ich schmutze nicht, sagte ich und dachte daran, einige Handtücher mitzunehmen. Und dann konnte es auch schon losgehen. Frl. Ursula trug ein Sommerkleidchen, das nicht mehr als zwanzig Gramm wiegen konnte, und - wie bereits angedeutet - nichts darunter. Sie zeigte mir ihren kleinen Pelz, und ich jubilierte innerlich. Der zarte, blonde Flaum auf ihren Oberschenkeln trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Ich hätte am Liebsten vor Freude geschrieen. Aber sie küsste mich.

Frl. Ursula war nicht ganz unschuldig am nun folgenden Desaster, denn sie gab sich sehr kundig und war auch sonst sehr selbstbewusst. Man hätte also davon ausgehen können, dass sie das Revier kennt. Je weiter wir dann aber in den Osten kamen, desto unsicherer wurden ihre Kommandos. Hinzu kam, dass sie mich während der Fahrt massierte. Es wird niemanden wundern, dass ich mich in Folge meiner mangelnden Ortskenntnisse sowie eines gewissen Aufmerksamkeitskonfliktes bald schon nicht mehr auf dem kürzesten Weg zwischen A und B befand, und Frl. Ursula unter nahezu unmenschlichen Anstrengungen auffordern musste, ihre Bemühungen vorerst einzustellen, um mir den Weg zu weisen. Schwer atmend nahm ich Frl. Ursulas Kommentar zur Kenntnis: Wir würden uns wohl etwas zu weit nördlich befinden, ich solle bei der nächsten Möglichkeit rechts abbiegen, das wäre alles kein Problem. Sie kenne sich aus. Rechts abbiegen, wiederholte ich, um die Anweisung zu bestätigen. Man könnte freilich einwenden, ich hätte damals an einen Stadtplan denken können. Dazu fehlte mir allerdings erstens die Lebenserfahrung, und zweitens gehöre ich zu den vier Prozent Männern, die sich auch in Puncto Orientierung gerne auf die Frau verlassen. Umwege erhöhen die Ortskenntnis, sagte ich mir. Und immerhin musste ich mir keine Ausreden anhören: Frisurprobleme, Fehlstellung der Gestirne, Unterzucker, Fall- und Seitenwinde, Kopfschmerzen, Angst vor tierischem Ungeziefer et cetera, et cetera.

Man täuscht sich eben manchmal in diesen Dingen. Frl. Ursula dirigierte mich nun, ich hatte also Zeit, über Visionen nachzudenken. Über die Vorstellung beispielsweise, ein Geschäftsmann könnte eines Tages eine wichtige Position in seiner Firma anbieten und aus einer Laune heraus Frl. Ursula fragen, ob sie sich diese Position zutrauen würde. Die Angesprochene könnte, so meine Vorstellung, vor Aufregung zwei Mal kurz die Beine übereinander schlagen. Der Rock könnte zurückrutschen und die Auserwählte könnte meinen, der Tag ihres Lebens wäre nun endlich gekommen. Sie würde sich natürlich beeilen, die Frage zu bejahen. Natürlich würde sie einen wichtigen Volkshochschulabschluß ins Feld führen. Zusammen mit den freigelegten Oberschenkeln wären dies doch respektable Argumente. Der Geschäftsmann könnte in Folge dessen kalten Herzens die Champagnergläser etwas zu sehr füllen. Etwas von dem Champagner könnte beim An-stossen zweifellos aus den Gläsern schwappen und die freigelegten Oberschenkel Frl. Ursulas benetzen. Selbstverständlich würde der Geschäftsmann sich beeilen, die der Schwerkraft gehorchende Flüssigkeit mit saugstarkem, dreilagigem Haushaltspapier abzutupfen. Das wäre schließlich das Mindeste an auszutragender Höflichkeit, auch im ständig untergehenden Abendland. Vorstellbar wäre auch, dass sich Frl. Ursula in einer solchen Situation affirmativ verhalten würde. Der Geschäftsmann würde sich aufs Angenehmste beflügeltnach oben arbeiten. Natürlich würde er sich in diesem Fall relativ schnell vom eigentlichen Reinigungsvorgang verabschieden. Es wäre denkbar, dass er dicht an Frl. Ursulas Ohr, ungeheure Zahlen und Wünsche verlauten lassen würde. Ausserdem könnte er doch auch feststellen, dass Frl. Ursula wohl vorbereitet, ja in gewisser Weise vorausschauend in dieses geschäftliche Treffen gegangen wäre. Frl. Ursula könnte schließlich kein Höschen tragen. In diesem Fall wäre beider Verhalten aus der Sicht der Strategie des Bedürfnisses, Diogenes` skandalöseste Geste übrigens, zu interpretieren. Ob Zahlen und Wünsche des Geschäftsmannes nun Vater oder Mutter welchen Gedankens auch immer wären, sei dahingestellt, angesichts der emotionalen Anspannung und der Gesamtsituation. Vorstellbar wäre auf alle Fälle, dass nun insgesamt die Dramaturgie entgleiten würde. Vorstellbar wäre eine Vermengung von Zuständen, Benennungen und Zuversichtlichkeiten: Erregung, Sehnsucht, Erfolg, Macht, Besinnungslosigkeit, Liebe, Wahnsinn, Gier und Romantik. Und in all der Aufregung könnte Frl. Ursula zum Beispiel mit nervöser Hand eine derart flotte Massage leisten, dass sogar der Geschäftsmann ausser Kontrolle geraten würde. Es könnte doch passieren, dass er schon nach sehr kurzer Zeit Flüssigkeit verlieren würde, die beispielsweise wiederum auf den Oberschenkeln Frl. Ursulas Halt finden und - wie sich nach einer kurzen Verschnaufpause sicherlich zeigen würde - ebenfalls der Schwerkraft gehorchen müsste. Allerdings wesentlich langsamer als der Champagner. In diesem Fall hätte Frl. Ursula den Aufwand aufs Minimalste beschränkt, und der Geschäftsmann müßte feststellen, daß man manchmal auch mit der besten Strategie merkwürdigerweise strategisch bedingt zu schnell an seine Grenzen stößt.

Jedenfalls schaffte es Frl. Ursula, mich im Umfeld unserer Millionenstadt auf eine völlig unbeleuchtete Straße zu führen, die - rechts und links gesäumt von Stoppelfeldern - ins Nichts zu führen schien. Kilometerlang nichts als Stoppelfelder rechts und links der Straße, nicht ein einziger Zigarettenautomat, keine Supermärkte, von Detekteien oder anderen Auskunftsbüros ganz zu schweigen. Natürlich war auch der ADAC nicht präsent. Dies war ja nun auch nicht wirklich zu erwarten. Ich fuhr und fuhr und Frl. Ursula wurde immer schweigsamer. Nach weit über zwanzig Minuten wurde ich nachdenklich und dann dauerte es nur noch wenige Minuten bis ich korrekt und profan vermutete, dass wir von jeglicher Zivilisation völlig abgeschnitten waren. Es war schon sehr dunkel. Eine brisante Situation deutete sich an. Man vergesse nicht den stets begrenzten Kraftstoff. Als Frl. Ursula schließlich zugab, nicht die geringste Ahnung von unserer Position zu haben, war mir als Kind des Films auch schon klar, dass ich handeln musste. Und ich ordnete Auftauchen an.

Es herrschte völlige Windstille.

Wenn nicht Windstille geherrscht hätte, wäre das alles nicht passiert. Wenn an jenem Abend nicht totale Windstille geherrscht hätte, wäre alles einfacher gewesen. Aber es herrschte eben Windstille. Und so begab es sich, dass sich der Weizen nicht bewegte. Erschwerend kam hinzu, dass der Weizen etwa eineinhalb Meter tiefer als der Opel Ascona auf dieser Straße stand. Der Weizen stand derart gedrängelt und zusätzlich exakt eineinhalb Meter hoch im Feld, dass ich der optischen Täuschung einfach unterlag. Wann immer nämlich die Scheinwerfer die Felder überstrahlten, musste man angesichts der dicht und unbeweglich stehenden Halme als Nichtfachmann annehmen, man hätte es mit einem Stoppelfeld auf Höhe der Strasse zu tun. Jedenfalls nicht mit so tief wurzelndem Weizen, den man - so sehe ich es heute - längst hätte mähen können, anstatt die Zeit damit zu verbringen, das Landwirtschaftsministerium mit Anträgen zu überhäufen und damit auch die Europäische Union, damals immerhin noch jungfräulich, zart und zerbrechlich, zu schädigen.

Ich wollte eigentlich nur wenden, von Rangieren war nie die Rede. Ich rangiere doch nicht, wenn es nicht nötig ist. Also fuhr ich in das Stoppelfeld, welches aber nun einmal nicht zur Verfügung stand. Es krachte. Obwohl ich fabelhaft reagierte, hingen unsere Vorderräder bald über dem Weizenfeld, der hintere Teil des Fahrzeugs befand sich allerdings dankenswerterweise weiterhin auf der Straße. Und nichts ging mehr. Ich schaute hinüber zu Frl. Ursula. Sie schien kein schlechtes Gewissen zu haben. Ich stieg aus. Da hing das Fahrzeug meiner Mutter also über der Böschung. Darin dieses wunderbare Geschöpf, das sich die Lippen nachzog. Wie sollte ich jetzt noch in den Genuss dieser Lippen kommen, dachte ich. Ich dachte aber auch an den Auspuff, der ganz ohne Zweifel zu Schaden gekommen sein musste, und natürlich an all die langweiligen taxifahrenden Jurastudenten, mit denen ich in Konkurrenz treten müsste, um den Schaden begleichen zu können. Und sie hatte kein Höschen an. Drei Mal wollte sie mich in den interessantesten Variationen verwöhnen. Ich sollte mich ganz dem Film widmen und sie einfach machen lassen. Ich ging in die Knie. Sanftmut.

Aber dann bäumte ich mich noch einmal auf, sprang in das Weizenfeld und gab Frl. Ursula Anweisung auf den Fahrersitz zu rutschen, den Rückwärtsgang einzulegen und die Kupplung langsam kommen zu lassen. Ich stemmte mich von unten gegen die vordere Stoßstange, und sie legte den ersten Gang ein. Das Fahrzeug machte einen Ruck nach vorne. Man darf sich in solchen Situationen nicht aufregen. Man muß jederzeit Herr der Lage sein. Sanftmut muß auch in solchen Situationen die Mutter eines jeden einzelnen Gedankens sein. Ich war etwas zur Seite gefallen, nicht der Rede wert, es waren keine drei Meter. Frl. Ursula machte ihrem Unwohlsein durch lautes Rufen Luft, da das Fahrzeug drohte, der Schwerkraft nachzugeben. Es wankte. Ohne Hollywood würde man in einer solchen Situation wahrscheinlich auch vergessen, dass nie etwas wirklich passiert.

Schließlich rief ich zurück, an den genauen Text kann ich mich nicht mehr erinnern, wenn ich mich aber ansonsten erinnere, muß ich zugeben, der Sanftmut wahrscheinlich für einen Moment abgeschworen zu haben. Ich gab aber schließlich das Kommando, den Motor abzustellen. Dies geschah, und ich nahm wieder meinen Platz unter der Stoßstange ein. Wenn du so nett bist, rief ich, aussteigst und dich auf den Kofferraumdeckel setzt. Dies geschah, und ich kletterte auf die Straße und zündete mir eine Zigarette an. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie wenig Stoff nun diesen Hintern von banalem Kofferraumblech trennte. Was machen wir jetzt, sagte sie. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, damit ihre Waden besser zur Geltung kamen. Ja, was machen wir jetzt, sagte ich, nahm sie bei der Hand und zog sie vom Kofferraumdeckel. Das Fahrzeug wankte, aber es fiel nicht. Ich setzte einen Fuß auf die hintere Stoßstange und drückte leicht. Das Fahrzeug meiner Mutter krachte ins Weizenfeld.

Jetzt musste ich Frl. Ursula nur noch ins Weizenfeld hinunterhelfen. Wir nahmen im Fahrzeug Platz. Ich entblödete mich nicht, ihr den Unterschied zwischen dem Rückwärts- und den alternativen Vorwärtsgängen kurz zu demonstrieren. Sie nahm es hin. Sie hatte ja keine Wahl. Was hätte sie auch sagen können? Es war vielleicht ein wenig unfair, das gebe ich zu. Dann startete ich den Motor und dann geschah das nicht absehbare: ich vernahm überraschenderweise völlig normale Auspuffgeräusche. Völlig normale Auspuffgeräusche! Meine Güte! Bei dieser Belastung. Gute Arbeit machen die da in Rüsselsheim, sagte ich zunächst zu mir. Gute Arbeit! Gute Leute muß man eben haben, sagte ich zu Frl. Ursula, das ist das ganze Geheimnis. Gute Leute muß man eben haben. Ich legte den ersten Gang ein, und dann pflügten wir durch das Weizenfeld. Immer an der Straße entlang.

Man kann sich den Flurschaden vorstellen. Da trennte sich die Spreu vom Weizen, bei Gott, so platt das auch klingen mag. Ich musste das Fenster herunterkurbeln und mich außerhalb des Wagens an der Böschung orientieren, die Weizenkörner prasselten gegen die Windschutzscheibe, als wollten sie protestieren. Paris-Dakar kam mir in den Sinn, ich konnte allerdings noch nicht Mal die zulässige Höchstgeschwindigkeit der deutschen Straßenverkehrsordnung ausreizen. Die Pflanzen bremsten zu sehr. Wir waren ein gute Stunde im Weizenfeld unterwegs. Frl. Ursula benahm sich äusserst gelassen. Sie hatte ein Maß an Sanftmut angenommen, das mir für immer fremd bleiben wird. Wir schaufelten uns durch dieses Weizenfeld und sie suchte im Radio nach den Gipsy Kings. Einige lange Kilometer lang. Aber dann kamen wir endlich an eine Kreuzung. Und da schrägte sich das Feld gegen die Straße ab, und ich musste nur noch vorher alles platt walzen, und dann ein wenig Anlauf nehmen und mit Karacho auf die Straße rauf. Und so wurde es dann auch gemacht, es blieb mir schließlich keine andere Wahl. Und dann stieg ich aus und zündete mir eine Zigarette an. Und das Fahrzeug meiner Mutter sah nicht mehr aus, wie das Fahrzeug meiner Mutter. Mein Gott, sagte Frl. Ursula, obwohl nur der schwache Mond herunter geleuchtet hatte.

Immerhin stand an der Kreuzung ein rettendes Hinweisschild. "Trabrennbahn Daglfing > 3 Km." Es half. Wir fanden schließlich zurück in die Stadt und zu ihrem Elternhaus. Es war nicht zu vermeiden, obwohl ich es wirklich liebend gerne vermieden hätte. Normalerweise nämlich setzte ich Frl. Ursula in züchtigem Abstand zu diesem Haus ab, dieses Mal aber musste das Fahrzeug meiner Mutter gewaschen werden. Frl. Ursula sagte, ihr Vater wäre geradezu perfekt dafür ausgerüstet. Sie sagte, es werde schon gut gehen. Allerdings stellte sie sich am Hoftor sehr ungeschickt an. Ich will das gar nicht kommentieren. Normalerweise steckt man einfach den Schlüssel ins Schloß, dreht ihn gegen den Uhrzeigersinn und öffnet. Sie aber fummelte, bis die Vorhänge des elterlichen Anwesens zuckten. Und im hell erleuchteten Hof wartete dann auch schon ihr Vater mit durchgeladener Waffe auf mich. Es wunderte mich nicht, denn ich wusste, dass er mich hasst. Ich war der Inbegriff seiner Phantasie. Sie entschuldigte den Vorfall später einfach damit, dass ihr Vater in einem Tobsuchtsanfall, meine Person betreffend, Ideen und Wahnvorstellungen in der Wahrscheinlichkeitsform von sich gegeben hatte, die sie inspiriert hätten. Sie sagte, sie hätte das alles sehr interessant gefunden. Sie sagte, sie hätte das ganz einfach einmal ausprobieren wollen.

Eine relativ konservative Familie eben.

Mein Gott, sagte ihr Vater, als er das Fahrzeug meiner Mutter sah. Er ließ die Flinte sinken und ging fassungslos um den Wagen herum. Er war so entsetzt, dass ich schließlich den Mut fasste, vor ihn zu treten und lückenlos zu rapportieren. Der Mann erkundigte sich ziemlich genau nach den Hintergründen, und auch nach meiner Mutter. Dann musterte er mich von oben bis unten, und dann sah er hinüber zu seiner Tochter, die an ihrem Sommerkleid herumzupfte. Für einen Augenblick war die Situation alles andere als eindeutig. Aber dann öffnete er ruckartig seine Doppelgarage, in der ein blitzender Opel Commodore stand. Und es waren in der Tat alle benötigten Utensilien vorhanden. Vom Industriestaubsauger bis zum Industriedampfstrahler, diverse Cockpitsprays, antistatische Putztücher, Poliermittel aller Art, auch Chromschutzmittel. Sogar Sagrotan stand im Regal. Der Mann war tatsächlich sagenhaft ausgerüstet.

Ich musste noch mal kurz in die Knie gehen, nachdem wir die Motorhaube geöffnet hatten. Kein Wunder, die Funktion eines Kühlergrilles besteht ja in erster Linie darin, Einlaß zu gewähren. Keine Bange mein Junge, sagte Frl. Ursulas Vater beinahe kameradschaftlich. um den Motor kümmere ich mich. ELVIRA, schrie er ins Haus, setz mal Wasser auf, nicht zu knapp. Und Elvira setzte Wasser auf, und zwar nicht zu knapp. Und Frl. Ursula reckte ihren Hintern industriestaubsaugend durch die Fahrgastzelle, und ihr Vater sagte immer nur: Das wäre ja gelacht, ich habe noch jedes Auto sauber gekriegt. Ein einziges Mal noch konnte ich kurz sehen, dass sie nichts drunter an hatte.

Meiner Mutter ist übrigens nichts aufgefallen. Erst im Herbst, als sie das erste Mal das Gebläse für die Windschutzscheibe brauchte, wunderte sie sich.

Weizenkörner im Haar meiner Mutter. Ich sehe es noch heute.

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