"DIE LUST AM ERZÄHLEN"
25 Jahre Ingeborg-Bachmann-Preis

Ein Rückblick der ORF ON Redaktion Kärnten in Zusammenarbeit mit 3sat und der Telekom Austria.


1990 Informationen zum Bachmannpreis 1990 Übersicht über die AutorInnen 1990 Übersicht über die PreisträgerInnen 1990

Karl Corino, Bad Vilbel/BRD
Peter Demetz, New Haven/USA
Marlis Gerhardt, Stuttgart/BRD
Volker Hage, Hamburg/BRD
Andreas Isenschmid, Zürich/CH
Nils Jensen, Wien/A
Hellmuth Karasek, Hamburg/BRD Werner Liersch, Berlin-Ost/DDR
Peter von Matt, Zürich/CH
Helga Schubert, Berlin-Ost/DDR
Heinz Schwarzinger, Paris/F


Geschmack an der Geschmacklosigkeit
Der Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis 1990 endete im Chaos. Zwei Favoriten, die Salzburgerin Margit Schreiner und der Deutsche Hubert Konrad Frank, mussten disqualifiziert werden, weil die von ihnen präsentierten Texte statutenwidrig schon vorher publiziert waren. In der allgemeinen Verwirrung gewann dann die Deutsche Birgit Vanderbeke, die in der ersten Kritik bestenfalls lauwarm aufgenommen worden war, den mit 150.000 Schilling dotierten Literaturpreis.

Die Juroren konnten sich bei der mündlichen Begründung ihrer Wahl plötzlich nicht mehr erinnern, welchen Namen sie vorher notiert haben; sie änderten in der Stichwahl völlig unmotiviert ihre Meinung, wodurch aussichtsreiche Kandidaten immer wieder durchfielen.

Die allmächtigen Juroren loben oder vernichten -allerdings mit unterschiedlich feiner Klinge. Der neue Mann, Nils Jensen, St. Pöltner und Vorstandsmitglied der IG Autoren, goutiert Literatur nur, wenn sie ihn "beißt". Die neue Frau, Marlis Gerhardt, Rundfunkredakteurin in Stuttgart, meldet sich gern am Ende und staubt dann ab.

Da die Juroren selbst die Autoren vorschlagen, ist es immer wieder ein eigenes Schauspiel, wenn sich jeder einzelne von ihnen für "seinen" Autor ins Zeug legt. Zumeist streitet man prinzipiell um die Frage: Darf man dies oder jenes in einem Text schreiben oder nicht?

Abgefucktere Genetivmetaphern
Nach einem metaphernschweren Text der in Boston lebenden Germanistin Ingeborg Harms befand Musil?Spezialist Karl Corino: "Abgefucktere Genetivmetaphern gibt es nicht", worauf ihm der Schweizer Rundfunkredakteur Andreas Isenschmid vorwarf: "Herr Corino, es fehlt Ihnen der Geschmack an der Geschmacklosigkeit." Resignierend meinte Corino: "So könnten wir ja jeden Text loben. Da können wir gleich unser Besteck abgeben. "

Ähnliches spielte sich auch in der Diskussion über ein im badischen Kunstdialekt verfasstes Stück Prosa des Deutschen Hubert Frank ab. Corino wollte dem Helden der Geschichte, einem angeblich dummen Bauernjungen, seine "fünf Bände Joyce-Kommentar nicht abnehmen".
Ein anderes Problem des "Kritikerbesteckes", nämlich die unrepräsentativ kurzen Ausschnitte aus großen Romanen, stellte sich heuer kaum. Die Fülle des einfließenden Wissens, die Genauigkeit und die Sorgfalt blieben heuer aber eher die Ausnahme.

Klosterschule und Vergewaltigung,
Vaterliebe und Vaterhass

Noch immer dominieren die -wie Isenschmid sich ausdrückte - Familien-, Kindheits- und Beziehungsräume, oder überspitzt formuliert, freie Schriftsteller, die in den Trümmern ihrer eigenen Vergangenheit wühlen: Vaterliebe ("Und am Ende mit einem A" von Christa Moog, BRD) und Vaterhaß ("Das Muschelessen" der Preisträgerin Birgit Vanderbeke), Klosterschule ("Die Knierisen" von Stefan Tomas, BRD) oder Vergewaltigung ("Die Probe" der Schweizerin Friederike Kretzen).

Andreas Isenschmid - und viele längst zur angloamerikanischen Literatur Abgewanderte - wünschen sich mehr Literatur von nicht hauptberuflich Schreibenden, mehr moderne Berufswelt, auch mehr Naturwissenschaft.

Die Ereignisse im Osten haben sich zunächst kaum auf den Bachmann-Preis ausgewirkt. Franz Hodjak blieb mit seiner lebendigen Schilderung des Schicksals eines unvorsichtigen Totengräbers im Rumänien Ceausescus der einzig positive Beitrag.

[Gilbert Waldner, Die Presse, 2. 7.1990]


 
     
 

Zu den Bildern: Hellmuth Karasek und Nils Jensen recht nachdenklich (links oben). Helga Schubert bei der Diskussion, im Hintergrund der Schweizer Peter von Matt (rechts oben). Uneinig über den Text: Heinz Schwarzinger und Marlis Gerhart (links unten). Möchte zu Wort kommen: Karl Corino (rechts unten).

Alle Fotos: ORF/Peter Matha


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