Gertraud Klemm (A) Jurydiskussion

Gertraud Klemm wurde eingeladen von Hubert Winkels und las den Text "Ujjayi", ein Romanauszug. Das Publikum fühlte sich von dem bitterbösen Text über eine Mutter mit einem Schreibaby gut unterhalten, die Jury ebenfalls.

Ein erster Favorit, mit einer der längsten und differenziertesten Debatten des Bewerbs.

Gertraud Klemm (Bild: Johannes Puch)Gertraud Klemm (Bild: Johannes Puch)

In dem „Muttertags-Text“ Klemms geht es um die Protagonistin „Franziska“, die manchmal mit dem Gedanken spielt, ihren Sohn Manuel „einfach fallen zu lassen, um endlich schlafen zu können“ und mit ihrer Mutterschaft den Zugang zum eigenen Körper verloren hat. Dieser sei „jedermanns Luststätte, Labstelle, Raststätte, Brutraum“.

"Frausein verschwindet im Leben als Mutter"

„Wovon handelt dieser Text - von einem Tag im Leben einer Frau, die zusehen muss dass ihr Frausein im Leben als Mutter verschwindet“, begann Arno Dusini, der recht wenig mit dem Text anfangen konnte. Der Titel sei eine „Beschwörungsformel“, die beruhigen solle, den Text aber nicht beruhigen könne. „Ich bin über die Schreiaby-Ambulanz mehrfach drübergefallen“. Der Text spreche von Aggression und sei dabei selbst aggressiv. Der Text, in dem „alles zu viel“ werde. „Lieber Herr Winkels, wenn eine Erzählsituation ident wird mit der Stimme und dem Hineinfühlen in eine Figur, dann kann das auch ein großes Problem sein.“ Hier gebe es keine Distanz mehr, die Erzählinstanz kippe mit der Figur in die Familiensituation zurück. Diese „Selbstaggression“ habe zur Folge, dass das Schreiben hier „gegen die Wand“ laufe, so Dusini.

"Frustrations-Labyrinth der Kleinkind-Erziehung"

„Ich lese das als Frustrations-Labyrinth der Kleinkind-Erziehung“, begann Meike Feßmann. Das sei „hart an der Grenze zur Peinlichkeit“, weil alles so „banal“ sei. Das Selbstbild der Frau werde demontiert. Zurückhaltend in der Metaphorik bis auf die Stelle, wo das Kind als Wal und Moster dargestellt werde, habe ihr der Text sehr gut gefallen, der böse Ton werde bis zum Ende hin durchgehalten.

"Banal von Speichelfleck zu Speichelfleck"

„Das Wort banal ist ja schon gefallen“, schaltete sich Daniela Strigl in die Diskussion ein. „Radikal und banal“ sei der Text. „Das muss man einmal durchhalten, so von Speichelfleck zu Speichelfleck“. Abgesehen davon sei er kunstvoll rhythmisiert, was sogar beim stillen Lesen bemerkbar sei. Eine „atemlose Anklage, ungerecht und gerecht zugleich, sei das, so Strigl. Die Dusini widersprach: Die Verbissenheit der Figur müsse mit der Erzählstimme eins werden. „Großartige Bilder“ gebe es auch, die Autoren „schöpfe aus dem Vollen“.

Hildegard Elisabeth Keller, Burkhard Spinnen (Bild: Johannes Puch)Hildegard Elisabeth Keller, Burkhard Spinnen (Bild: Johannes Puch)

Hubert Winkels sah „Bernhard- und Jelinek-Sequenzen“ in dieser „Suada“. Eine „großartige Kunst es so hinzukriegen“. Hier laufe alles über den Körper, Fett und Speichel und Biologie. „Nichts entgeht der Körperlichkeit, das ist ein durchgehendes Prinzip.“ Zugleich sei die Entscheidung der Frau, noch ein zweites Kind zu bekommen, eine „Faust in den Magen“.

Jury Steiner (Bild: Johannes Puch)Jury Steiner (Bild: Johannes Puch)

„Ich suche verzweifelt einen Ausweg“ sagte Juri Steiner, der sich als Vater einen „Gnadenakt“ im Text erhofft hatte. „Wieder einen Frauengeschichte, wo die Männer sich bespucken lassen dürfen“. Er habe sich aus dem Porträt heraus ein politisches Statement erwartet, aber „nein, alles ist Bestimmung“. „Ich will jetzt kein zweites Kind mehr, ich will mir diese Lebenslüge nicht noch ein zweites Mal aufladen.“

Spinnen zeigt "schwere Antihaltung zum Text"

Burkhard Spinnen zeigte Mitleid mit dem jungen Kollegen. „Das ist der Weg zum Aussterben hier“. Er habe beim Lesen eine schwere Antihaltung gegen den Text – einen Romanauszug - aufgebaut, der ihn zuerst an Frauenzeitschriften-Aufschrei-Befreiungsprosa erinnert habe. „Das hat mir eine Zeitlang die Augen verschlossen“. Diese intelligente Frau finde die absolute Selbstverständlichkeit der Fortpflanzung unerträglich, obwohl ihr Kleiner eigentlich ganz normal geraten sei. Verhaltensauffällig sei dagegen der Verflossene Ralph. „Morbus Ralph: Manuel ist das was man kriegt wenn man Ralph nicht kriegt.“ Es gehe also um eine Reihe von Lebensirrtümern, etwas was man „in Frauenzeitschriften nicht bekommen könne“. Hier werde ein großer negativer Kontext aufgemacht. „Ich freue mich nicht auf das Buch, wenngleich ich es wohl lesen muss.“

Feßmann zu Spinnen: "Sie stellen sich dümmer als sie sind"

Keller meinte, der Text „entzündet sich an der Katastrophe Muttertag“, die Autorin ziehe das gnadenlos durch. „Gewaltige Entladungen“ gebe es hier. „Sehr gut gemacht, aber kein Erbauungsstück“.
Meike Feßmann zeigte sich erstaunt über Spinnen: „Sie stellen sich dümmer als sie sind“.

Der darauf: „Das ist ja schon einmal ein guter Anfang“. Feßmann weiter: Als wüssten sie nicht, wovon der Text redet, hier werden enervierende Tätigkeiten beschrieben, das sei ein „gesellschaftliches Problem“ und „nicht runterzuspielen“.

Spinnen darauf: „Je mehr wir über Reproduktion reflektieren, desto unmöglicher wird sie uns - eine schwarze Dimension“.

„Schwarze Literatur, die wir hier nicht weißfärben sollten“, meinte schließlich Daniela Strigl, die am Ende der Diskussion noch die Frage aufwarf: „Liegt der Grund warum wir diese düstere Welt und dieses Lebensbild nicht aushalten, vielleicht darin begründet, weil sie von einer weiblichen Protagonistin zur Sprache gebracht werden? Wir versuchen Welt, Familie und Mann zu retten, aber muss man das?“ Eine Frage, die Burkhard Spinnen beantworten sollte: „Im eigenen Leben ja, in der Literatur: Nein.“