Senthuran Varatharajah (D) Jurydiskussion
Eingeladen wurde der aus Deutschland stammende Autor von Meike Feßmann.
Ein Mann und eine Frau, beide mit unterschiedlichem Migrationshintergrund, führen in einem Chat ein Gespräch. Ein sieben Tage währender Dialog zwischen zwei Fremden, in dem es neben Philosophie und Literatur auch um die eigene „Migrations-Identität“ und den Verlust von Muttersprache geht.
Winkels entdeckte den Text neu
Hubert Winkels begann enthusiastisch: Er habe Text „anders als die meisten hier“ vorher gelesen, lese ihn jetzt aber anders, weil ihm im kursiv vorangestellten Vorwort zuerst entgangen sei, dass es sich um den Dialog zweier Fremder handle. Das ändere die Konstellation völlig, „beide Sprecher kennen sich nicht, richten sich also an niemanden“. Keiner der beiden stelle ein reales Gegenüber dar, auch kein virtuelles. Im Chat mit dem anderen, dem Asylsuchen im anderen, begegne man sich selber, den eigenen blinden Flecken, und entwickle sich sprachlich in die Welt des anderen hinein. Sprache und Zeichen wären immer schon vor der Schöpfung präsent, hier gehe es um das „Sich-Selbst-Zeugen“ im System der Zeichen, was auch den Titel erkläre. Der eine erzeuge die Figur des anderen in sich, um sich selbst etwas erzählen zu können.
"Das war doch klar"
Meike Feßmann gab sich unwirsch ob der neu gewonnenen Erkenntnisse des Jurykollegen Winkels: Es sei doch von vornherein klar, dass es sich hier um einen Dialog handle, in einem Chat, in dem sich beide ihr Leben erzählen. Ihr kamen die Ausführungen des Kollegen deshalb „absurd“ vor.
"Schwer aufgeladener Dialog"
Hildegard Elisabeth Keller meinte, die beiden Figuren, Kinder politischer Flüchtlinge, könnten sich nur deshalb ihr Leben erzählen, weil ihre Körper ihnen dabei nicht im Weg wären. Ein „platonischer Dialog und eine Liebesgeschichte über das Asyl“ sei das, auch sie gab sich erstaunt, dass die Dialogstruktur „angezweifelt“ werde. „Wir könnten jetzt Facebook erklären... Ich bin übrigens auf dem Flughafen auf jemanden gestoßen, dann wurde irgendwann klar: Ach ja, wir sind ja befreundet“. Hier gehe es um den Dialog zweier „eingesprachter Menschen“ im Sinne von Maja Haderlaps Rede zur Literatur. Eine merkwürdige Konstellation der „Begegnung und Nicht-Begegnung“ im virtuellen Raum, in der man Einblick nehmen könne in eine Fremde Welt, in die man eingebunden sei durch kollektive Muster von Geburt an.
Neben dieser so geschaffenen Zugehörigkeit gehe es auf der anderen Seite um individuelle Lebensmuster, die Suche nach der eigenen Berufung. Dabei sei der hohe Tonfall des Mannes („facebook-atypisch“) bemerkenswert, wobei es sich um ein Alter Ego des Autors handeln könne, denn es werde mit „Hegel, Schelling und Kant“ ein sehr philosophisch-religiöser Text erzeugt. Daneben sei der Körper mit Kant ein „Grab der Seele“. Der ganze Dialog wirke dadurch schwer aufgeladen, was aber sicher „gewollt“ sei.
Daniela Strigl vermisste Sokrates
Daniela Strigl kam auf die Worte von Hubert Winkels zurück und mutmaßte: Es könne sein, dass er ein Geheimnis oder eine Täuschung in den Text hinein interpretiert habe, die gar nicht drin sei. „Es ist halt so eine Sache mit der Form, so schreibt man auf facebook nicht, das traue ich mich auch zu sagen, obwohl ich nicht auf facebook aktiv bin.“ Und: „Wenn es ein platonischer Dialog sein soll, dann fehlt Sokrates.“ Es hätte hier, so Strigl, „mehr Formwillen gebraucht“. Es gebe keinen ästhetischen Mehrwert, was ein Problem dieses im „Ton der Erhabenheit“ verfassten Textes sei.
"Aktuelle Kommunikationsform gegen den Strich gebürstet"
„Ja ähm…“ hob Burkhard Spinnen an, um schließlich darüber zu referieren, dass hier eine aktuelle Kommunikationsform gegen den Strich gebürstet werde um zu überprüfen, was diese letzten Ende „leisten könne.“ Ihn erinnerten die beiden Schreibenden an den Auftritt der Figuren in einer griechischen Tragödie auf langen Stelzen, wo gar nicht miteinander gesprochen werde, sondern „irgendwie aneinander vorbei“. Mittlerweile gebe es viele Geschichten solcher Art, die Probleme würden sich ähneln und das problematische dabei sei, dass man drohe, abgestumpft zu werden. Die armen Menschen im Mittelmeer verlören ihre Identität, am Boot werde auch ihre Vergangenheit vernichtet, sie wären „nur noch Bootsflüchtlinge“.
„Diese zwei jungen Menschen würden im Gespräch in ihr Herkunftsland zurückgehen: in Religion, die Gepflogenheiten, „die aber alle katastrophal sind.“ „Die Figuren versuchen sich heranzusprechen an das, was sie geprägt hat“, würden dabei eine Sprache benützen „die so klingt, als hätte jemand bei Hegel und Kant Deutsch gelernt“ und „zweifellos nicht bei der FAZ, der Bild-Zeitung oder dem Fernsehen.“ Sieben Tage, in denen die „Schöpfungsgeschichte zweier Asylantenbiographien“ erzählt werde. Der Wermutstropfen sei, dass er noch nicht gesehen habe, worauf die griechische Tragödie unweigerlich zusteuere: den Moment von Furcht und Mitleid.
"Eine Schöpfungsgeschichte"
„Eine Schöpfungsgeschichte, genau richtig“, begann Meike Feßmann. Auch zustimmen könne sie, dass das Deutsch bei Hegel gelernt worden sei. Das alles spreche für den Text, ein platonischer Dialog, der dazu einlade über Dinge nachzudenken, über die sonst nicht geredet werde. Der Text wolle nicht mit Identifikationen überhäuft werden, sondern wolle die Geschichte zweier Menschen erzählen, die „längst angekommen“ sind in Deutschland. Bei all den philosophischen und theoretischen Ausführungen sei der Leser zum „mitdenken“ aufgerufen, diese Anlage müsse man akzeptieren, um ihr folgen zu können. Eine „Zeichentheorie des Asyls“.
Hier widersprach Spinnen nochmal: Das sei doch kein philosophischer Dialog, das sei doch „Butter bei de Fische“, wenn über Herkunft und autoritäre Väter geredet werde.
Feßmann attestierte Spinnen daraufhin „große kulturelle Überheblichkeit, das „so zusammenzufassen“. Die Figuren würden ein Bedeutungssystem mit sich herumschleppen, mit dem sie „umgehen“ müssten“.
Spinnen darauf: „Das geht aber auch hier und ohne indische Gesellschaft, dass eine Mutter ihr Kind als Wiederholung ihrer selbst sieht – das ist Effie Briest.“
"Hoher Ton" wird nicht gescheut
Arno Dusini merkte an, dass der Ton den „hohen Ton“ nicht scheue: „Ich wäre froh wenn ich an der Universität solche deutschen Studenten sitzen hätte, die ihr Deutsch bei Hegel gelernt haben.“ Der Text habe „keine Angst vor Metaphysik“, und sei „breit aufgestellt“. Ähnlichkeiten erkennbar wären auch zu Jean Paul Sartres Buch über die Wörter. „Sehr schön“ sei die hier betriebene „biographische Analyse“ der Wörter.
Juri Steiner sah „viel Schönes“ bereits gesagt. Die sozialen Medien wären hier wieder am Papier gelandet, wobei gewisse Texte der facebook-Chronologie nach „nicht in 9 Minuten“ schreibbar wären. Ein gutes Zeichen, dass „das Buch nicht ausgestorben ist“.