Patrick Findeis, Berlin (D)

Patrick Findeis wurde 1975 in Heidenheim geboren und lebt in Berlin. Findeis wurde zum Bewerb von Burkhard Spinnen vorgeschlagen.


Download des Textes:
Word-Format (*.doc)
PDF-Format (*.pdf)

 

Info über den Autor
Videoporträt

 

Banner TDDL 2008

 
Patrick Findeis

Kein schöner Land
(Auszug aus einem Romanmanuskript)

 

Von Weitem schon hörte Späht die Sirene und sah durchs offenstehende Scheunentor den Krankenwagen vorbeifahren. Er lief hinaus auf den Hof. Hinter den kahlen Bäumen an der Ecke zur Seitenstraße zitterten die Blaulichter. Dass der vorm Gambrinus steht, dachte er: wen hat's jetzt erwischt, fragte er sich. Die Bäuerin öffnete das Stubenfenster und rief: was gibt's da?

Mach das Loch zu, die ganze Wärme entweicht aus der Stube, sagte Späht und blickte weiter zur Wirtschaft rüber. Von dem Haus sah er die Längsseite mit den Bleifenstern der Schankstube im Erdgeschoss, die erste Etage rauverputzt und ungestrichen, das einzige Fensterkreuz dort unbeleuchtet. Wenigstens hatten sie dem Uwe ein Zimmer mit Ausblick gegönnt, dachte er, klopfte sich Sägemehl von den Oberschenkeln und schüttelte die Hosenbeine ab, hob seine Mütze und fuhr sich durch die Haare. Wenn jemand gestorben ist, dachte er: werden sie das Blaulicht ausschalten für den Rückweg. Er wartete. Es war früh kalt geworden in diesem Jahr, ein Altweibersommer ganz ausgeblieben. Und den Winter spürte Späht kommen seit einer Woche jeden Morgen im linken Ellbogen, wenn er aufwachte um halb fünf in der Früh. Wie er sich dann aus dem Bett wälzte und in der dunklen Schlafstube stand, hielt er das Gelenk mit der Hand umklammert und beugte den Arm ein paar Mal. Späht kratzte sich an der Nase und der Krankenwagen kam um die Ecke. Das Blaulicht zuckte, die Sirene war stumm. Was das zu bedeuten habe, dachte er: es wird nicht so schlimm sein dann: oder es lohnt sich nicht mehr richtig. Der Wagen beschleunigte an ihm vorbei, die Bremslichter flackerten auf an der Kreuzung und er bog ab. Späht sah noch eine Weile die ansteigende Dorfstraße hoch. Die niedrigen Häuser, und Straße und Gehweg sauber. Seit er das gesamte Vieh vom Schlachter hatte abholen lassen, zog sich keine Güllespur mehr vom Hof auf den Fahrweg. Und seit er die Felder verkauft hatte, zog sich die Zeit hin und war nicht mehr zu zählen. Eine zu rauchen überlegte er kurz, dabei hatte er aufgehört vor Jahren. Auf einmal, so denkt man, dachte er, wischte sich über den Mund mit dem Handrücken und ging zurück in die Scheune.

Die Hobelbank stand in der Mitte. Auch wenn er dann meist laufen musste, um das Werkzeug zu holen, das hing an der Wand rechts neben dem Tor, so hatte er es gewollt. Die Frau hatte den Kopf geschüttelt und: was machst du denn Mann? gesagt, als er die Werkbank aus dem Eck in die Mitte der leeren Scheune gezerrt hatte. Er hatte die Bäuerin angesehen und die hatte nochmals: Mann! gesagt und er geantwortet: ich schreib dir auch nix vor.

Sie hatte den Tag und den Abend nicht mehr mit ihm gesprochen.

Patrick Findeis (Foto ORF/Johannes Puch)

Späht strich mit dem Daumen über die Zierleisten, die er am Vormittag angeleimt hatte und griff das Flintpapier, um einen Grat zu entfernen. Im Mund schmeckte er den Thymian und den Knoblauch aus der Suppe vom Mittag, als hätte der Kunststoff seiner Zahnprothesen den Geschmack aufgesogen. Mit der Zunge versuchte er etwas Hartes zwischen den Zähnen rauszubekommen. Dann wischte er sich die Finger ab an der Hose und griff die Prothese aus dem Mund. Zwischen den Schneidezähnen lutschte er etwas heraus. Geschmack hatte es keinen mehr. Die Prothese schob er sich zurück in den Mund und drückte dagegen mit der Zunge, damit sie sich ansaugt am Gaumen. Er nahm die Kantenfräse von der Hobelbank und steckte das Stromkabel ein, legte sie ab und sah hinaus zum Scheunentor. Seit er nicht mehr trank, war er nicht mehr drüben gewesen im Gambrinus. Die Verlockung wär zu groß, redete er sich ein und wusste dabei, dass der Alfons nie vergessen hatte, wie Spähts Vater umgegangen war mit den Flüchtlingskindern: wegen euch haben wir in den Krieg doch erst müssen: um euch heimzuholen ins Reich! hatte er gesagt und die Jungens jeden Abend mit dem Wasserschlauch abduschen müssen auf dem Hof: weil das solche Drecksäue sind! Und dass er sie auch hat abreiben müssen mit dem Leinensack: die Ferkel machen's selber doch nicht gescheit!

Späht drehte die Zigarettenschatulle um, schaltete die Fräse ein und setzte sie an und erinnerte, dass er an der Unterseite keine abgesetzte Leiste hatte haben wollen. Wozu bin ich in die Kirche gerannt ständig, dachte er, wie er jeden Tag dachte: und werf denen das Geld in den Rachen: den warmen Brüdern: und mir erzählen ich hätt mein Kind nicht erzogen in der Nähe zu Gott. Er hörte Schritte draußen, hob den Kopf und sah die Bäuerin den Hof kreuzen mit dem Einkaufsnetz in der Hand. Bis sie um die Ecke war, folgte er ihr mit dem Blick, dann war wieder nur der Ausschnitt Straße zu sehen mit den anderthalb Häusern gegenüber, vom Scheunentor eingerahmt links und rechts. Und wieder steckte die furchtbare Stille in allem, als wäre ihm das Leben entwichen vor langer Zeit, als hätte nichts, und auch er selbst nicht, eine Aufgabe mehr. Er stellte die Fräse wieder an und sah den Klingen beim Rotieren zu. Die Gäule hat man früher mit zwei Backsteinen kastriert, dachte er: und vielleicht hätte es die Mutter genauso machen sollen beim Vater: dann hätte es vielleicht nicht abgefärbt: es sind nicht die Zeiten, dachte er. Und um etwas Lautes zu tun, fräste er doch eine Nut rund um die Bodenkante. Langsam drehte der Motor der Maschine aus und er legte sie weg. Die Klingen mussten wieder stumpf geworden sein, die Fräskante war unsauber und ausgerissen. Wenn ich sie dem Alexander mitgeben könnte ins Geschäft, dachte er: da müsste ich nicht gleich eine Neue kaufen. Früher hatte er einen Sohn gehabt und war stolz gewesen allein auf den Klang. Wie ein Mann hatte er sich da erst gefühlt. Der Bauer Späht und sein Sohn, hatte er gedacht bei der Taufe und es nicht erwarten können, bis aus dem Baby der Junge würde, der er sein müsste. Späht konnte es nicht. Wie die Bäuerin die Hefte vor ihm auf den Tisch geknallt hatte, als er reingekommen war damals zum Mittag. Er sich die angerissenen Magazine anschaute auf dem Tisch, nur mit den Fingerspitzen die Ränder der Seiten anfasste und im Reflex die Finger befeuchtete, um umzublättern, und es ihm die Galle in den Rachen würgte und einen Geschmack wie Eisen.

Späht konnte es nicht. Er begann die Leisten abzumessen und hielt den Atem an. Mit der Gehrungssäge sägte er sie zurecht. Das Holz splitterte nicht. Das Blatt zog er in kurzen Zügen durch das Mahagoni und blies die Späne weg. Die Arbeit beruhigte ihn nicht. Die aufrechte Haltung von Alexander, der an seinem Platz am Tisch gesessen war in jener Nacht, und die Bäuerin, die seitlich von ihm stand, die Hände abgestützt auf der Tischplatte, die Finger nach innen zueinander zeigend: schwöre, hatte sie geschrieen: dass du kein solcher bist! schwöre! Und der Sohn tat nichts, außer dass sich sein Adamsapfel rauf und runter bewegte. Schwöre! spuckte die Frau und sah zu Späht. Der betrachtete die Hände des Sohnes und den Mund und den langen schlanken Hals und wie der Adamsapfel zuckte, als die Frau belferte: schäme Dich: schäme Dich! Der Sohn drehte den Kopf und sah ihn von unten herauf an. Wo schaut er an mir hin, fragte sich Späht und nahm die Hände aus den Hosentaschen. Und Späht war nur noch müde gewesen und kraftlos mit einem Mal. Dass es für eine Tracht Prügel jetzt zu spät sei, hatte er wahrscheinlich gewusst und berühren wollte er Alexander sowieso nicht, der aufstand und nach oben ging und den leeren Stuhl halb zurückgeschoben im Raum stehen ließ. Schäme Dich, sagte die Frau nur noch leise, wie der Junge nach Minuten wieder die Treppen runterkam und über die abgetretenen Dielen nach draußen zu seinem Auto ging mit einer Tasche in der Hand. In der Nacht hatte Späht durchs Stubenfenster auch Uwe gesehen auf dem Nachhauseweg mit seinen Stiefeln und dem Mantel. Was das für ein rechter Bursch ist trotz allem Aussehen, hatte er gedacht damals und auf die Uhr gesehen.

Jetzt nahm Späht den Spatel aus dem Leim und schmierte die Nut damit ein. Die Leisten brachte er an und drehte die Schraubzwingen fest. Er wischte sich die Finger ab. Die Frau kam über den Hof und in die Scheune. Sie blieb vor ihm stehen und sah ihn an, das leere Einkaufsnetz baumelte von ihrer Hand.

Den Alfons hat's erwischt, sagte sie, als würde sie ihm sagen wollen, dass es gleich Vesper gibt: im Kopf hat's ihn erwischt: einen Schlag oder so hat er bekommen.

Den Alfons also, sagte er.

Der tut's aber noch, sagte sie: der geht nicht so schnell kaputt.

Späht hob die Schultern.

Dass sie die Tage vielleicht nach Gefrieß zum Krankenhaus fahren sollten, sagte sie.

Warum? fragte Späht und tat, als hätte er etwas zu tun. Dass sie doch Nachbarn seien für so lange und er den Alfons kenne seit der Kindheit, sagte sie: da wär's doch richtig!

Patrick Findeis (Foto ORF/Johannes Puch)

Und dass unsere Kinder zusammen in einer Schulklasse gewesen sind, sagte Späht: verbindet uns auch und dass denen ihrer ein Drogentoter ist und unserer ein Perverser; und sah seine Frau an, die führte ihre Hand mit dem Einkaufsnetz an den Hals und blickte zu Boden. Sie ging aus der Scheune, nachdem Späht die Fräse angestellt hatte, und verschwand im Haus. Die Fräse stellte er wieder aus und legte sie hin. Mit den Händen stützte er sich auf der Werkbank ab. Dass der ihm nie recht verziehen habe, sei eben sein Problem, dachte er: was hab ich dafür können. Dass Späht der Sohn gewesen war vom Bauer und Alfons nur das Flüchtlingskind, das geholfen hat auf dem Feld, und dass am Abend eben die Familie in der Stube gesessen war bei der fetten Fleischsuppe und die Flüchtlinge ein Gselzbrot bekommen haben draußen auf dem Hof. Und dass er später, nachdem Alfons und Angelika geheiratet hatten, immer das Gefühl hatte im Gambrinus drüben, dass der Alfons auf Spähts Trinkgeld achtete: war's zu wenig, war's nicht recht, war's zu viel, war's nicht recht: weil er Almosen vielleicht nicht nötig gehabt hat. Und dass es dem Alfons eine Genugtuung gewesen war, als Späht das Vieh verkaufte und das Land. War doch aber der Alfons der Erste, der ihm vorwarf, dass jetzt die Polacken ins Dorf kommen wegen der Neubausiedlung auf Spähts früheren Grund.

Späht betrachtete die Zigarettenschatulle. Er stand in seiner leeren Scheune und legte den Kopf in den Nacken. Mein Sohn lebt wenigstens noch, dachte er: und wenn der Alfons dem Uwe jetzt hinterher folgt, ist das nur recht. Was Spähts alte Mutter gesagt hatte: das Schlimmste ist, wenn das Kind vor einem stirbt. Er hatte bei Alfons bestimmt keine Trauer gesehen, als er hin war zum Kondolieren nach Uwes Tod. Alfons hatte auf den Boden geschaut, dass Späht ihm auf den hellen Scheitel geblickt hatte zwischen dem dunklen Haar. Und eine Todesanzeige hatte es weder im Gefrießer Tagblatt gegeben noch in der Goldshofer Zeitung. Wenn der Vater dem Sohn jetzt hinterher folgt ist das nur recht, dachte er. Dass die den Laden und die Wirtschaft nicht aus Trauer geschlossen hatten für eine Woche sondern aus Scham, konnte er sich denken, wie er die Angelika durchs Dorf hatte schleichen sehen oder hinter dem Steuer ihres Autos versteckt, ohne Blick und Gruß an allen vorbei.

Den Kopf hielt Späht wieder gerade und sah hinaus. Es war jetzt fast dunkel. Über ihm hing die Lampe vom Mittelbalken in der hohen Decke. Das Stromkabel zog sich schräg nach unten durch die Scheune bis zur Wand. Die Lampe warf einen engen Lichtkreis um die Werkbank herum, einen weiten, weniger hellen Rand. Hinten war es fast schwarz, wo der Traktor und der Pflug gestanden waren. Wo er sich als Kind versteckte, kam der Schlachter auf den Hof, weil ihm der Vater gedroht hatte: der nimmt dich mit, wenn du nicht spurst! Und jetzt würde alles sterben. Und wenn er nicht zu jung wäre, würde er sich auch auf den Rücken legen und nicht mehr aufstehen.

Die Zwingen schraubte er von der Schatulle und betrachtete sie. Die Leisten gefielen ihm nicht an der Bodenkante. Er hob die Schultern. Dann ließ er die Kiste auf die Werkbank sinken und schloss die Augen. Wenn ich nur die Fräse dem Alexander mitgeben könnte, dachte er. Wie es aber die Frau gesagt hatte: ein toter Sohn wäre vielleicht besser als ein schwuler: weil man die Toten ehren muss. Und Späht hatte genickt, wie Alexander auf dem abgetretenen Dielenboden gestanden war, mit dem Schlüsselbund in der Hand. Und die Augen des Sohnes waren hin- und hergegangen, als suchten sie in der Diele oder auf den Stiegen in den oberen Stock nach einem Leben, dass er dort würde führen können. Und sein Kehlkopf war auf und ab gegangen unter der Haut. Gesagt hatte er nichts mehr, nur seine Hand geöffnet und den Schlüsselbund auf den Boden fallen lassen.

Späht schraubte an der Kreissäge das Maß der Führungsschiene fest. Er kontrollierte das Sägeblatt, ob es sauber und rund lief, schaltete die Säge an und ihr Kreischen wirkte wie ein Echo aus vergangenen Tagen, wo immer Geräusche um ihn gewesen waren und Bewegung. Den Deckel sägte er vom Korpus und legte die Teile auf der Werkbank ab. Bevor er den Stecker der Baulampe zog, sah er sich um in seiner Werkstatt. Die beiden Ställe dahinter hatte er abreißen lassen vor einem Jahr schon. Die Flächen dort hoben sich braun ab und bei Hitze roch es noch immer nach den Tieren, die seit Ewigkeiten aufeinander gefolgt waren, darin Milch zu geben oder fett zu werden. Späht biss seine Kunststoffzähne aufeinander und spürte den Druck am Kiefer. Er zog den Stecker und es wurde dunkel in der Scheune, die entfernten Geräusche der Bundesstraße lauter mit einem Mal. Das Scheunentor schob er zu und hängte das Vorhängeschloss ein.

Patrick Findeis (Foto ORF/Johannes Puch)

In der Stube war es warm und die Bäuerin stand in der Küche. Er setzte sich an den Tisch und begann das Gefrießer Tagblatt noch einmal zu lesen. Seit dem Morgen hatte er vergessen, was passiert war in der Welt. Die Namen in den Todesanzeigen las er sich leise vor und bei den Frauen auch die Mädchennamen. Niemand, den er kannte, war dabei. Bald vielleicht, dachte er und legte die Zeitung weg und überlegte, ob er wieder in den Gambrinus gehen sollte, war der Alfons nicht mehr da. Seine Handflächen rieb er aneinander, die machten ein Geräusch wie Schmirgelpapier gegen die Maserung des Holzes gezogen. Das war übrig geblieben von den Jahren Arbeit.

Ob sie seinen guten Anzug zur Reinigung bringe, rief er zur Frau. Die tauchte auf im Türrahmen und sah ihn an: ha komm! sagte sie.

Ich spür's, sagte Späht: der gönnt dem Uwe den vielen Platz nicht im Grab.

Die Bäuerin schüttelte den Kopf: das wär doch schlimm jetzt für die Angelika, sagte sie.

Späht nickte: für ihn dann ja leider nicht mehr.

Die Frau verschwand wieder in der Küche und er hörte ihr beim Hantieren zu. Zu Uwes Beerdigung damals war Alexander mit anderen ehemaligen Klassenkameraden gekommen. Sie hatten ihren Sohn zum ersten Mal seit Monaten wiedergesehen. Und Späht hätte alles gegeben, ihm zu sagen, dass er, dass es so nicht sein soll. Aber Späht war stehen geblieben und hatte den Kopf gesenkt und nicht mehr richtig um Uwe trauern können.

Er blickte zum Stubenfenster und sah nur den erleuchteten Raum und sich in der Spiegelung. Er wollte aufstehen, blieb aber sitzen, legte die Hände und Unterarme flach auf den Tisch und wartete. Endlich klingelte das Telefon.

Falsch verbunden! schrie er dem Apparat entgegen.

Das wird der Rößner sein wegen der Kapelle, rief die Frau aus der Küche.

Dass es nur der Rößner sein konnte wegen der Kapelle, wusste Späht. Weiter betrachtete er das Telefon, als könne er den Anrufer darin erkennen. Als sei sie mein Eigentum, dachte er, wie er immer dachte, klingelte das Telefon um diese Zeit, wenn sie hinten an der Kapelle Feierabend machten mit der Renovierung. Und er konnte sich vorstellen, wie der Rößner das Mobiltelefon am Ohr hielt - während sein Gehilfe das Werkzeug zusammenpackte - und auf Spähts Antwort wartete, dass der käme und das Tor der Kapelle absperre, wie er es am Mittag aufgesperrt hatte.

Falsch verbunden! rief er wieder und die Frau kam aus der Küche und nahm ab.

Ja, sagte sie: richt ich aus.

Was ist denn los mit dir? fragte sie.

Späht hob die Schultern. Seine Plastikzähne biss er aufeinander, dass die Kieferkämme darunter durch den Druck taub wurden: gehört's mir das Ding da oben? fragte er.

Es ist doch eine Ehre für uns und mehr wie wir verdienen, dass du den einzigen Schlüssel hast: dein Vater hätt alles drum gegeben, das weißt du!

Der rotiert noch im Grab wegen dem Hof, sagte Späht und die Bäuerin drehte sich weg und ging: du! sagte sie: du!

Die Frau hatte den Zeitungsausschnitt mit der Photographie aufgehoben, auf der Späht dem Pfarrer den Scheck überreichte und sie sich die Hand gaben. An die Überschrift konnte er sich nicht mehr erinnern. Aus der Küche klapperte es. Dass die einfach so weitermachen kann, dachte er, stand auf, nahm den Schlüssel aus der Schublade der Anrichte, ging vorbei an der Garderobe und aus der Tür. Er lief ein paar Schritte und drehte sich um. Sie hatte wahrscheinlich nicht bemerkt, dass er gegangen war. Den Wagen ließ er in der Garage. Vor dem Gambrinus blieb er stehen. Die Fenster der Wirtschaft und der Wohnung darüber waren unbeleuchtet. Im Schein der Straßenlaterne stand das Haus gegen den schwarzen Himmel. Der zurückgesetzte Querbau mit Flachdach, in dem der kleine Laden war, lag halb in der Dunkelheit. Späht hatte ihnen damals noch beim Ausbau geholfen, kurz nachdem Alfons und Angelika geheiratet hatten. Dass sie den Alfons nur wegen seinem Moped genommen hatte, da war er sich schon immer sicher gewesen. Späht begann zu frieren und lief weiter, dem Haus über die Schulter noch einen Blick zuwerfend. Am Ende der Sackgasse trat er ins Feld. Er ging zwischen den Äckern entlang. Links erhob sich die Neubausiedlung wie ein Raumschiff aus der Nacht. Satellitenschüsseln an jedem Balkon. Es roch nach Erde und faulig wie feuchtes Heu. Immer noch kannte er jeden Flecken hier draußen. Wenn der Vater dem Sohn jetzt hinterher folgt, ist das nur recht, dachte er und erkannte in der Ferne die Kapelle auf dem Hügel, nur ein Schatten vor der Finsternis. Über den schweren, umgegrabenen Boden hielt er auf sie zu, spürte den Schotterweg unter seinen Schuhen und ging schneller. Noch hatte die Luft etwas Weiches, aber nicht mehr lange und der Wind würde schneidend werden. Die Jahreszeiten waren vielleicht noch das Einzige, was er wirklich spürte: kommen und gehen, dachte Späht und stand vor der sechseckigen Kapelle mit Kuppeldach, deren Restaurierung er allein bezahlte; und immer noch hatte es geheißen hinter seinem Rücken: es reicht nicht: bei dem vielen Geld von der Kommune, das der bekommen hat. Aber dass die Kirche wieder voll war seit die Polacken im Dorf waren, davon wollte keiner wissen. Späht drückte die Klinke herunter und zog das Tor auf. Den Schemen der Jungfrau Maria erkannte er und die des Heiligen Joseph zu ihrer Linken und des Heiligen Antonius von Padua zu ihrer Rechten. Das Jesuskind in den Armen der Guten Frau lag im Dunkeln, das wenige Mondlicht von den schmalen vergitterten Fenstern reichte nicht. Vor der Figur der Mutter Gottes blieb er stehen. Altes Holz roch er, Lösungsmittel und feuchten Mörtel. Späht ballte die Hände zu Fäusten, spannte den ganzen Körper und senkte den Kopf: hätte es denn nicht gereicht? sagte er und wusste selbst nicht, was er meinte: hätt es denn nicht reichen können? sagte er und hob den Blick und dachte, wie er in das unbegreifliche Gesicht der Jungfrau sah, das halb versteckt im Finstern lag: Stück für Stück: wir gehen Stück für Stück.

 Patrick Findeis, Dieter Moor (Foto ORF/Johannes Puch)

Späht hob die Fäuste vors Gesicht und atmete aus. Und in diesem einen andauernden Moment hörte er entfernt das Vieh schreien, schmeckte er die tiefe feuchte Erde der frischgezogenen Ackerfurchen, und immer lauter noch das geistlose Gebrüll der Tiere. Es sind nicht die Zeiten, dachte er: es ist die Zeit und immer dieselbe, dachte er: und ich weiß nicht weiter; und fühlte vielleicht wirklich die Unendlichkeit hinter dem Land, das er nie verlassen, dem er alles gegeben hatte bisher: und alle die vor mir waren und mich hierher gebracht haben an diese Stelle in der Zeit, dachte er und wusste, dass er nichts mehr würde ändern können.

Rückwärts ging Späht aus der Kapelle. Die Heiligen wieder nur Schemen an der hinteren, breiteren Wand des sechseckigen Raumes. Er stand im Freien, schob das Tor zu und schloss ab. Den Kopf legte er in den Nacken und sah in den Himmel, der Halbmond verschwand hinter einer Wolke. Er hob die Faust und schüttelte sie: na und, sagte er: besser als in die Hose geschissen! und lachte, drehte sich, noch immer lachend: besser als in die Hose geschissen, sagte er und ging davon. In der Entfernung zogen die Lichtkegel der PKW auf der Bundesstraße dahin. Wenn er in Bewegung bliebe, würde nichts mehr passieren.

 

 Banner TDDL 2008