Anette Selg, Vorpommern/Berlin (D)

Anette Selg wurde 1968 in Tuttlingen geboren, sie lebt in Vorpommern und Berlin. Selg wurde zum Bewerb von Klaus Nüchtern vorgeschlagen.


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Anette Selg

Muttervaterkind, © 2007


Die Frau wartet in dem abgedunkelten Zimmer, bis das Kind eingeschlafen ist. Es liegt neben dem Mann im großen Bett, in zwei Stunden wird es mit roten Backen und verschwitzten Haaren aufwachen, und dann werden sie alle drei nach vorne gehen ins Restaurant, das zu den weißen Bungalows gehört, Nachmittagskaffee trinken und der Junge wird ein Eis essen. Die Frau nimmt ihr Buch und ein Laken von der Brüstung vor dem Eingang und steigt über die schmale Außentreppe nach unten. Ein großes Blau leuchtet über ihrem Kopf wie an den vergangenen Nachmittagen, nur nicht am Tag ihrer Ankunft, an dem alles grau war vor Regen. Aus der Wohnung im Erdgeschoß kommt kein Laut, die beiden Kinder schlafen und ihre Eltern wohl auch. An der Wäscheleine vor den geschlossenen Jalousien trocknen Kinderbadeanzüge, Sonnenhüte, eine große schwarze Badehose, die dem Vater der Zwillinge gehört.

Die Frau folgt einem Plattenweg durch das verbrannte Gras, vorbei an dem blau lackierten Ölfass für den Müll, der zerfledderten Palme, bis zu den Olivensträuchern, Lärchen, Hecken mit ledrigen Blättern, die die kleine Siedlung abgrenzen vom Strand. Vor ein paar Tagen hat sie eine Höhle in den Büschen entdeckt, eine Schlafstatt ausgelegt mit alten Bastmatten, kaputten Luftmatratzen. Mit den Dingen, die auf der Insel bleiben, wenn die Touristen wieder abreisen. Sie legt sich unter einen Sonnenschirm am Wasser, dessen eine Seite hängt wie ein gebrochener Flügel, schließt die Augen und denkt, dass ihr diese Mittagsstunden gehören wie seit langem nichts mehr. Spürt den warmen Sand unter ihren Armen und Beinen, legt eine Hand auf ihren Bauch und liest in ihrem Buch von einer Malerin in Paris, die mit zwei Männern in einem Haus lebt und sie verlässt am Ende. Vielleicht ist gerade die Einsamkeit der einzig mögliche Ort, schreibt sie in einem Brief an einen Dritten. Und die Frau denkt an ihr Berliner Wohnzimmer Schlafzimmer Kinderzimmer, an ihren Schreibtisch im Großraumbüro der Redaktion, und es erscheint ihr wie unendlicher Luxus, über eine eigene Einsamkeit zu verfügen. Am Ende der Geschichte sieht sie Theo, den Vater der Zwillinge, wie er links von ihrem Buch erscheint und dann rechts davon. Sie schaut ihm nach, während er sich bückt und etwas aufhebt aus dem flachen Wasser, Muscheln, Steine, sie kann es nicht erkennen.

Anette Selg (Foto ORF/Johannes Puch)

Am Abend liegen rote grüne hellbraune Seeigelgehäuse auf dem Restauranttisch, den sich die zwei Familien teilen. Dazwischen Wasserkaraffen, Teller mit kalten Pommes, Lammknochen, kleine Ouzoflaschen mit schmalem Hals. Der Junge sitzt zwischen den Zwillingen, für die er nur einen Namen hat: Tildafrieda. Zwei braune Köpfe und ein blonder, und Theo hebt sein Glas und sie trinken auf die griechische Insel, auf der sie sich kennengelernt haben, obwohl sie in Berlin nur wenige Straßen voneinander entfernt wohnen. Trinken auf ihre Insel, ein Fels im Wasser mit einem Fischerdorf und einer verschlossenen Kirche auf einer Anhöhe. Neben der Anlegestelle des Dampfers dümpeln blau und rot bemalte Fischkutter, in der Bucht dahinter die Siedlung mit den weißen Bungalows. Katze, sagt das Kind und rutscht von seinem Stuhl, um auf die kleine Getigerte zuzugehen, die sich ihm mit einem Sprung auf die Restaurantmauer entzieht und den kurzen Abhang zum Strand hinunterläuft und zum Wasser. Der Junge kehrt langsam zurück zum Tisch. Bettzeit, sagt sein Vater und lässt ihn auf seinen Rücken klettern, Theos Frau packt die Zwillinge in die Karre, und gemeinsam verschwinden sie in der Nacht.

Die Frau rennt ihnen hinterher, gibt dem Jungen einen Gutenachtkuss, kehrt dann zurück zu Theo an den Tisch. Sie schauen aufs Meer und durch das offene Restaurantdach in einen undurchdringlichen Sternenhimmel, nur am ersten Abend lag eine Plane über dem Ausschnitt. Sitzen da ohne zu reden, sind froh, dass endlich Ruhe ist. Als die Frau spürt, wie ihre Arme sich berühren, rutscht sie etwas zur Seite mit ihrem Stuhl. Irgendwann setzt sich der alte Mann vom Nebentisch zu ihnen, ein in Würde ergrauter Hippie mit weiten Gewändern, Vollbart, wilden Locken. Der Mann nennt ihn den Philosophen. Er wohnt allein in einem der Bungalows und kommt immer erst am späten Nachmittag mit seiner Kamera an den Strand. Adonis, so hat er sich ihnen am ersten Abend vorgestellt. Sie sprechen Englisch mit ihm, er antwortet langsam und suchend, fährt sich dabei über den grauen Bart, als streichle er ein Tier, und gießt Grappa nach in ihre Gläser aus einer durchsichtigen Plastikflasche. From the Greek mountains, sagt er. Als die Frau mit Theo zurück zu den Bungalows läuft, stolpert sie auf den grob behauenen Steinplatten, die überall auf den Wegen liegen, und klammert sich für einen Moment an ihn, um nicht zu fallen.

Am nächsten Morgen hört sie die Stimmen der Zwillinge vor der Tür. Der Mann schläft noch, sie zieht das Laken über seinen nackten Rücken. Das Kind liegt in einer Ecke des Gitterbetts, das Gesicht in die runden Arme geschmiegt, und als sie sich ihm nähert, öffnet es für einen Moment die Augen, es hat ihre Augen, grün mit braun, dann schläft es weiter, und sie geht in T-Shirt und Unterhose aus dem Zimmer. Sie setzt sich auf den Holzhocker neben der Tür und legt den Kopf auf die weiße Brüstung. Am Horizont das Meer, viel blauer noch als der Himmel. Die Zwillinge spielen unter ihr im Gras und bemalen sich gegenseitig mit Wasserfarben. Sie sieht Theo in einiger Entfernung über sein armlanges Segelschiff gebeugt, an dem er seit dem Tag ihrer Ankunft arbeitet, dessen Bauch er aus Ästen geflochten hat und mit Pappmaché überzogen und später mit Stoffresten verkleidet hat. Er muss einen Bannkreis um sich gezogen haben, den die Mädchen nicht zu betreten wagen, während er den faustgroßen Kiel und den Bootsrumpf anmalt, in dem leuchtenden Hellblau der Türen und Fenster ringsum. Als er ihrem Blick begegnet, hebt er kurz seine blaue Hand und sie weist auf ein großes Boot am Horizont. Dann geht sie zurück in ihr Zimmer, zieht ihr T-Shirt aus und schmiegt sich an den Schlafenden, legte ihren Arm um seinen Bauch, dass keine Luft mehr zwischen ihnen ist, und horcht auf seinen Atem und den des Kindes.

Am Strand am Nachmittag liest sie weiter und denkt, es gibt keine Körper in den Geschichten, keine Haut, keine Hände, erst recht keine, die sich finden, nur unfassbare Sehnsüchte, die durch Pariser Straßen laufen oder warten, in dunklen Zimmern, Bars und Parks. Später geht sie über den menschenleeren Strand ins Wasser und sieht beim Zurückschwimmen Theo am Ufer sitzen, der Gleichgewichtsversuche macht mit großen Steinen, die er nacheinander in den Schiffsbauch legt, und nur kurz den Kopf hebt, als sie an ihm vorbeiläuft, doch spürt sie seinen Blick, bis sie wieder auf ihrem Handtuch liegt. Die Sehnsüchtigen im Buch tun alles, um sehnsüchtig zu bleiben, verbringen Tage allein im Bett, wachen die Nächte hindurch, rufen an und schreiben Briefe und legen dann auf, ohne etwas zu sagen, oder schicken ihre Briefe nicht ab. Die Tode, die sie sterben, sind ihr vertraut aus einem früheren Leben. Heute stirbt sie andere: Ein aufgeblähtes Kinder-T-Shirt, das auf der Meeresoberfläche treibt. Die weit aufgerissenen Augen des Jungen. Sein Schluchzen, als sie ihn gegen ihre Brust drückt, ans Ufer trägt.

Als die Frau aufwacht, liegt Theo wenige Meter neben ihr im Schatten eines anderen Schirms. Dann hört sie Stimmen und sieht Theos Frau mit den Zwillingen an den Strand kommen, sie bauen eine Festung um ihn mit Schwimmflügeln, Sandeimern und Badetieren. Die Liebe muss gesprochen werden, liest die Frau und erinnert die ersten Tage mit dem Kind, das seine eigene Welt mit sich gebracht hatte, in dem ihre Sprache nichts galt. Wie sie irgendwann eine Melodie summte für das fremde Wesen, weil ihre Worte nicht taugten für diese Liebe. Und dann rasen der Mann und der Junge aus dem Gebüsch und schmeißen sich auf sie, und erst als sie mit Theo und den schlafmüden Kindern vom Restaurant zurück zu den Bungalows läuft unter einem sternenweißen Himmel und sie dann mit dem Jungen auf dem Arm die Treppe nach oben geht und ihn in sein Bett legt und nicht eher aus der Tür tritt, als bis unter ihr alles still geworden ist, erst da fallen sie ihr wieder ein, die Liebenden wie Ertrinkende in den Geschichten. Steht auf dem grauen Rasen und schaut in den Himmel, und als Theo die Wohnung verlässt, laufen sie eng nebeneinander zum Strand, gehen Hand in Hand ohne zu wissen wie und lassen sich erst los, als sie den Lichtkegel des Restaurants erreichen.

Anette Selg (Foto ORF/Johannes Puch)

Die anderen zwei reden mit Adonis, der sich vom Nebentisch zu ihnen herüberbeugt. Sie sehen aus wie ein Paar, denkt die Frau, und als Theo und sie Platz nehmen, rückt der Alte mit seinem Stuhl heran und zieht ein kleines Plastikbuch aus seiner Bauchtasche, ein abgegriffenes Einsteckalbum, auf allen Photos nackte Frauen, die im seichten Wasser liegen oder auf einem Fels sitzen oder im Sand. Gesichtslose Körper, da sie alle den Kopf abwenden vom Photographen. Ob er davor oder danach oder überhaupt mit ihnen geschlafen hat, fragt sich die Frau, ob er ihnen das erzählen will mit seiner Sammlung, und sagt nichts zu den Bildern, die den Farben nach sicher zehn oder fünfzehn Jahre alt sind. An diesem Abend bleibt er nicht, stellt nur seine halbvolle Plastikflasche neben ihre Wasserkaraffe, packt sein Album wieder in die Tasche und verabschiedet sich. Danach sitzen sie zu viert am Tisch, und sie trinken sich zu mit dem geschenkten Schnaps, rauchen griechische Zigaretten, und Theos Frau erzählt von ihrer Großmutter, der ein ganzer Schlossgarten voll Rosen gehörte irgendwo im Süddeutschen, und wie sie als Kind Nachmittage lang mit ihr durch die leuchtenden Beete gelaufen ist und am Abend wie besoffen war von dem Duft. Theos Frau hat kurze hellbraune Haare wie Jean Seberg in Außer Atem, die sie sich beim Reden ins Gesicht streicht, mit einer Geste, die ebenfalls aus dem Film stammen könnte. Ist eine kleine, schmale Person mit gleichmäßigen Gesichtszügen und geraden Zähnen. Ihre Familie habe irgendwann den Kontakt zur Großmutter abgebrochen, sagt Theos Frau, und seitdem sei sie nicht wieder in den Gärten gewesen. Nur zur Hochzeit haben wir sie eingeladen. Sprach kein Wort mit meinem Vater und mit mir nur das Nötigste, aber Theo mochte sie. Den hatte sie in ihr Herz geschlossen vom ersten Augenblick an. Theo sagt nichts dazu, und die Frau denkt, dass sie diese Menschen immer beneidet hat, die nichts tun und doch geliebt werden. Sie sieht zu ihrem Mann, der mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf seinem Stuhl sitzt, denkt, dass sie es beide nicht zu leicht und nicht zu schwer haben und das vielleicht gut zusammengeht. Manchmal, wenn sie aufwacht in der Nacht, streicht sie über die Innenseite seiner Arme und versinkt in ihrer Weichheit und gleitet wieder zurück in Schlaf und Traum. Diese Sanftheit gibt es und ein Entzücken, wenn sie miteinander schlafen, aber ein Begehren, denkt sie, wie Hunger und Verzweiflung? Gähnt und ist zu müde, um sich die Hand vor den Mund zu halten, sagt: Gute Nacht alle, und als sie aufsteht, sagt Theo: Ich gehe auch, und verlässt mit ihr das Restaurant, in dem nur noch ihr Tisch belegt ist und ein kleiner neben der Wand, an dem zwei Männer sitzen aus dem Dorf, die etwas mit dem Wirt besprechen und mit seiner Frau. Sie hält ihren schlafenden Jungen auf dem Schoß, der die blonden Locken des Kochs hat und dessen helle Haut.

Die Frau blickt im Vorübergehen in den Spiegel, der vor den Toiletten hängt, sieht zwei dunkle Schemen und hört ihre Schritte wie eins. Nie läuft sie in einem solchen Gleichklang mit ihrem Mann. Sie gehen Hand in Hand, als sie den unbeleuchteten Teil des Weges erreichen. Ist ein einfaches Beisammensein, wie mit einem Kind. Und so küssen sie sich, als sie am Bungalow ankommen, an der Wäscheleine hängt ein gelbes dreieckiges Segel, aus einer Gardine geschnitten. Und so geht die Frau nach oben, und als sie aufwacht in der Nacht, weil das Kind laut seufzt im Schlaf, ist der Mann noch nicht zurück, erst am Morgen liegt er neben ihr und drückt sie an sich, als sie aus dem Bett will, und schiebt ein Bein zwischen ihre Schenkel und zieht ihr die Unterhose aus mit dem Fuß, und wie jedes Mal denkt sie, das hat er von mir, und kann sich nicht mehr erinnern, von wem sie das abgeschaut hat.

Anette Selg (Foto ORF/Johannes Puch)

An diesem Morgen beschließen sie einen Ausflug über den Inselberg zu einem Lokal auf der anderen Seite. Wie kuriose Schmetterlinge, denkt die Frau, als sie beim Abstieg die Mädchen und Theos Frau vor sich sieht, die in weißen Röcken und Trainingsjacken und Häkelmützen über den schmalen Trampelpfad hüpfen. Auf der Bergkuppe wachsen kleine Büsche, die Stacheltieren gleich in der Gerölllandschaft liegen. Ab und zu weht der Frau ein strenger Geruch in die Nase, wie wenn man in der U-Bahn zu nah an einem Fremden steht. Im Ausflugslokal läuft elektronische Musik, dunkle Holztische stehen unter einem Palmendach, der Boden ist bedeckt mit weißen Kieseln. Sie bestellen Nudeln mit Tomatensauce für die Kinder und griechische Vorspeisen und Ouzo, reden über Clubs und Musiklabel und Turnschuhe und Pilotensonnenbrillen. Nach dem Essen schauen sie den Kindern zu, die Jagd auf die Katzen machen und sich in irdenen Amphoren verstecken, die überall im Sand liegen. Und alle trinken sie noch mehr Kaffee und Ouzo und rauchen weiter ihre griechischen Zigaretten und aus dem Lautsprecher kommt Killing me softly und Theos Frau erzählt von dem Konzert im Metropol, umgeben von pubertierenden Mädchen, und Theo stöhnt: Lauryn Hill, und dann gibt er ihr einen langen Kuss auf ihre hellbraune Stirn und sie legt ihren Kopf gegen seine Brust. Und die Frau stellt die Beine auf den Stuhl neben sich und lehnt sich an den Mann und sagt, das hab ich immer gemocht, als sie alle einschlafen bei Dornröschen, und hab mich gefragt, als ich klein war, ob die andern alle auch schlafen, wenn ich schlaf.

Den ganzen Nachmittag erwachen sie nicht mehr aus ihrer Verzauberung, schieben die Karren mit den schlafenden Kindern zurück über den Berg, laufen durch die verlassene graugrüne Landschaft wie Außerirdische mit ihren Sonnenbrillen, Basecaps, Umhängetaschen und Trainingshosen. In der Ferne erkennen sie die letzten griechischen Inseln vor der türkischen Küste. Ihr Blick wird durchschnitten von dem dicken schwarzen Stromkabel, das auf Holzmasten balancierend die Insel einfasst. An ihrem Strand angekommen schmeißen sie sich alle in den Sand und die Kinder spielen im Dickicht der Büsche, und erst als die Sonne untergeht, und so hat die Frau die Sonne noch nie im Meer verschwinden sehen, so rot und so alles erstrahlend und aufglühend in ihren letzten Momenten, da erst, als die Sonne verschwunden ist, sieht sie die Schatten in den Gesichtern, und die Zwillinge fangen an sich zu prügeln, und der Junge weint und sagt: Bauchweh.

An diesem Abend spürt die Frau das Zusammensein mit Theo, spürt, dass es Erwartungen weckt, dass ihr wolkiges Nebeneinander Konturen formt, sich abgrenzen will gegen andere Zugehörigkeiten. Und sie reagiert gereizt auf ihre Unruhe und auf den Jungen, als er die volle Limonadenflasche über ihre Bluse kippt, und will sich nicht besänftigen lassen von niemandem und bringt die Kinder nach Hause mit Theos Frau und geht danach nicht wieder zurück ins Restaurant. In ihrem Traum steht Theo vor der Berliner Wohnung und fragt sie nach einem Umschlag für ein großes zusammengerolltes Photo, auf das sie eifersüchtig ist, weil er es so behutsam umfasst, und sie findet nichts Passendes und kehrt mit leeren Händen zu ihm zurück. Als sie erwacht, geht sie ins Bad und trinkt ein Glas Wasser. Dann verlässt sie das Zimmer, setzt sich auf den Hocker vor der Tür und schaut zu, wie der Himmel sich langsam erhellt. Denkt an die glühende Sonne, die im Meer unterging und jetzt hinter dem Berg wieder aufsteigt. Sieht Theo unten stehen, wie er zu ihr nach oben schaut. Gemeinsam laufen sie über die Platten, das stopplige Gras zum Strand und legen sich in die Höhle aus Handtüchern und Bastmatten und Luftmatratzen. Einmal öffnet die Frau die Augen und sieht einen Hund am Wasser entlanglaufen, ein alter Mann folgt ihm, dann versinkt sie wieder in der Unsichtbarkeit, die sie beide umgibt, spürt Theos Fremdheit, ohne dass sie sie beunruhigen würde, stolpert nur manchmal mit ihren Händen über fremde Knochen Haut Haare. Bleibt hellwach danach, klirrendes Morgenblau durchdringt die Blätter, schwimmt und zieht sich wieder an und geht den Strand entlang nach vorn zum Restaurant. Der polnische Aushilfskoch macht ihr einen Mokka, und er rührt ihn nicht zusammen aus Pulver und heißem Wasser wie die anderen, sondern röstet den Kaffee in einer schmalen Kanne und lässt ihn dann zweimal aufkochen auf einem Propangasbrenner hinter der Theke, wie der Steward des kleinen Dampfers, auf der Fahrt von der großen Insel hierher zu der kleinen. Auf der ihr Mann neben Theos Frau und den Zwillingen saß, als sie zurückkam mit den zwei Tassen. Die Frau trinkt den heißen Mokka und schaut beim Davongehen in den Spiegel vor den Klotüren, sieht sehr schwarze Augen und ein Gesicht, in dem alles an seinem Platz ist wie seit langem nicht mehr. Geht zurück über die unebenen Steinplatten und legt sich neben ihren Mann und ihr Leben schließt sich um sie.

Am Morgen der Abreise nahmen sie alle die Sieben-Uhr-Fähre zur nächstgrößeren Insel und stiegen dort um auf einen gewaltigen Dampfer, der die Touristen von den Fischerdörfern wieder zurück nach Athen brachte. Am Nachmittag davor waren sie noch auf die flache Felszunge geklettert, die in der Nachbarbucht weit hinein ins Wasser ragte. Theo trug sein Segelboot auf beiden Armen und ließ es von den letzten Steinen behutsam ins Meer gleiten. Es legte sich erst zur einen, dann zur anderen Seite, drehte sich langsam in den Wind und nahm dann Fahrt auf, entfernte sich von ihnen auf einer Linie parallel zum Ufer, ohne sich dem Strand zu nähern oder dem Horizont. Am Abend hatte sich der Alte noch einmal an ihren Tisch gesetzt und Grappa eingeschenkt und ihnen, als sie sich verabschiedeten, erzählt, dass er jedes Jahr drei Monate auf dieser Insel verbringe und immer Ende September wieder zurückkehre nach Athen, und daraufhin hatte er ein kleines Plastikkärtchen aus seiner Bauchtasche gezogen, Antonis Finikas stand neben dem Passbild eines Mannes mit gestutztem Schnauzer und akkuratem Kurzhaarschnitt und mit Streifen und Sternen auf den Schulterepauletten. Me, sagte er, me that is, und dass er in Athen bei der Luftwaffe arbeite, als technischer Offizier der Flugzeugabwehr, das sei er im sonstigen Leben, aber sie sollten das eine nicht vergessen, dass dies hier die schönste Insel der Welt sei und sie unbedingt im nächsten Sommer wiederkommen müssten. Und Theo sagte, dass er diese Systeme programmiere für eine amerikanische Firma, diese Flugabwehrvorrichtungen. Die griechische Luftwaffe erhalte einen großen Teil ihres Materials von den Amerikanern, sagte der Alte. Und sie tauschten sich aus über technische Ausstattungen, Typennamen, Modellkennziffern, und der Frau schien es, als hätten endlich zwei ihre ganz eigene Sprache gefunden.

Auf dem übervollen Riesendampfer saßen sie neben einem italienischen Ehepaar. Die dicke Frau, in schwarzes Leinen gekleidet und mit einer großen Holzkette um den Hals, trug etwas aus ihrem Notizheft in ein ledergebundenes Buch mit cremefarbenen Seiten. Sie riss die abgeschriebenen Blätter aus dem Block, zerknüllte sie und ließ sie über die Reling ins Wasser fallen. Der Mann, im hellbraunen Cordanzug mit offenem Jackett, hatte ein Taschenbuch vor sich auf dem Tisch liegen, Friedells Kulturgeschichte Griechenlands, und als er sich aus einer Plastikflasche Wein nachschenkte, las die Frau auf der aufgeschlagenen Seite: Auch sternenlose Nächte zählte man nur drei im Jahr.

Einmal war sie noch allein mit Theo, auf der Damentoilette des Schiffs, als sie den Kindern im Handwaschbecken die Füße wuschen, kleine weiche Fußballen einseiften und kleine Zehen. Sie hob den Kopf nicht und wollte diese Intimität nicht gespiegelt, sah auf Theos schmalen dunklen Arm neben ihrem, half ihm die Mädchen wieder anzuziehen und dachte, dass sie kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten seit jenem Morgen. Stand dann lange auf dem Oberdeck mit dem Kind, das sich nicht sattsehen konnte an den weißen Wellen, die das Schiff hinter sich herzog, spürte den kleinen Arm um ihr Bein und dachte daran, wie sie gestern Nacht noch allein am Strand spazieren gegangen war und in der Bucht hinter der Siedlung, an eine niedrige Kaimauer gelehnt, Theos Segelboot entdeckt hatte. Jemand musste es an Land gezogen haben, aus dem Wasser geholt und zur Mauer getragen. Die Sorgfalt, mit der das Boot abgestellt worden war, rührte sie, und dass es im sicheren Hafen seine Nacht verbringen würde. Aber gewünscht hätte sie ihm doch etwas anderes: Turbulente Tage auf dem weiten Meer, bevor es am Ende unterging oder zerfiel und davontrieb in alle Richtungen.

 

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