Lorenz Langenegger, Zürich (CH)
Lorenz Langenegger wurde 1980 in Gattikon geboren und lebt in Zürich. Langenegger wurde von Alain Claude Sulzer zur Teilnahme am Bewerb vorgeschlagen.
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Videoporträt
DER MANN MIT DER UHR
Ob es ein Trost ist, dass der Kindergarten näher liegt als der Friedhof, überlegt sich Viktor, als er auf die Straße tritt und um die Ecke biegt, wo er das Lachen der Kinder hören und ihre fröhlichen Gesichter sehen kann, wenn sie sich auf der Schaukel über die Hecke hinaus schwingen, ob es heute ein Trost sein könnte. Bisher hat er noch nie auf einer Parkbank vor dem Kindergarten Platz genommen, sondern immer nur auf einer der Friedhofsbänke. Er wählt den Friedhof, weil er die Ruhe schätzt, nur die Ruhe, nicht etwa die Totenstille, wie ihm Marie an Regentagen zu unterstellen pflegte. Außerdem sind die Bänke beim Kindergarten tagsüber von Müttern und abends von Tamilen besetzt. Sie kommen her, um zu spielen, sie haben alles Recht, auf diesen Bänken zu sitzen. Die Mütter spielen, während sie auf ihre Kinder warten, mit den Hinterhergeborenen im Sandkasten oder auf dem Kletterturm. Die Tamilen teilen im Licht der Straßenlaternen Karten aus und lassen Whiskey herumgehen, den sie mit Cola strecken. Worauf sie warten, darüber kann Viktor nur spekulieren, auf Frieden in ihrer Heimat, auf Nachrichten von Verwandten. Für ihn, so seine Sicht der Dinge, und die hat er auch Marie geduldig darlegt, wenn sie ihn auf seine häufigen Aufenthalte im Friedhof ansprach, blieben keine anderen Bänke übrig. Dass er den Friedhof besucht, hat nichts mit den Gräbern zu tun, schon gar nicht mit den Toten, die da liegen, er kannte keinen einzigen von ihnen, obwohl es ein großer Friedhof ist, eine makabere Vorliebe für die Gesellschaft von Toten weist er strikt von sich, es hat mit dem Angebot an Parkbänken und der Ruhe und mit sonst nichts zu tun. Der Vermutung, dass er ein trauriger Mensch ist, kann er auf keinen Fall zustimmen. Er ist nicht schwermütiger als andere auch. Heute allerdings, das muss er sich eingestehen, heute ist er im Bett liegen geblieben, obwohl es draußen schon lange hell war.
Viktor geht am Kindergarten vorbei, den grünen Fensterläden der Genossenschaftswohnungen entlang, er überquert die Hauptstraße und noch bevor er das Friedhofstor erreicht, weiß er, dass er daran vorbei gehen wird, obwohl er kein anderes Ziel nennen kann. Wenn er, wie er es heute tut, nicht in die Hauptallee des Friedhofs einbiegt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als um den Friedhof herumzugehen. Die vielbefahrenen Straßen, die den Mauern entlang führen, sind eine schlechte Alternative zu den Blumenwiesen, den alten ausladenden Eichen und Platanen, den Brunnen und Parkbänken, die ihn im Innern der Mauern erwarten. Nach einer Runde um den Friedhof herum wird er einen zweiten Versuch unternehmen, das große schmiedeiserne Tor doch noch zu durchschreiten und den knirschenden Kies der Hauptallee unter die Sohlen zu bekommen. Gelingt auch der zweite Versuch nicht, wird er unverrichteter Dinge nach Hause gehen, wo noch viele lange Stunden vor ihm liegen, bis der hereinbrechende Abend ihm erlaubt, das Licht anzumachen. Und das, obwohl es wenig Abend braucht, bis die Düsterkeit in seiner schattigen Wohnung im Hochparterre einen Druck auf den Lichtschalter nötig macht. An einem schönen Tag im Hochsommer fallen die steilen, mittäglichen Sonnenstrahlen für eine Stunde durch die Fenster seiner zwei Zimmer zur Straße hin. Bereits Ende September muss Viktor sich auf den Fenstersims setzen, um die wärmenden Strahlen im Gesicht zu spüren. Das einzige Sonnenlicht, das durch die hofseitigen Fenster der Küche und des Schlafzimmers fällt, wird nachts vom Mond reflektiert.
Viktor hat sich an der beschränkten Aussicht nie gestört. Vor seinem Fenster führt eine kurze Einbahnstraße vorbei. Auf beiden Seiten gibt es nur drei Hauseingänge. Schmale Gehsteige genügen für die wenigen Fußgänger. Eine Halteverbotstafel sorgt dafür, dass kein Lieferwagen den Verkehr behindert. Alles andere als die nächste Fassade wenige Meter vor Viktors Fenstern käme einer Verschwendung von öffentlichem Raum gleich. Marie hat es beinahe geschafft, ihm seine Wohnung zu vergraulen. Sie ließ keine Gelegenheit aus, sich über die Dunkelheit zu beschweren. Er werde verkümmern in dieser Wohnung, so ihre Prognose, die er mit dem Hinweis auf seine Zimmerpflanze parierte, die schon seit Jahren langsam zwar, aber kontinuierlich wuchs. Er esse täglich Früchte, warb er für seine Gesundheit, und nehme zusätzlich Vitamine in Form einer in Wasser aufgelösten Brausetablette zu sich. Auch sein Argument, dass Sonnenstrahlen schwere Krankheiten beförderten, ließ Marie kalt. Sie blieb bei ihrer ablehnenden Haltung hinsichtlich der Lage seiner Wohnung. Ihre Worte klingen in Viktors Ohren nach. Es ist eine Weile her, dass er ihr aus den Stiefeln geholfen und ihren Mantel, den sie abzustreifen und achtlos fallen zu lassen pflegte, ordentlich auf einen Bügel gehängt hat. Dennoch begleitet ein trotzig zufriedenes Lächeln seine Erinnerung an ihre Klagen. Seine Wohnung ist ihm lieb, und die Pflanze hat viele frische, zartgrüne Triebe ausgeschlagen, seit er sie umgetopft hat.
Heute Morgen brauchte es ein doppeltes Klingeln des Postboten, um ihn aus dem Bett zu bringen. Es ließ ihn aufspringen, denn der Postbote klingelte nur, wenn seine Lieferung eine besondere Wichtigkeit auszeichnete, und ein geduldiger Mensch war er nicht, das war Viktor bekannt. Wer nicht innerhalb von kurzer Frist an der Tür erschien, der war nicht zu Hause, zumindest aus Sicht des Postboten nicht, also sprang Viktor auf, schlüpfte in die Hose, die auf dem Stuhl neben seinem Bett lag, und eilte zur Tür. Der Postbote hatte sich schon abgewendet, und Viktor setzte an, um seinen Protest über die immer kürzer werdende Zeitspanne anzubringen, in der es einem möglich sei, das eigene Zuhausesein der Post glaubhaft darzulegen, da wendete sich der Postbote ihm zu. Er habe den falschen Klingelknopf gedrückt, unten statt oben, das sei aber auch unklar angeschrieben, beide Knöpfe exakt gleich weit vom Namensschildchen entfernt, nur wer abzähle komme zu einem eindeutigen Resultat, welches Schildchen zu welchem Knopf gehöre. Das Paket sei nicht für ihn, dessen Name unter dem irrtümlich gedrückten Knopf stehe, sondern für die Person in der Wohnung über ihm. Nichts für ungut, wünschte er und war auch schon verschwunden.
Es war ein ungewöhnlich großes Paket, das der Bote auszuliefern hatte, so groß war es, dass er es nicht unter den Arm klemmen konnte, sondern mit beiden Händen halten musste, um es die Treppe hoch zu tragen. Was ihm in einem Paket von solchem Ausmaß alles hätte geschickt werden können, ging Viktor durch den Kopf, ein Leuchtglobus mit einem Ständer aus Kirschbaumholz, eine italienische Kaffeemaschine mit einem freistehenden Mahlwerk, die erste Hälfte einer in Leder gebundenen Brockhaus Ausgabe. Er nahm die üblichen zwei, drei Absagen aus dem Briefkasten und schloss enttäuscht die Tür, weil das dringliche Klingeln nicht ihm gegolten hatte. Wenigstens war seine Schwermut überlistet und er aus dem Bett gebracht, dachte er und trotzte dem Verlangen, sich wieder hinzulegen.
Er raffelte einen Apfel. Das Paket war an die Nachbarin über ihm adressiert, er hätte es für sie entgegennehmen können, ging Viktor durch den Kopf. Sie war bestimmt nicht zu Hause. Jeden Morgen um halb acht verließ sie in zielstrebiger Tüchtigkeit das Haus und kam selten vor sieben zurück. Er hätte ihr einen Gang aufs Postamt erspart, und es hätte sich eine Gelegenheit geboten, mir ihr ins Gespräch zu kommen. Bei Begegnungen im Treppenhaus erwiderte sie seine Begrüßungen und kleinen Fragen zu Befinden und Wetter in knappem, aber freundlichem Ton. Vielleicht hätte sie ihn sogar zu einem Glas Wein eingeladen und damit den gestrigen Nachmittag vergessen gemacht. Er ließ den Apfel stehen, lief zum Wohnzimmerfenster, aber das maisgelbe Auto des Postboten hatte das Halteverbot bereits verlassen. Er mischte den Apfel mit fünf gehäuften Esslöffeln Haferflocken. Bis das Teewasser kochte, ließ er die Flocken im Saft des Apfels ziehen, dann zog er einen Becher Joghurt unter den Brei, ein Frühstück, das ihn schon seit vielen Jahren für den Tag stärkte.
Immer wieder ist Viktor kurz davor, sich auf eine Bank beim Kindergarten zu setzen. Wenn es eine freie Bank gibt, die von keiner Mutter beansprucht wird, und es für die Tamilen mit den Spielkarten noch zu wenig Nacht ist, verlangsamt er seine Schritte, manchmal bleibt er sogar kurz stehen. Auch heute hat er vor einer freien Bank gezögert, er hat sich überlegt, dass die Fröhlichkeit von spielenden Kindern, der Anblick des unbeschwerten und gedankenlosen, weil noch unendlichen Lebens ihm guttun würde. Aber auch heute ist er weitergegangen, das Zögern hat ihn am Überqueren des Spielplatzes nicht gehindert, obwohl er weiß, dass ihm keine anderen Bänke zu Verfügung stehen werden, auf die er sich setzen könnte, um dem Friedhof zu entgehen. Gerade heute würde er ihm gerne entgehen, denn nicht zuletzt sein Aufenthalt auf dem Friedhof ist schuld daran, dass er länger als gewöhnlich im Bett liegen geblieben ist.
Ob er gerne auf dem Friedhof sitze, wurde er gestern gefragt, und heute getraut er sich nicht mehr hin zu jenem Plätzchen, wo bis vor kurzem eine Blutbuche stand und nun eine Hinweistafel erklärte, dass der schöne, alte Baum habe gefällt werden müssen, weil er krank gewesen sei. Nicht zum ersten Mal setzte er sich in die Lücke, die der gefällte Baum hinterlassen hatte, die Sonne schien hier länger als anderswo. Ja, er sitze gerne hier, antwortete er, und erst nachdem er nach Hause gekommen war, erkannte er, was für ein Licht, vielmehr Schatten, dieser erste Satz, diese Zustimmung, die ihm ohne Zögern über die Lippen kam, auf ihn geworfen hatte. Ein Mensch, der freiwillig und ohne Einschränkung zugab, gerne auf dem Friedhof zu sitzen, der konnte, das hatte er leider erst zu Hause und also zu spät erkannt, leicht für einen seltsamen Menschen gehalten werden. So war es vermutlich, von Anfang an hielt ihn der Mann, von dem er nicht einmal den Namen erfahren hat, für einen seltsamen Menschen, deshalb ist er so plötzlich verschwunden. Einen Kauz nannte jener Viktor bei sich, einen schrägen Vogel, vielleicht sogar einen harmlosen Spinner, dabei hat sich Viktor so viel von dieser Begegnung versprochen. Sie wies weit über die alltäglichen Zusammentreffen mit dem Sitznachbarn im Bus oder der Dame an der Kasse, die vergessen hatte, die Äpfel zu wägen, hinaus. Wann ist es zum letzten Mal zu einer Begegnung gekommen, aus der eine Bekanntschaft hätte werden können?
Der Mann war in seinem Alter. Er trug einen Anzug, dem auf den ersten Blick anzusehen war, dass es sich nicht um einen Traueranzug handelte, der zu einer Beerdigung getragen wurde. Es war ein gewöhnlicher Geschäftsanzug, wie sie in dieser Stadt häufig, auf dem Friedhof aber selten vorkamen. Die Herrenbekleidungsgeschäfte verkauften Anzüge dieser Art zu hunderten an die Angestellten der Bankinstitute und Versicherungen, von denen in den Bürohäusern der Innenstadt so viele ihren Hauptsitz oder zumindest eine Zweigstelle eingemietet hatten. Meist wurden solche Anzüge in Kombination mit einem Hemd, dessen Etikett schwindelte, dass es leicht zu bügeln sei, und einer unauffälligen Krawatte verkauft.
Er müsse ihn entschuldigen, er wolle nicht stören, auf keinen Fall, vermutlich wolle Viktor nur hier sitzen, was er ja gerne tue, wie er eben bestätigt habe, so fuhr der Mann fort, und Viktor fiel auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf, dass die Wiederholung seiner Antwort ein Hinweis darauf war, dass eine genauere Erklärung seinerseits nötig gewesen wäre, um Missverständnissen, seinen Aufenthalt auf dem Friedhof betreffend, vorzubeugen. Vermutlich hätte es genügt, wenn er angefügt hätte, er sitze hier nur, weil die Bänke vor dem Kindergarten besetzt seien, und der Mann wäre nie auf die Idee gekommen, dass es sich bei ihm um einen seltsamen Kauz handeln könnte.
Es tue ihm furchtbar leid, aber er könne nicht still sein, er müsse reden und wenn es ihm nichts ausmache, würde er das gerne mit ihm tun, wenn er aber störe, und um das zu bekunden, reiche ein kurzes Nicken, werde er sofort weitergehen und keinen Augenblick länger vor seiner Bank verharren.
Besser hätte das Gespräch für Viktor gar nicht beginnen können.
Ob er ihm sagen könne, wie spät es sei, fragte der Mann und zeigte dabei auf seine Uhr. Er würde sich die genaue Uhrzeit gerne von ihm bestätigen lassen, weil er in solchen Situationen wie der jetzigen immer an seiner Uhr zweifle, obwohl diese seit seiner Konfirmation einwandfrei funktioniere und er seither kein Flugzeug und keinen Termin verpasst habe, zumindest könne er seit seiner Konfirmation für keine Minute Verspätung seiner Uhr die Schuld geben.
Viktor nannte dem Mann die Zeit, die von der Kirchturmuhr zur letzten Viertelstunde geschlagen worden war, weil er selbst keine Uhr trug.
Wenn es drei geschlagen habe, so sei auch heute mit seiner Uhr alles in bester Ordnung, und es bleibe ihm nichts anderes übrig, er müsse sich gedulden.
Der Mann machte Anstalten, sich auf die Bank neben Viktor zu setzen, sprang aber wieder auf, noch bevor der Stoff seiner Hose mit dem Holz der Bank in Berührung gekommen war.
Ob er ihm erlaube, sich zu setzen, er habe es ihm schon angedroht, lachte der Mann, still sein könne er nicht, und seine Worte würden wohl, das ließe sich nicht verhindern, auf ihn niedergehen, wenn er ihm erlaube, sich neben ihn auf die Bank zu setzen.
Viktor nickte, und der Mann setzte sich. Der Zustand des Nebeneinandersitzens war nicht von Dauer. Der Mann wippte mit beiden Knien, was dazu führte, dass er auch seinen Oberkörper nicht stillhalten konnte und sogar seine von Haarwachs zusammengehaltenen Strähnen über der Stirn in Bewegung gerieten. Der Mann war sich seiner Unruhe durchaus bewusst und schlug, um sie zu unterbinden, schon nach kurzer Zeit die Beine übereinander und klemmte die Hände zwischen die Oberschenkel. Zur Regungslosigkeit verdammt, versuchte er einige Male vor und zurück zu rutschen, dann sprang er von der Bank, seufzte erleichtert auf, wie einer, der nach Jahren im Verlies von den Ketten befreit wird. Er drehte sich um die eigene Achse und stellte sich hinter die Bank. Während er mit den Füßen im Kies scharrte und kleine Staubwolken aufrührte, die sich als grauer Film auf seine schwarzen Halbschuhe legten, fuhr er fort.
Spätestens um vier wisse er Bescheid. Um vier! Das sei fast noch eine ganze Stunde. Ein Glück, dass er ihn getroffen habe. Säße Viktor nicht hier auf dieser Bank, er wüsste nicht, wie er diese Stunde heil überstehen sollte. Er habe schon befürchtet, dass es eine schlechte Idee gewesen sei, auf den Friedhof zu kommen. Hier habe er nicht mit einer geduldigen Person wie ihm rechnen können, an einer Bartheke wäre die Chance, einen Menschen zu treffen, der sich eine Stunde mit ihm unterhalten hätte, bestimmt größer gewesen. An einer Theke aber hätte die Gefahr bestanden, dass er sich in einer Stunde betrunken hätte, und das wäre, egal wie die Kommission entscheiden würde, verhängnisvoll. Das könne er sich nicht erlauben, betrunken zurück ins Büro zu kommen, das würde ihm ohne Zweifel als unhaltbare Schwäche ausgelegt, wenn er sich in einer solchen Situation nicht anders zu helfen wisse, als sich zu betrinken. Im schlimmsten Fall würde ein solches Vorkommnis sogar zu einer Neubeurteilung der Sachlage führen. Aber er habe Glück gehabt, er habe einen Menschen getroffen, der ihm in dieser langen Stunde beistehe, dafür sei er ihm dankbar.
Viktor drehte den Kopf in Erwartung, dem Mann in die Augen zu schauen. Er freute sich darüber, dass ihm jemand dankbar war, und er wollte demjenigen, der diesen schönen Satz gesagt hatte, einen warmen Blick schenken. Der Mann aber starrte auf seine mechanisch scharrenden Schuhspitzen, und es dauerte eine Weile, bis das Bild der staubigen Schuhe in sein Bewusstsein vordrang, und er sich des Scharrens bewusst wurde. Er machte einen weiteren Versuch, sich zu setzen. Erneut scheiterte er am unbändigen Drang, sich zu bewegen. Er stellte einen Schuh auf die Bank und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück. Er stand jetzt vor Viktor und holte aus der Gesäßtasche sein Portemonnaie hervor.
Vorgestern sei sein Sohn drei geworden. Heieiei, drei schon, rief der Mann aus und schlug sich dabei mit der Hand aufs Knie. Und das zweite sei unterwegs. Seit ein paar Tagen wüssten sie das mit Sicherheit. Einen Kindergeburtstag habe das gegeben für den Kleinen. Zum ersten Mal habe er seine Freunde einladen dürfen. Das fange ja schon sehr früh an, dass die Kinder einander mögen oder eben nicht. Und er, der Kleine, habe genau gewusst, wen er einladen wolle und wen nicht. Den ganzen Abend davor habe er Luftballone aufgeblasen, seine Frau mache das nicht gerne, Ballone aufblasen, auch Briefmarken oder Umschläge, die nicht von selbst klebten, das könne sie nicht ausstehen, dafür backe sie ausgezeichnet.
Der Mann streckte Viktor eine Fotografie entgegen, auf der ein kleiner, blonder Junge abgebildet war, der über einem riesigen Stück Kuchen saß. Viktor lächelte und brachte den warmen Blick doch noch an den Mann.
Ein schönes Kind. Wache Augen. Sein Sohn habe bestimmt einen außergewöhnlichen Charakter, das sei gut zu erkennen. Mit seinem Willen bringe er seine Eltern bestimmt auch manchmal ganz schön in Verlegenheit.
In Verlegenheit, lachte der Mann, das sei, gelinde gesagt, eine maßlose Untertreibung. Regelmäßig bringe der Kleine sowohl seine Mutter als auch ihn, den Vater, wenn er abends nach Hause komme, auf die Palme. Wie ein Mensch von drei Jahren in seinem kleinen Kopf schon so fixe Ideen haben könne, das sei nicht zu glauben. Vor einem Monat, an jenem außergewöhnlich heißen Wochenende seien sie hinaus gefahren ins Grüne, am Waldrand hätten sie das Auto stehen gelassen und seien mit Sack und Pack eingetaucht in die erfrischende Kühle. Sie hätten ein schönes Plätzchen an einem Bach gefunden, wo sie ihre Picknickdecke ausgebreitet hätten. Der Kleine sei sofort zum Bach gerannt, Wasser sei für Kinder ja mindestens so anziehend wie Feuer, wie alles, was gefährlich sei und die Eltern auf Trab halte. Er ihm sofort hinterher und gerade noch am Hosenbund erwischt, um ihm und sich die Schuhe auszuziehen, bevor sie ins kalte Wasser wateten. An einer seichten Stelle habe er angefangen, Steine aufzuschichten, um den Bach zu stauen. Für den Kleinen habe es sich bei dieser um die erste Stauung eines Baches überhaupt gehandelt. Er, der Vater, könne, auch wenn er dem Kindesalter längst entwachsen sei, an keinem Bach rasten, ohne ihn zu stauen. Natürlich habe sich der Kleine nicht im Geringsten für seine Erfahrung interessiert, ganz genau habe er, der zum ersten Mal einen Bach staue, ihm, dem erfahrenen Staumeister, gezeigt, wo welcher Stein zu platzieren sei.
Der Mann steckte die Fotografie zurück in sein Portemonnaie und verfiel plötzlich in eine große Nachdenklichkeit.
Er sei sicher, der Kleine habe eine tadellose Stauung des Baches hingekriegt, sagte Viktor in die Pause hinein, die durch das Nachdenken des Mannes entstand.
Von allem Anfang an habe er mit dem Gedanken gespielt, im Garten vor dem Haus ein Biotop anzulegen, und natürlich müsse dann auch ein kleiner Bach zum Biotop hinführen.
Dem Mann kamen die Worte ohne Überzeugung, ohne die Kraft einer bildhaften Vorstellung aus dem Mund. Er sagte sie dahin und war mit seinen Gedanken offensichtlich nicht mehr bei der Sache. Er begann am kleinen Finger der linken Hand mit den Knöcheln zu knacken. Die Anspannung, von der sich der Mann Gelenk für Gelenk befreite, übertrug sich auf Viktor. Bis zum Ringfinger der rechten Hand konnte er sich beherrschen, dann fuhr er ihm dazwischen.
Ob er im Garten auch Blumen pflanze oder ausschließlich Gemüse. Die einzige Möglichkeit, in der Stadt an ein eigenes Stück Grün zu kommen, das über die Fläche eines Balkonkistchens hinausgehe, sei ja, sich um eine Schrebergartenzelle zu bewerben, ein Gedanke allerdings, mit dem er sich nicht ernsthaft befasse.
Viktor merkte gerade noch rechtzeitig, dass er hier nicht weitergehen durfte. Er hatte in das schwere Schweigen des Mannes hinein gesprochen. In einer Unterhaltung über Gärten aber würde er sich um Kopf und Kragen reden. Die Gartenarbeit war ihm gänzlich fremd. Warum eigentlich, überlegte er sich, vielleicht musste das nicht so bleiben, schließlich fühlte er sich der Natur nahe, wenn ihm die kranke Blutbuche auch keine schlaflosen Nächte beschert hatte. Er pflegte seine Zimmerpflanze nicht, um Marie zu trotzen, sondern aus Freude an ihrem Gedeihen. Er nahm sich vor, seine Stellensuche in Zukunft auch auf den Gärtnerberuf auszuweiten. Er bewarb sich regelmäßig als Maurer oder Tischler, nicht weil er diese Berufe erlernt hatte, sondern weil er überzeugt war, dass er sich die Handgriffe des Maurers oder Tischlers aneignen konnte. Auch als Schlosser und Feinmechaniker hatte er sich schon beworben, einmal sogar als Waldarbeiter, erinnerte er sich, da war er dem Gärtnerberuf schon sehr nahe gekommen. Schaden konnte es nicht, vielleicht gab es für ihn eine Stelle als Hilfsgärtner, dank der er im Blumenbeet oder Rasengrün Fuß fassen konnte.
Das alles sei in größter Gefahr, seufzte der Mann und ging nun vor Viktors Bank auf und ab. Er schaute auf die Uhr. Vielleicht werde jetzt gerade, genau acht Minuten vor halb vier, sein Schicksal besiegelt. Wenn die Kommission zu einem ungünstigen Entscheid komme, wenn das Blatt sich wende und der Abteilungsleiter sein Versprechen nicht halten könne, das er ihm gerade eben, als er aus dem Büro gegangen sei, mit einem festen Händedruck gegeben habe, sei alles verloren.
Viktor hätte gerne etwas Beruhigendes gesagt. Wenn der Mann sich wieder neben ihn setzen würde, dachte Viktor, könnte er ihm vielleicht sogar die Hand auf die Schulter legen. Er hatte angenehme Hände, warm und weich, er schnitt sich die Nägel regelmäßig und kaute nicht an ihnen, sondern feilte wenn nötig. Marie hatte seine Hände immer gelobt.
Für so etwas gebe es nur schlechte Zeitpunkte, das wisse er natürlich, der jetzige aber sei ein denkbar schlechter Zeitpunkt. Das zweite unterwegs, das neue Haus bezogen, aber bei Weitem nicht fertig eingerichtet. Er könne sich, auch wenn er wolle, nicht vorstellen, was es bedeuten würde.
Der Mann legte die Hände auf sein Gesicht und unterbrach sein Hin-und-her-Gehen, als ob er sich doch eine Vorstellung davon machen wollte, was in den nächsten Minuten über ihn hereinbrechen könnte. Viktor stand jetzt ebenfalls auf und machte einen hilflosen Schritt auf den Mann zu.
Er sei ganz sicher, dass die Kommission zu keinem anderen Schluss kommen werde als sein Vorgesetzter. Sie könne gar nicht auf ein anderes Resultat kommen, da es offensichtlich sei, wie er sich bewähre, jedem Menschen mit einem Funken Verstand springe seine Tüchtigkeit sofort ins Auge, und Kommissionen bestünden ohne Zweifel aus verständigen Menschen. Er solle unbesorgt sein.
Viktor spürte, dass es zwischen ihm und dem Mann eine Verbindung gab, und er wollte die Chance nutzen, sich mit ihm zu verbünden. Das Verständnis, das er für ihn empfand, konnte dem Mann nicht entgehen. Da hatten sich zwei getroffen, die zusammen auf einer Bank sitzen konnten, auch wenn sie gerade davor standen.
Er habe seiner Frau nichts von all dem erzählt. Der Mann schüttelte den Kopf. Sie müsse sich schonen. Er möge sich gar nicht ausmalen, wie er es anstellen würde, künftig mit ihr am Tisch zu sitzen, neben ihr einzuschlafen und aufzuwachen, ohne mit ihr über die schlimmste aller Möglichkeiten sprechen zu dürfen, falls sie in den nächsten Minuten tatsächlich über ihn hereinbrechen sollte.
Das Mobiltelefon sang mitten in die größte Besorgnis hinein. Viktor war, als ob die fahle Blässe im Gesicht des Mannes noch etwas bleicher wurde. Langsam zog der Mann das Telefon aus dem Jackett, um es dann hastig ans Ohr zu pressen. Eine starre Sekunde nur bangte der Mann, dann löste sich die Anspannung in einem freudigen Strahlen auf. Es gab keine Zweifel, sein Vorgesetzter beglückte den Mitarbeiter mit der Nachricht, dass alles beim Alten blieb, dass die Prüfung der Kommission bestätigte, was er vorausgesagt hatte. Der Mann lachte, wendete sich telefonierend von Viktor ab und ging einige Schritte davon. Viktor schaute ihm nach, bis er hinter einem Grabmal verschwand. Er setzte sich auf die Bank und wartete.
Es dauerte mehrere Minuten, bis Viktor verstand, dass der Mann nicht zurückkommen würde. Er war in sein Büro gegangen, ohne Viktor die Möglichkeit zu geben, zum guten Ausgang der leidigen Geschichte zu gratulieren. Noch länger dauerte es, bis das Erstaunen über den plötzlichen Abgang in Traurigkeit umschlug. Die Sonne war untergegangen und der Abend hereingebrochen, als Viktor aufstand und nach Hause ging.