Simon Froehling, Zürich (CH)

Geboren 1978 in Brugg, lebt in Zürich. Schweizerisch-australischer Doppelstaatsbürger. Er absolvierte den Bachelor-Studiengang am Schweizerischen Literaturinstitut, wo er heute als Gastdozent tätig ist.

Simon Froehling wurde von Corina Caduff für die TDDL 2012 vorgeschlagen.

DOWNLOAD TEXT: PDF

Simon Froehling: Ich werde dich finden
(Auszug aus einem Roman)
vorgetragen bei den 36. Tagen der deutschsprachigen Literatur
© 2012 Simon Froehling

Mein Name ist Regina Maria Dietschi, geboren an einem nebligen Februarmorgen Mitte der Siebziger, gestorben am letzten Julitag dieses Jahres in einem Helikopter der Schweizerischen Rettungsflugwacht, hoch über dem Appenzeller Alpstein. Ich hinterlasse meinen Ehemann Werner und unsere dreijährige Tochter Ana. Diese Geschichte beginnt mit meinem Ende.

Draussen ist es finster, als er aufschreckt und nichts weiss.
Das grosse quadratische Fenster rahmt einen Mond wie gemalt – zweidimensional und zu fahl, um das Zimmer zu erhellen. Keine Sterne.
Panisch kramt er in seinem Kopf nach dem Schönschreibheft seiner Kindheit, schlägt es auf und zeichnet auf die vorgedruckte hellgraue Linie und in Schnürchenschrift ein kleines A, dann ein kleines Z.
Zunehmend – der Mond vor dem Fenster ist zunehmend.
Er will sich bewegen und findet keine Kraft, spürt nichts, ausser das Pochen hinter seinen Schläfen.
Drinnen leuchten verschiedene Lämpchen, und ein zweiter Mond, ein eckiger, spiegelt sich in der Scheibe.
Er schliesst die Augen wieder und lauscht dem Surren der Elektronik dicht neben seinem Kopf.
Jemand muss vergessen haben, den Computer auszuschalten. Wessen Computer?
Das Surren in seinen Ohren geht plötzlich in ein Pfeifen über und dann in ein lautes, rhythmisches Piepsen. Er erschrickt und öffnet die Augen, versucht sich an eine Bar zu erinnern, in der er sich zur Bewusstlosigkeit hätte saufen können und jetzt – wacht er in einer fremden Wohnung auf?
Schlagartig wird es hell, und im selben Moment stürzt Julie ins Zimmer, bewaffnet mit Bauplänen und gefolgt von einem Trupp Arbeiter.
Er blinzelt und spürt, wie verklebt seine Augen sind, spürt die Körner in den Augenwinkeln. Er dreht den Kopf und kneift die Augen halb zu, um die verschwommenen Gestalten, die sich um sein Bett scharen, scharf zu stellen. Seine Brille, wo ist seine Brille? Er will sich aufrichten, um sie zu suchen auf dem Nachttisch – da muss doch ein Nachttisch –?
Wie er sich hochstemmt, schiesst ihm ein Schmerz bis hinter die Stirn. Die Haut an seinen Unterarmen spannt. Er schaut an sich herab:
Festgemacht, verkabelt ist er. Schläuche aus Plastik.
Jemand drückt ihn zurück auf die Matratze, nimmt seine Hand und lässt sie nicht mehr los.
„Julie?“
Seine Stimme ist noch da. Er möchte seiner Freundin sagen, dass er seine Brille suchen muss, weil er sonst nichts sieht während des Seminars.
Eröffnungsdreischritt von –?
Sie jetzt küssen.
Aber die Frau, die seine Hand hält und mit dem Daumen seine Haut massiert, ist nicht Julie. Keine der Frauen und keiner der Männer, die abwechselnd an ihm und an ihren Geräten herumhantieren, ist Julie. Die Frauen und Männer sprechen mit ihm wie mit einem Kind, greifen fest und sicher zu. Ihre Berührungen sind angenehm. Wenn er nicht schon läge, er würde sich zurücklehnen wollen und sich tragen lassen. Er ist zu müde, um zu antworten, dass er sie hört. Dass sie aufhören können, ihn nach seinem Namen zu fragen.

Maximilian Meyer heisst der Mann, der mich nach meinem Tod weiterleben liess. Aber ich sollte wohl versuchen, beim Anfang zu beginnen und mit dem Schluss aufzuhören, der Chronologie der Ereignisse folgend. Nur funktioniert Erinnerung nicht linear, sondern dynamisch wie das Chaos, ein Zustand vollständiger Unordnung und somit der Gegenbegriff zu Kosmos, Ordnung. – Doch genug davon, denn Erinnerung trifft es ohnehin nicht. Hier wo ich bin, herrscht das perpetuelle Präsens, welches die Vergangenheit und alle Zukunft mit einschliesst. Was sehr abstrakt klingen mag, doch finde ich keine besseren Worte für diesen Übergang ins grosse Sein, in dem es keine Grenzen mehr gibt – keinen Körper, der einen begrenzt. Im Leben ist man an eine Form gebunden, um eine Funktion ausüben zu können, mit dem Tod verflüchtigt man sich und verschmilzt mit der Ganzheit von allem, man ist gleichzeitig jedes einzelne Ding, alle Menschen, Tiere, Pflanzen, das Weltwetter und jegliches Wissen, und ohne Liebe oder Schmerz zu spüren, ist man die Liebe schlechthin und die Summe allen Schmerzes, ist jede erdenkliche Gefühlsregung unter der Sonne, wie auch jedes Wort in jeder Sprache, das je gesagt wurde in allen Zeiten.
Was sehr anstrengend sein kann, muss ich zugeben, weshalb ich bezüglich Chronos und Logos nichts versprechen will.
Aber blenden wir zurück:

Max bricht an einem bewölkten Dienstagmorgen Anfang Mai in einem überfüllten Hörsaal der Universität Zürich, kurz bevor er im Seminar Einführung in die Spielfilmdramaturgie über den Eröffnungsdreischritt von dramatischem Auftakt, eigentlicher Exposition und erregendem Moment referieren soll, zusammen und bleibt liegen.
Seit Tagen schon ist er müde, und sein Herz rast, sodass er sich auf nichts konzentrieren kann. Seit Tagen ist er gereizt, er hat Kopfschmerzen, seine Haut juckt. Und seit Tagen geht er nicht zum Arzt, gibt dem steigenden Druck im Vorfeld der Prüfungen und dem nahenden Umzug in Julies und seine erste gemeinsame Wohnung die Schuld an seinem Unbehagen.

Als er wieder zu sich kommt, steht ein weiss gekleideter Mann an seinem Bett.
„Herr Meyer, können Sie mich hören?“
Max nickt kaum merklich.
„Mein Name ist Peter Jost, ich bin Leitender Arzt der Klinik für Nephrologie hier am Universitätsspital.“
Max weiss nicht, was Nephrologie bedeutet.
„Ihre Nieren haben versagt.“ Doktor Jost klingt vorwurfsvoll. „Und zwar aufgrund einer viel zu lange undiagnostizierten chronischen Niereninsuffizienz im Endstadium.“
Max kennt nur das Wort Nekrologie –
„Diese Insuffizienz resultierte wiederum in einer irreversiblen Schädigung des Organs.“
– eine Wissenschaft, die sich mit dem Tod befasst.
„Wir haben bereits begonnen, Sie zu dialysieren, weswegen Sie auch auf meiner Abteilung liegen. Wissen Sie, was eine Dialyse ist?“

„Vereinfacht gesagt“, versucht Max am selben Nachmittag die Stimme von Doktor Jost nachzuäffen.
Aber Julie lacht nicht.
„Vereinfacht gesagt, habe ich zwei Möglichkeiten: ambulante Blutwäsche oder Heimdialyse.“
Max schaut nicht seine Freundin an, sondern einen dunkelhaarigen Mann seines Alters, der in die Cafeteria schlurft und dabei zuerst den einen Fuss ein paar Zentimeter vorschiebt, dann den anderen, während er sich an einem mobilen Infusionsständer festhält, so als befürchte er, der Boden könne jeden Augenblick unter ihm wegbrechen.
Julie streckt ihren Arm aus, sagt:
„Hier bin ich...“ Sie legt ihre Hand auf seine Schulter. „Schau mich an. Was hat der Arzt noch –?“
Die Geräusche in der Cafeteria schwellen an, schlucken ihre Worte. Es riecht nach Essig und nach abgestandenem Kaffeesatz.
„Oder willst du dich wieder hinlegen?“

Bevor sie den Raum verlassen, schaut Max noch einmal zu dem Mann, der sich mittlerweile an einen der runden, pfefferminzgrünen Plastiktische gesetzt hat, die Hände auf der Platte gefaltet wie zum Gebet, und der im Teetassengrund vielleicht eine Antwort sucht auf die Frage: Warum ich?

Im Lift ist Max froh, dass es keinen Spiegel gibt. Er würde sich nicht sehen wollen, fragt sich, was Julie jetzt in ihm sieht. In ihrem ungewaschenen, vom Schicksal plötzlich ausgebremsten jungen Liebhaber. Seine rötlich-blonden Haare vorne zerzaust und am Hinterkopf plattgedrückt, die hellen grünen Augen nur Schlitze zwischen aufgequollenen Lidern und Tränensäcken. Ob sich Julie gefällt in ihrer neuen Rolle als Helfende. Oder ob sie ihn verwünscht: Weshalb gerade jetzt? Wo ihr erstes grösseres Bauwerk gleich fertig wird. Wo ihr beider Einzug ins oberste Stockwerk desselben kurz bevorsteht. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?
„Blutungen und Blutgerinnsel, Aluminiumablagerungen im Gehirn – beide Verfahren bergen grosse Risiken in sich“, stopft Max die Stille im Fahrstuhl und ist erstaunt, wie nüchtern und fest seine Stimme klingt. Diesmal ungewollt exakt wie jene von Doktor Jost. „Infektionen, frühzeitige Demenz, Herzrhythmusstörungen.“
„Du hast dich überanstrengt“, sagt Julie und heftet ihren Blick an die stählerne Lifttür.
Alles hier ist aus Stahl, denkt Max, als wolle das Spital, das Gebäude selbst, ein Zeichen setzen gegen die Vergänglichkeit, den Zerfall von allem Fleischlichen.
„Wenn wir uns für die Heimdialyse entscheiden, müssen wir ein Zimmer hergeben. Für die ganzen Geräte. Alles müsste steril sein. Willst du das?“
Julie sagt lediglich:
„Lass uns ein andermal –“
Max erträgt sie nicht, ihre Stimme, sonst so forsch, gar fordernd, plötzlich so weich und verständnisvoll.
„Natürlich gibt es noch die Möglichkeit einer Transplantation. Aber das wolle gut überlegt sein, meinte er.“
„Wer?“, fragt Julie.
„Jost. Wer denn sonst?“
Der Lift kommt zum Stehen. Unerträglich langsam nur geht die Tür auf.

Wenig später gurgelt das Dialysegerät neben der schmalen, verstellbaren Liege mit dem weissen Frotteeüberzug vor sich hin.
Endlich allein, denkt Max und versucht, sich an möglichst viele Filmszenen zu erinnern, in denen Frauen beim Frisör unter Trockenhauben sitzen, denn die Zeit auf der Station scheint eine ähnliche zu sein wie in all diesen altmodischen Salons – eine langsamere, eine, die ausserhalb von allem stattfindet.
Eigentlich hatte er sich für die Semesterprüfung, die er wird nachholen müssen, vorbereiten wollen.
Robert McKee, Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens.
Filmszenen mit verschwitzten Männern auf Laufbändern in Fitnesszentren? – Blödsinn!
Max öffnet das Buch, das er sich von seiner Freundin ins Krankenhaus hat bringen lassen.
Das Erzählen von Storys ist die schöpferische Demonstration von Wahrheit. Eine Story ist der lebendige Beweis einer Idee, die Umwandlung einer Idee in Handlung.
Er kann sich nicht konzentrieren; andere Termini verdrängen das Geschriebene.
Chronische Niereninsuffizienz im Endstadium.
Die Niere, sagt er sich, ist ein paarig angelegtes Organ –
(Julie, die ihn nachts vor dem Einschlafen von hinten hält.)
– ein Organ, das unter anderem für die Ausscheidung von Endprodukten des Stoffwechsels durch Bildung von Harn zuständig ist.
(Die runde Verbotstafel mit dem Piktogramm eines im Stehen pinkelnden und durchgestrichenen Männleins, das in Julies Klo hängt.)
Insuffizient gleich ungenügend, unzureichend.
(Das Zeugnis der fünften Klasse, das er beschämt nach Hause trägt, weil darin – im Singen – erstmals die Note ungenügend vermerkt ist.)
Chronisch: langsam entwickelnd, lange andauernd.
Und Endstadium heisst, dass diese über lange Zeit andauernde Mangelhaftigkeit seiner Niere symptomatisch geworden ist, sprich, die auszuscheidenden Stoffe nicht mehr über das Organ aus seinem Körper transportiert werden.
(Wieder die Tafel mit dem durchgestrichenen Männlein.)
Insuffiziente Stadiumsniere im Endchronischen.
Chronischniere im insuffizienten Stadiumsende.
„Natürlich ... Möglichkeit ... Transplantation“, hört er sich selber zu Julie sagen, vorher im Lift.
Max greift erneut nach seinem Buch.
In Momenten wie diesem beneidet er seine Freundin um ihren Beruf. Um die mathematische Reinheit eines Bauplans, um die exakten Berechnungen von Kraft und Widerstand, die jedem Entwurf zu Grunde liegen.
Er zwingt sich weiterzulesen:
Die Ereignisstruktur einer Story ist das Mittel, durch das eine Idee zunächst auszudrücken ist, dann bewiesen wird – ohne Erklärung.

Zu meinem Ende vorerst nur so viel: Ich stürzte während eines Betriebsausflugs in eine Schlucht und verstarb wenige Minuten nach meiner Bergung in besagtem Helikopter und sozusagen in doppeltem Sinne im Flug. Mein letzter Gedanke galt meiner Tochter. Einen Tunnel oder den vielbeschriebenen Lebensfilm? – Es gibt sie nicht. Das Sterben an sich, dieses letzte Einatmen, war das unspektakulärste Ereignis meines Lebens. Genauso unspektakulär wie diese, sich in der städtischen Topfgärtnerei gleichzeitig abspielende Szene:

Julie Renggler, die mit dem Gärtner, der ihnen die Terrasse machen wird, winterfeste Pflanzen durchgeht, welche optimalen Sichtschutz bieten, während Max sich langsam um die eigene Achse dreht:
Terrakottakacheln, gewelltes Plexiglas, Einheimisches und Exotisches.
Viel lieber sässe er draussen in einem sonnigen Kaffee und zerpflückte die Zeitung als Pflanzen zu begutachten.
Sein Handy klingelt. Die Nummer des Spitals.
„Ja?“, sagt er, etwas zu laut, denn er befürchtet, sein Kreatininwert könnte gestiegen sein, was noch häufigere Dialysesitzungen bedeuten würde.
„Herr Meyer?“
Die beiden Wörter reichen Max, um zu realisieren, dass es bei diesem Anruf nicht um sein Blutbild geht.
„Wir haben ein passendes Nierenangebot für Sie. Sind Sie so weit gesund?“
Der Arzt sagt nicht Spender, er sagt passendes Nierenangebot.
Maxens erster Gedanke: eine Frau – es ist eine Frau.
Wie auf Kommando lässt Julie den kleinen Buchsbaum sinken, den sie gerade inspiziert hat, und stellt ihn auf den Boden.
„Buchs ist spiessig“, sagt Max.
Er hält noch immer sein Handy in der Hand. Auf seinem linken Unterarm ist die Haut gerötet und wölbt sich wie über eine Eiterbeule – ein länglicher Wulst, bei ihm zum Glück nur etwa feuerzeuggross. Es ist sein Shunt, eine operativ angelegte Gefässverbindung zwischen Arterie und Vene. Bei jeder Dialyse wird der Hügel von neuem punktiert. Julie fährt oft mit den Fingerspitzen über die Wölbung – genauso gedankenversunken, wie Max manchmal das grosse, deutlich spürbare Muttermal unterhalb Julies rechtem Ohr streichelt, das sie hässlich findet, weshalb sie ihr langes braunes Haar immer offen trägt, was Max wiederum sehr gefällt. Entdeckt hatte er das Muttermal, als sie zum ersten Mal gemeinsam wandern gehen wollten. Aber weil es zu regnen begann, nahmen sie sich in Heiden ein Hotelzimmer und verbrachten den Tag damit, nicht die Appenzeller Landschaft zu entdecken.
Jetzt starrt auch der Gärtner auf das, was in seinen Augen aussehen muss wie ein ekliges Geschwür.
„Wir hören“, sagt Max und zieht Julie aus dem Gewächshaus auf die Strasse.
Das Bild einer Frau verfolgt ihn. Eine Frau, deren Gesicht sich nicht scharf stellen lässt, egal wie sehr er sein inneres Auge zukneift, um besser sehen zu können.

Ungefähr zur selben Zeit beginnt sich mein Mann Werner in Endlosschleife auszumalen, wie ich schon kurz nach Abmarsch, nach einer halben Stunde bereits, die Blase spüre an der linken Ferse und wie mein rechter Fussrist zerquetscht wird von den neuen Wanderschuhen.
„Du hättest sie einlaufen sollen“, hatte er gesagt, als ich sie mir anzog. „Warum müssen wir immer alles in letzter Minute –?“
Werner stellt sich vor, wie ich auf der Morgenstrecke hinter den anderen zurückbleibe, um unbeobachtet meine Schnürsenkel zu lockern. Und er glaubt zu wissen, dass ich nach dem Mittagessen in Heiden, wo ich in seiner Vorstellung die Schuhe ausziehe, sie nicht mehr richtig binde. Werner sieht mich über die nicht richtig gebundenen Schnürsenkel stolpern und dann fallen. Er spürt das Gewicht des ganzen Universums an seinen Füssen, spürt den Ast, an den ich mich klammere, durch seine Hände sausen und die Zweige und Blätter seine Haut aufreissen. Werner würde gerne sagen, er sei sicher, mein letzter Gedanke galt ihm. Aber er ist überzeugt, ich flüsterte:
„Ana.“
Und wie er es hört, immer wieder hört, dieses Wort aus meinem Mund in seinem Ohr: Werner schaut unsere Tochter an und fühlt sich allein. Dann sieht er, wie ich den Ast loslasse, und der Aufprall ist, als explodierten seine Lungen. Als würde er eingeatmet von einer grossen Gier –

– während Max mit geschlossenen Augen daliegt und wartet. Die Verpflanzung, geht ihm durch den Kopf, und dass sie beim Gärtner gewesen waren, als der Anruf –
Einheimisches und Exotisches.
Und immer wieder das Bild – ja: von ihr. Von hinten jetzt, das lange Haar offen.
Was wohl ihr letzter Gedanke –?
Plötzlich steht ein Pfleger im Zimmer und reicht Max ein Klemmbrett mit der Einverständniserklärung für den operativen Eingriff sowie einen Kugelschreiber.
„Bitte ein Autogramm.“
Max liest nur den letzten Satz:
Ich habe alles verstanden und keine weiteren Fragen mehr.
Anscheinend ist nichts anderes von ihm erwartet worden, denn sobald er unterschrieben hat und bevor er nach dem heutigen Datum fragen kann, nimmt ihm der Pfleger das Brett wieder weg, hängt es an den dafür vorgesehenen Haken am Fussende des Bettgestells und verlässt das Zimmer. Der Kugelschreiber geht vergessen; Max schiebt ihn unters Kopfkissen.
Dass seine Hand beim Unterschreiben hätte zittern müssen. Dass sie nicht zitterte. Dass er nichts spürt, ausser ein bleiernes Stechen in seiner Herzgegend, einen scheuen Schmerz nur wie eine Sehnsucht. – Oder Ahnung?
Eine Panik poltert aus der Stille des Zimmers an sein Bett und dreht ihm die Luft ab.
Auf der Leinwand hinter seinen Lidern erscheint eine Berglandschaft; Zoom auf Halbtotale: eine Frau ohne Gesicht, die sich an einem Steilhang über einer Klippe an den Ast eines Busches klammert; Zoom auf Halbnah: ein Knacken und der Ast, der ein klein wenig nachgibt, sodass die Frau ein Stück weiter den Hang hinunterrutscht; Zoom auf Detail: ihre blutige Hand, die den Ast loslässt und –

Dass ich nicht sofort tot war, weiss Werner von den Ärzten, und es ist dieses Wissen, das ihn immer wieder heimsucht und ihn zerbrechen lässt. Im Leben, ich weiss es, ich hätte mir gewünscht, dieses Wissen an der Wurzel packen zu können wie eines der spärlichen schwarzen Haare, die auf Werners Schultern spriessen, und es ausreissen. Aber hier bei mir gibt es keine Wünsche mehr. Es geht mir gut.

Es geht ihr gut, hört sich Max denken. In Zeitlupe steht er auf, greift unter dem Kissen nach dem Kugelschreiber, geht ans Bettende und nimmt das Klemmbrett vom Haken, legt es auf die Matratze. Er schaut sich dabei zu, wie er – neben seine Unterschrift, auf der Zeile für Ort und Datum, die er leer gelassen hat – Buchstabe an Buchstabe reiht:
ICH WERDE DICH FINDEN.

Es kränkt mich nicht, dass Werner mich nicht sehen wollte, so ausgenommen, wie ich war, und zugeflickt. Überhaupt ist es in meinem verflüchtigten Zustand, um das etwas schiefe Bild ein letztes Mal zu bemühen, unmöglich, Gefühle irgendwelcher Art zu entwickeln, und so trifft mich auch die Wut nicht, die Werner erfasste, als er von meinem unwiderruflichen Entscheid erfuhr, im Falle meines Todes meine Organe zu spenden. Ausserdem weiss ich, dass ich ihm von der Spendekarte hätte erzählen sollen, die ich als viel jüngere Frau ausgefüllt hatte. Ich weiss es, aber es ist nicht zu ändern. Nichts ist mehr zu ändern. Auch dieses nicht:

Max, der meine letzte Ruhestätte abschreitet. Hinter sich hört er das Klitsch-Klatsch von Julies Riemchensandalen. Im schmalen Streifen Gras zwischen Weg und Urnenwand stecken Plastikkelche voll verwelkter Blumen. Sein Blick gleitet von Grabplatte zu Grabplatte. Auf allen ist die Schrift dieselbe, die Ewigkeit genormt, sodass die vielen Namen verschwimmen vor seinen Augen, ihre Endungen und Anfänge verlieren und auch ihr Geschlecht. Bis einer hervorsticht:
Regina Maria Dietschi.
Nichts passiert.
Max streckt die Hand aus, paust mit dem Zeigefinger die eingravierten Wörter ab. In den Bäuchen der Buchstaben haben sich Staub und Schmutz angesammelt.
„Du machst einen Fehler.“
Staub und Schmutz auf seiner Fingerkuppe.
„Was flüsterst du denn?“
Max steckt sich den Finger in den Mund, saugt daran, speichelt den Schmutz ein und den Staub. Er schluckt.
Nichts passiert.
Enttäuscht schaut er zu Boden – was hätte schon passieren sollen? – und sieht ein etwa postkartengrosses Stück Papier, das an einem der Kelche befestigt ist und in der Brise zittert. Ihm schaudert, wie er sich bückt und vorsichtig den Klebstreifen löst.
Der gestrige Sommerregen hat an der Kinderzeichnung weitergemalt: Drei dunkelviolette Gestalten bluten in einen grauen Hintergrund, den kleine gelbe Kleckse zieren – Sterne wohl.
Max faltet das Papier einmal quer und steckt es in seine Gesässtasche.
„Das ist Diebstahl“, sagt Julie und dreht sich um. Klitsch-Klatsch Riemchensandalen.
„Warum bist du überhaupt mitgekommen?“, ruft er ihr nach.

Zehn Minuten später warten sie schweigend auf den Bus, der sie den Dorfsteig runter ins Tal und durch ein Industriegebiet in die nächstgelegene Stadt fährt, wo sie schweigend auf den Intercity warten, der sie ohne Halt bis Zürich bringt, wo sie in der neuen Wohnung keine gemeinsame Routine haben, weder für angebrochene Samstagnachmittage noch fürs Schlafengehen, und wo sie, gleich beim Eingang, zwischen Wohn- und Essbereich, auf diesen paar ungenutzten Quadratmetern, sich gegenüberstehen, und Julie geht nach links, Richtung Küchenzeile, und Max nach rechts, öffnet die Türe zum Arbeitszimmer, legt die Zeichnung zu seinen restlichen Recherchen, setzt sich und beginnt.