Matthias Nawrat, Bamberg,Biel (D+CH)

Geboren 1979 in Opole (PL), lebt in Biel und Bamberg
1989 Umsiedlung nach Bamberg in Deutschland. Zwischen 2000 und 2007 Biologiestudium in Heidelberg und Freiburg im Breisgau.

Matthias Nawrat wurde von Jurorin Hildegard Elisabeth Keller für die TDDL 2012 vorgeschlagen.

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Matthias Nawrat: UNTERNEHMER
matnawrat@hotmail.com
© Matthias Nawrat

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Seit wir einen Anhänger haben, herrscht Frieden. Vater fährt
montags mit Berti und mir über Land und wir sammeln noch
mehr Computer vom Straßenrand ein als früher. Am Abend gibt
Mutter mir einen Kuss auf die Stirn und sagt: Meine große
Tochter. Dann dünstet sie Karotten für die Lasagne. Wir sitzen
mit Vater am Tisch im Keller und er dreht die Platinen und
Prozessoren zwischen den Fingern. Tantal und Wolfram, sagt er
zu uns, werden uns besonders reich machen. Dann hebeln wir
schweigend die Kontakte von den Plättchen. Bis Mutter uns
ruft, sitzen wir zu dritt um den Tisch und schichten die
Wolframfolien auf ein Häufchen, die Kobaltfolien auf ein
anderes. Die Kobaltfolien knistern am schönsten. Vater erzählt
von unserem Bauernhof in Neuseeland. Er sagt: Schafe sind
ganz ruhige Tiere, sie können den Regen vorhersagen, es wird
euch gefallen. Wie tun die Schafe das?, fragt Berti. Das weiß
niemand, sagt Vater. Am nächsten Tag nimmt Mutter uns zu
Dr. Hagel. Er leuchtet Berti ins Ohr und mir in den Mund.
Unter seinem Schreibtisch summt ein Robuster in Anthrazit,
vierfach lebendig. Im Edeka in Schönau kauft Mutter uns ein
Rosinenbrötchen, dann probieren wir Stiefel und Jacken für
den nächsten Winter an. Diesmal bestimmt unser letzter Winter
hier, hat Vater gesagt. Mutter legt unser Klimpergeld auf die
Theke, die Frau an der Kasse verdreht die Augen. Mutter lächelt
uns zu.
Am nächsten Morgen packt Vater die Kabelrollen in den
Kofferraum unseres grünen Mercedes. Der Mercedes hat früher
Opa gehört, er ist grün wie die Berge in Neuseeland. Sind die
Berge in Neuseeland anders grün als bei uns im Schwarzwald?,
fragt Berti. Ganz anders, sagt Vater. Die Sitzbezüge hat Opa aus
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Schafsfellen genäht. Weil Sommer ist, schwitze ich darauf, die
Unterseiten meiner Schenkel jucken, es riecht nach Stall, und
ich fühle mich dick. Vater hat die Listen vor mir auf der Ablage
eingeklemmt. Darf ich auch mal Assistent sein?, fragt Berti von
hinten. Du bist unser Spezial, sagt Vater. Deine Schwester ist
die beste Assistentin, die wir je hatten. Eine blöde Assistentin!,
ruft Berti. Und Blut kommt ihr da unten auch raus, eine
Schweinerei.
Die Frau an der Tankstellenkasse in Schönau fragt uns, ob wir
die Kinder vom Elmar Rehm sind, aus Utzenfeld. Und warum
Berti ein Arm fehlt. Und ob wir nicht in der Schule sein sollten.
Mein Arm fehlt, weil ein Unternehmen seine Opfer fordert, sagt
Berti. Und in der Schule lernt man nichts, was fürs echte Leben
taugt.
Danach besuchen wir das Paradies am Stadtrand. Wir laden
unseren Anhänger aus und Vater geht ins Büro hoch, um unser
Klimpergeld zu holen. Dann gibt er uns eine Führung, damit wir
sehen, wofür unser Unternehmertum gut ist. Hier im Paradies
ist eine russische Rakete Marke Sojus 19 abgestürzt, ihr seht
ihre Innereien, Magnetspulen, Anlassversprödung von Stahl. Er
führt uns durch die Wege. Passt auf, wo ihr hintretet. Quarzglas
kann in eurem Körper jahrelang wandern, aber euer Herz findet
es irgendwann doch. Warum man hier Türme aus
Kühlschränken baut, fragt Berti. Alte Kühlschränke sind
ausgezeichnetes Turmbaumaterial, sagt Vater. Und kombiniert
mit Halogenglühdrähten und den Motoren von
Rasterelektronenmikroskopen werden sie zu Raumschiffen, ihr
seht also, dass wir die Zukunft mitgestalten. Am Ende der
Führung kriegen Berti und ich je einen Anhänger aus Quarzglas,
in dem ein Tropfen Molybdän grünlich schimmert. Das solltet
ihr bei der Arbeit immer bei euch tragen, sagt der Mann mit den
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Öllappenhänden im Häuschen am Paradiesausgang.
Zurück bei Titisee erzählt Vater von seiner ehemaligen Arbeit.
Ich war sogar froh, als die Idioten mich nicht mehr wollten.
Lieber der eigene Unternehmer-Chef sein. Und ausserdem: Ein
Gestank wie im Magen eines Drachen. Ich habe in diesem
Magen in einem einzigen Moment der Umschichtung einen
Sportschuh, ein Sofa, einen Tennisschläger, ein Fahrrad und
einen Fernseher gesehen. Werfen die Leute die Dinge weg, weil
sie wissen, dass wir aus ihnen das Beste wieder rausholen
werden?, fragt Berti. Sie wollen sie nicht mehr, sagt Vater.
Sogar den Fernseher?, sagt Berti. Gerade den Fernseher, du
winzige Dummheit, sage ich. Du bist eine Dummheit, sagt Berti.
Lipa schaut nachts in ihrem Zimmer Filme mit nackten
Männern. Das stimmt nicht, sage ich, drehe mich um und gebe
ihm einen Stoss gegen die Brust, dass er in seinen Sitz
zurückfällt.
Am Mittag machen wir Pause in der Wutachschlucht und legen
uns auf die warmen Steine. Wie denn so ein Fluss so viel
Quatsch erzählt, sagt Berti. Dann springt er auf und zeigt auf
ein Fahrrad aus zwei Libellen, das durch die Luft strampelt.
Esst eure Wurstbrote, sagt Vater. Er ist mit seinem Brot fertig,
raucht eine Vergiftete und hängt ein Bein ins Wasser. Warum
ist der Schwarzwald so hoch?, fragt Berti. Die Bauern haben
früher Hüte getragen, sagt Vater, damit der Schwarzwald ihnen
nicht von oben in die Köpfe schauen und die Gedanken stehlen
kann. Gibt es in Neuseeland auch einen Schwarzwald?, fragt
Berti. Den Schwarzwald gibt es nur hier, sagt Vater. Schade,
sagt Berti und er sieht traurig aus, wie er hochblickt zu den
Baumwipfeln am Hang über uns.
Am Abend sitzen wir mit Vater im Keller und machen
Kochwäsche extra, top secret. Es ist nicht leicht, die Herzen von
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den Hüllen zu befreien. In der Schwefelsäure schwitzen die
Kupferspulen und Platinen Panzer aus Luftbläschen aus. Wenn
Vater die Brillenmaske anzieht und mit den rosa Handschuhen
die Rattrigen, Summenden ins Laugebad hebt, dann fängt das
an zu sprudeln und eine Etage gelber Dampf steigt unter die
Decke und es riecht wie beim Hirschen im Dorf, wenn man auf
die Toilette geht, die Nase ist umgestülpt und hängt wie ein
Handschuh über den Mund. Aber wie schimmert das schön,
wenn die grünen und blauen Augen sichtbar werden. Und wie
es knistert. Wenn das Sprudeln aufgehört hat, legt Berti den
Schmetterlingsrüssel ins Aquarium, der schmatzend sich
verdreht und windet, bis er endlich röchelnd auf dem
Glasboden liegen bleibt. Vater legt die öligen Herzen auf
Backblechen aus und stellt den Herd ein. Während wir warten,
spielen wir lange Wörter. Kationen-Austauscher-Harz, sagt
Berti. Molybdän-Oxid-Konzentrat, sagt Vater. Ammonium-
Hepta-Molybdat-Hydrierungs-Verfahren, sage ich und trage
mir drei Punkte ein.
Endlich wieder Spezialtag, sagt Vater am nächsten Morgen zu
Berti, während er Bertis Arm einölt, um wenigstens diesen noch
zu retten. Um uns ist die dunkelste Dunkelheit der alten
Frey&Söhne-Fabrik, von den Rohren über uns tropft es. Und
Berti hat ein offizielles Unternehmer-Händeschütteln verdient,
für die firmeninterne Grosstat, die er gleich für uns leisten wird.
Es ist die Zeit der Magnetspulenherzen. Die Zeit der
Kupferdrähte. Vater hat den Polizist-Wächter Stengle mit
Klimpergeld zum Bäcker Reiss auf der anderen Strassenseite
geschickt, damit wir die Halle für uns haben. Ein leises Klopfen
kommt aus dem Schacht, vor dem Berti jetzt in Unternehmer-
Stellung bereit steht. Vater legt sein Ohr an das Verdeck aus
Rost und sieht mich an, und da höre auch ich die Windräder,
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die rauschend die Luft bewegen. Jetzt, sagt Vater, und Berti,
unser Offizieller, ist schon bis zur Schulter im Inneren
verschwunden, eine Schraubdrehung, eine zweite, und sein Arm
ist wieder frei, und in der Hand, lose Tentakel aus Kupferdraht
im Todeskampf schwingend, das Herz, top secret. Vater hat die
Plastiktüte aufgespannt, Berti lässt es hineinfallen, zu den
anderen zittrigen, rattrigen, summenden. Weiter, ruft Vater,
und Berti, mit geweiteten Augen, die Lippen im Licht meiner
Taschenlampe glänzend, ist schon am nächsten Schacht und hat
den Arm bis zur Achselhöhle versenkt, einen schönen, weissen
Arm. Vater horcht auf die Körpergeräusche hinter dem
Rostpanzer, top secret, ruft: Jetzt, und Berti zuckt mit dem
ganzen Körper nach vorne, zur Seite, reisst das nächste Herz
aus seinem Ort. Und wenn die Arbeiter eines Tages doch noch
zurück kommen?, frage ich, als wir endlich ins Freie treten.
Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht, sagt Vater und blickt
zu den Bergen des Schwarzwalds hinauf, die das Gelände
umringen und mit Vogelgesängen beschenken. Dann macht er
schwere Schritte zum Mercedes, und auch mir tut unser Berti
leid.
Aber wenn er dann nach Firmen-Ende am Eingang der
Ravenna-Schlucht einen Schwarztee bekommt - welch einen
Schweiss er sich da von der Stirn wischen muss! Wie seine
Atmung endlich zum Ende kommt. Als sei er soeben durch die
Ziellinie gelaufen, und ich soll ihm jetzt den Stuhl im Biergarten
zurückschieben und ihm das Handtuch reichen und ihm
Applausluft zuwedeln. Ohne den Kraftmenschen, ohne den
Könner, sagt er. Ohne das ölige Fischtalent des Ausnahme-
Spezialen. Und was ist mit Terminen?, frage ich und halte ihm
die Listen vor die Nase. Mit der Auskundschaftung der Täler?
Und mit der Inventur der Reserven und der Kundenanfragen?
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Alles nichts wert ohne den Flinken, sagt Berti. Alles nichts wert
ohne die Fingeraugen und ihren Herzenshunger. Alles nichts
wert ohne die schnelle und biegsame Hand. Jetzt hört aber auf,
sagt Vater, als er vom Klo zurückkommt. Wir wälzen uns schon
im Kies, er reisst mich von der Bruderbrust. Für jeden von uns
gibt es ein Gläschen Kaffeelikör. Aber nichts Mama sagen, sagt
Vater. Das Unternehmertum, sagt er später im Mercedes am
Wiedener Eck, ist eine Teamarbeit, eine Arbeit für drei. Das
merkt euch, fällt nur einer von uns aus, ist es vorbei. Nächsten
Frühling sind wir in Neuseeland, sagt Berti. Vater schaut auf die
Strasse vor uns und sagt nichts mehr. Eine ganze Tüte mit
besten Platinchen, eine Tüte mit insektenhaften Spulen, eine
Tüte mit Rotörchen, schicken, zittrigen, rattrigen, summenden.
Und wie es in den Tüten leise klackert. Unsere Ausbeute des
Tages.
Was ist mit deinem Arm passiert?, fragt die Rothaar-
Blauaugen-Verkäuferin aus der Bäckerei in Schönau am
nächsten Morgen. Ich bin ein Flinker, sagt Berti, weil er in die
Rothaar-Blauaugen-Verkäuferin eine Verliebtheit hat. Die
Herzen werden streng bewacht, sage ich. Es sind Mechanismen,
sehr gefährlich. Sie tritt vor die Theke und berührt Berti an
seinem Schulterstumpf. Tut das weh? Ich kann einen Kolibri
auf meinem Unterarm landen lassen, sagt er. Den Kolibri gibt es
nicht wirklich, erkläre ich. Alles, was Berti sagt, muss man
übersetzen, als Flinker ist er nicht mehr in dieser Welt, er spürt
Vögel, wo keine sind. Vor allem nachts, da brüllt er den
Vogelschmerz durchs ganze Haus und weckt sogar Vater auf.
Die Rothaar-Blauaugen-Verkäuferin geht in die Hocke und
küsst Bertis Stumpf, dann holt sie hinter der Theke eine
Schokoladen-Nussecke hervor und gibt sie ihm. Und mein Berti
hat ein Lächeln und wie könnte er jetzt Kohlmeisen und
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Spatzen und Buchfinken und Stieglitze auf seinem Arm landen
lassen und sogar einen Kolibri, wenn er wollte, einfach so.
Am nächsten Tag hat Vater seine Kopfschmerzen. Er bleibt
oben im Bett und der Tag ist frei vom Unternehmertum. Nach
dem Frühstück steige ich mit Mutter ins Dorf runter und wir
kaufen im Laden Gurken und Tomaten, Münsterkäse, Mutters
Fernsehprogramm und Notizhefte für meine Inventur.
Irgendwann wirst du dich verlieben, sagt Mutter, als wir uns
unter die Weide an der Buckelkapelle setzen und einen Apfel
teilen. So ist das nämlich. Zuerst läuft dir das Blut unten raus.
Daran merkst du, dass du ein verletzliches Herz hast, weißt du.
Und weil Mutter so schön ist in ihrem Dahlienkleid, beschliesse
ich, später auch zur besten Schönheit im ganzen
Südschwarzwald zu werden.
Wie schön Mutter lacht, ich möchte auch gerne so lachen. Sie ist
eine weisse Leuchtkraft-Königin, wenn sie lacht, und der Wind
spielt leise in den Birkenzweigen, erzählt Berti und mir vom
grossen See hinter dem Schwarzwald, wo Mutter als Mädchen
Störche zählte, oder in einem Boot durchs Schilf glitt, um eine
Rohrdommel aufzuschrecken. Während Vater und Berti im Hof
den Mercedes waschen, setze ich mich zu Mutter ins
Wohnzimmer und zähle, während sie fernsieht, ihre
Leberflecken. Schon wieder einer mehr, sage ich, als sie ihr
Hemd über die Schulter streift. Dann darf ich ihr einen Zopf
flechten. Sie schaut dabei durchs Fenster raus. Warst du als
Mädchen auch Unternehmerin?, frage ich. Sie dreht sich um
und schaut mich an. Dann küsst sie meine Handfläche. Du hast
die klügsten Augen, sagt sie. Und schau, wie schön deine Hände
sind, die Finger deiner Oma Sina, sie hat Klavier gespielt,
wusstest du das?
Einmal sass Mutter nachts in der Küche. Weinst du?, fragte ich,
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ich war aufgewacht und dem Geräusch die Treppe hinab gefolgt.
Aber sie war nur froh, dass Berti nicht noch anderes geschehen
ist, als er damals in den rostigen Koloss-Innereien stecken
blieb.
Am nächsten Abend kommen die Arbeitslosen, sie stehen am
Zaun und pfeifen mich heran. Was wollt ihr?, frage ich. Hat
dein Vater wieder neue Kühlschränke besorgt?, sagt der schöne
Pius, so nenne ich ihn, wenn ich vor dem Einschlafen an ihn
denke, obwohl er eigentlich nur dann schön ist, jetzt ist er einen
Kopf kleiner als ich und hat Haare wie Stroh und an den
Unterarmen blaue Würmer unter der Haut. Wir haben eine
Unternehmung, sage ich und der schöne Pius nickt. Und neue
Fernseher und Mikrowellen habt ihr auch, sagt er und zeigt
wieder hinter das Haus, in unser Ausschlachterei-Gefängnis.
Wir sind ein Verkaufsteam, sage ich. Der Rest ist Geheimsache.
Willst du mit uns zum Teich kommen?, sagt der schöne Pius.
Und weil der Lange mit der Nase, der eigentlich Timo heisst,
lacht, dreht der schöne Pius sich um und schubst ihn.
Manchmal denke ich darüber nach, den schönen Pius in meine
Träumereien aufzunehmen, aber ich habe Mutter noch nicht
gefragt. Er wohnt in der Neubausiedlung unten im Dorf, seine
Eltern fahren morgens mit zwei Silberautos weg, über der
Garage hängt ein Basketballkorb und der schöne Pius hat ein
Chrom-Raumschiff-Fahrrad Marke Sojus-19, alles top secret,
aber in erneuerter Form. Ihm ist nach einer grossen
Sportlichkeit zumute, er wird mal beruflicher Basketball-Chef in
den USA. Aber wenn er mit seinem langen Nasen-Timo und
dem Rothaarigen-Ziegler vor dem Edeka sitzt, dann gibt es viele
Fragen über die Strasse: Kommst du mit uns zum Teich? Gehst
du mit uns Basketball trainieren?
Am Teich sind die Frösche, sagt der lange Nasen-Timo jetzt.
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Wir wollen sie nur beobachten, sagt der schöne Pius. Und weil
er lächelt, und weil ich weiss, dass er für seine Arbeitslosigkeit
nichts kann, öffne ich das Türchen und folge ihnen eine Kehre
runter, den Buckel hinauf zur Kapelle am Friedhof, dann durch
die Weide wieder talwärts. Am Teich atme ich durch den Mund.
Sie haben Zigaretten rausgeholt und zünden sie an und der
lange Nasen-Timo reicht mir eine und sagt: Hier! Das ist eine
Vergiftung, sage ich und er und der Rothaarigen-Ziegler lachen,
aber nicht der schöne Pius, er sagt: Was machst du sonst so?
Und ich habe ein warmes Gesicht und sage: Ich bin Assistentin,
ich muss den Überblick behalten, ich mag Zeichentrickfilme.
Schaust du dir auch andere Filme an?, fragt der lange Nasen-
Timo und macht Bewegungen mit der Hüfte nach vorne und
nach hinten, dass ich meine Augen zumachen muss. Kannst du
uns deine Euter zeigen?, fragt er und ich schüttle den Kopf und
drehe mich weg. Aber böse kann ich ihm nicht sein, weil ich
weiss, dass er in seiner Hosentasche ein Telefon aus
schwärzestem Tantal-Molybdän hat, dessen Gerätesprache er
kann. Sollen wir jetzt die Frösche anschauen?, fragt der schöne
Pius. Ich öffne die Augen und schaue zu ihm rüber, er hat sich
zum Rothaarigen-Ziegler umgedreht, der jetzt aus der Wiese
kommt, die Hände zu einer Kugel zusammengepresst, und sich
zu einem flachen Stein bückt und einen Frosch fallen lässt. Der
Frosch ist grün wie die Berge in Neuseeland und hat an seiner
Wange einen gelben Punkt, er atmet und sitzt still auf dem
Stein, schaut uns an. Der ist zu blöd zum Wegspringen, sagt der
lange Nasen-Timo. Was glotzt du so bescheuert!, schreit er den
Frosch an. Er hat Angst, sagt der schöne Pius. Die zwei lachen,
aber der schöne Pius lacht nicht, sondern schaut zu mir und ich
lächle ihn bestens an. Der Rothaarigen-Ziegler kommt wieder
aus der Wiese und setzt einen zweiten Frosch neben den ersten.
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Der lange Nasen-Timo bückt sich und nimmt den zweiten
Frosch, setzt ihn auf den Rücken des ersten und drückt sie
immer wieder zusammen. Hast du`s schon mal gemacht?, fragt
er, ich schüttle den Kopf. Gehen wir zu Wenninger und werfen
ein paar Körbe, sagt der schöne Pius. Plötzlich erhebt sich ein
Gurgeln aus dem Teich, die Wiese um uns fängt an zu vibrieren.
Es sind die Frösche, sie schreien durcheinander, eine
Versammlung zur Diskussion der anstehenden Vorgehensweise,
eine Empörung über den langen Nasen-Timo. Es gibt noch ein
Experiment, sagt dieser. Und er steht über den zwei Fröschen,
die nur atmen und ihn anschauen, und stemmt einen flachen
Stein über den Kopf. Aber der schöne Pius sagt: Lass mal ein
paar Körbe werfen gehen. Und geht einfach am Teich entlang
davon und steigt die Wiese hinab und ist schon zwischen den
Bäumen verschwunden. Scheissfrösche, sagt der Rothaarigen-
Ziegler und folgt ihm, und dann bin ich mit dem langen Nasen-
Timo allein. Er wirft den Stein in die Wiese zurück, er schaut
mich an und sagt: Du hast es bestimmt schon mal gemacht. Er
kommt auf mich zu, und wie die Frösche jetzt durcheinander
diskutieren und sich nicht einigen können, wie der Teich
blubbert und gluckst, und der lange Nasen-Timo hält mich im
Nacken fest, beugt sich zu mir runter und küsst mich auf den
Mund und hört nicht auf, sodass ich nicht anders kann, als
durch die Nase einzuatmen. Und da rieche ich den langen
Nasen-Timo, Metall, Gurke, Salz, es quakt und schäumt von
unten, von zwischen meinen Beinen steigt ein Geruch nach
überreifen Birnen auf, mit Alkohol, ein Kaffeelikörgeschmack.
Und ich muss jetzt wieder an die Fähigkeiten denken, die der
lange Nasen-Timo mit seinen Gerätesprachen hat, und mich
kitzelt es dort unten, und ich will ihn in die Wiese ziehen. Aber
der lange Nasen-Timo hat sich schon losgemacht. Also dann
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tschüss, sagt er und steigt die Wiese hinab und verschwindet
hinter den Bäumen und jetzt sind die Frösche verstummt, der
Teich liegt leise neben mir. Ich setze mich ins Gras und es ist
sehr still über dem Teich, aus der Wiese nur ein Zirpen und ich
drücke meine Hand fest zwischen meine Beine, damit das
Kitzeln aufhört.
Es ist dunkel, als ich in unserem Hof stehe und ins Haus trete.
Aus dem Keller kommen Klopfgeräusche. Muss ich morgen zur
Arbeit?, frage ich Mutter in der Küche. Sie legt den Lappen
neben die Spüle und dreht sich um. Musst du nicht, sagt sie. Sie
schaut mich an, also gehe ich schnell auf mein Zimmer, es ist
Schlafenszeit, ich schliesse die Tür ab. Ich schlafe schon, rufe
ich, als jemand klopft.
Am Morgen sagt Vater zu mir, ich solle mit meiner Stirn keine
Schlieren an die Scheibe des Mercedes machen. Und was mit
mir nicht in bester Ordnung sei. Alles in bester Ordnung, sage
ich. Ich mag nur sehr den rosa Himmel sehen über den Bergen.
In Wahrheit sehe ich den rosa Himmel nicht, ich sehe auch
nicht die vorbeifliegenden Felder. Ich sehe den langen Nasen-
Timo und wie er die schwarzen Haare aus der Stirn rausnimmt,
um mich anzusehen. Und wer soll die Listen abgleichen?, hat
Vater mich am Frühstückstisch gefragt. Wir haben Todtnau
durchquert und blicken auf den Silberfluss runter. In
Neuseeland gibt es viel wildere Flüsse, sagt Vater. Und riesige
Wasserfälle. Und unendliche Wälder. In Neuseeland werden wir
Goldkäfer fangen, so gross wie Magnetspulen, sagt Berti von
hinten und tippt mir auf die Schulter. Ich drehe mich zur Seite,
drücke mein Gesicht gegen die Scheibe. Die Sonne macht noch
immer die Blässe über den Bergen. Was tut man, denke ich, um
die Morgenkälte in Tageswärme zu verwandeln? Wie bringt
man die Felder hinter Tititsee zum Riechen, wie die Bäckerei in
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Weil dazu, die Tische rauszustellen? Und wie soll aus all dem
noch Mittagspause, Besuch im Paradies und Spätnachmittag
werden, der sich über dem Belchen endlich rosa und türkis
verfärbt? Damit man von unserem Hof aus den Teich riechen
kann, neben dem bestimmt der lange Nasen-Timo im Gras
sitzen und auf mich warten wird.