Matthias Senkel, Leipzig (D)

Geboren 1977 in Greiz, lebt in Leipzig. Im März 2012 erschien sein Debütroman Frühe Vögel. Mit Peng. Peng. Peng. Peng gewann er beim 17. open mike einen der Preise für Prosa sowie den Preis der taz Publikumsjury.

Matthias Senkel wurde von Juror Paul Jandl für die TDDL 2012 vorgeschlagen.

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Matthias Senkel: Aufzeichnungen aus der Kuranstalt
vorgetragen bei den 36.Tagen der deutschsprachigen Literatur
© Matthias Senkel


Sint Willibrordus, 4. August 2008

Sehr geehrter Herr Cederic Darwin Jr.,

ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß unser Sachverständigenausschuß Ihrem Eilantrag stattgegeben hat.
Die Vanhaesebrouckse Kuurinrichting steht Ihnen ab dem 11. August 2008 offen. Von einer Befristung der Rehabilitationsmaßnahme haben wir vorerst abgesehen. Behandlung, Verköstigung und Unterbringung erfolgen gemäß unserer Satzung unentgeltlich. Darüber hinaus können wir im Bedarfsfall Ihre Reisekosten zum Kurort übernehmen.
Weitere Informationen finden Sie im beiliegenden (vorläufigen) Kurplan.

Alsbaldige Wiederherstellung Ihrer Schaffenskraft wünscht,

Dr. Agnes Op Den Berg
Anstaltsleiterin


Warum der Dampfkessel in der Vanhaesebrouckse Weverij geborsten war, mußte nicht untersucht werden. Es bedurfte lediglich des Schlagwortes ›Wartungsmängel‹, um Schlossermeister Geert Duyster als Schuldigen zu brandmarken. Daß Duyster von Metallsplittern und Nieten zerfetzt worden war, wurde fast allerorten als gerechte Strafe gewertet.
Der Fabrikdirektor und dessen ältester Sohn wurden ebenfalls tot aus den Trümmern geborgen. Direktor Vanhaesebroucks zweiter Sohn, Willem, der sich während der verhängnisvollen Betriebsbegehung abgesondert hatte, um im Ballenlager ein Paar Strumpfbänder zu inspizieren, wurde durch die Explosion zur Vollwaise. Obwohl Willem bislang deutlicher zur Feiertagsdichtung als zur Finanzbuchhaltung zu neigen schien, war es nun an ihm, die Leitung der Weberei zu übernehmen. Sein Widerstreben gegen diese Aufgabe stellte er einen Monat lang unverhohlen zur Schau, dann zeigte er sich vom Ehrgeiz infiziert.

Darüber hinaus übernahm Willem auch die Verlobte seines verstorbenen Bruders. Unmittelbar nach Ablauf der einjährigen Trauerzeit konnte er sie, dank der Kunstfertigkeit eines alteingesessenen Schneiders, ohne weiteres Aufsehen zum Altar führen. Das auf diesem Weg aufgestockte Betriebskapital setzte Willem zur dringend notwendigen Umrüstung der Lochkartenwebstühle ein; die Dampfmaschinen und ihre ledernen Transmissionsriemen mußten Elektromotoren weichen.

Die Bilanzen der folgenden Jahrzehnte beglaubigten Willems unternehmerisches Gespür. Nach mehreren Firmenerweiterungen begann er, die Gewinne außerhalb seines Unternehmens zu investieren: Neben Aktienpaketen der Bataafse Petroleum Maatschappij und der Philips’ Gloeilampenfabrieken erwarb er auch ein kleines Verlagshaus nebst Druckerei sowie Immobilien auf den Antillen.
Im Alter von sechsundfünfzig Jahren trat Willem die Leitung der Vanhaesebrouckse Weverijen an seinen Sohn Cornelis ab: Man müsse die nachfolgende Generation rechtzeitig ins kalte Wasser stoßen und dürfe nicht abwarten, bis diese endlich eigenen Ehrgeiz entwickle, erklärte er irritierten Kunden und Konkurrenten.

Von diesem Zeitpunkt an widmete sich Willem Vanhaesebrouck mit großem unternehmerischen Leichtsinn seinem Verlag: Er veröffentlichte die asthmatischen Gedichte von Jérôme de Keelque-Paard sowie alle anderen Werke, die dieser ihm anempfahl. Mit Alfapapier und prachtvoll gestalteten Einbänden versuchte er, Jérôme im Streben nach mehr Sinnlichkeit zu unterstützen. Er protegierte seinen Geliebten auch dann noch, als dessen Faible für dunkle Vokale und düstere Sujets zusehends zur Manier erstarrte.
Nachdem Jérôme verstorben war, weil er in einer Schaffenskrise die Inspiration hatte herbeizwingen wollen, ordnete Willem sein eigenes Testament neu: Er verfügte, daß sein Anwesen auf Curaçao sowie die alljährlichen Erträge seines Portfolios einer noch zu gründenden Kuranstalt für Schriftsteller in Schaffensnöten zu Gute kommen sollten.


Der kanadische Fondsmanager Jonathan Kevlier hielt sich seit 2008 in der Vanhaesebrouckse Kuurinrichting versteckt. Im Kurgastregister wurde er als Cederic Darwin Jr., Romancier aus Bangor im US-Bundesstaat Maine, geführt.

Nein, mit dem Fachbuchautor Charles Darwin sei er seines Wissens nicht verwandt, hatte Kevlier der Anstaltsleiterin beim Aufnahmegespräch wahrheitsgetreu geantwortet. Für alle anderen Angaben hatte er eine paßgenaue Legende ersonnen. Eben diese Begabung im kreativen Umgang mit Worten und Zahlen hatte ihn bereits im Investmentgeschäft hoch hinaus, letzten Endes aber auch ins Fadenkreuz der Finanzmarktaufsicht gebracht.
Bei der abermaligen Schilderung seiner schriftstellerischen Nöte hatte er sich vorsichtshalber an den Wortlaut seines Kurantrags gehalten: »Sobald ich eine Idee zu einem Roman habe, befällt mich der Drang, zuallererst den Klappentext zu verfassen. Auf der Suche nach immer knapperen, zugkräftigeren Formulierungen verändert sich meine ursprüngliche Idee Stück für Stück – bis schließlich eine völlig andere Geschichte herauskommt, über die ich niemals einen Roman schreiben würde. Seit nunmehr fünf Jahren verfasse ich Klappentext um Klappentext und schaffe es darüber nicht, endlich meinen zweiten Roman zu beginnen.«

Im Katalog der Anstaltsbibliothek befand sich unter ›Darwin Jr.‹ lediglich der Vermerk, daß dessen Debüt Fragments of the Master Plan bislang nicht erworben werden konnte, da der Roman derzeit nicht im Buchhandel erhältlich sei.
»Die Auslieferung liegt auf Eis, weil der Verlag immer noch im Insolvenzverfahren steckt«, bot Kevlier wiederholt als Erklärung an.

Noch vor zehn Jahren hätte er unter diesen Umständen garantiert keinen Kurplatz erhalten, stichelte Andrzej, einer der vier Kurgäste auf Lebenszeit: Nach dem Zerfall des Ostblocks habe die Kuranstalt kaum dem Andrang all jener Autoren gerecht werden können, die ohne Zensurbehörde nicht mehr zu schreiben vermochten. Trotz des eilig errichteten Erweiterungsbaus sei die Warteliste immer länger geworden, weshalb neue Anträge seinerzeit eine besonders strenge Begutachtung erfahren hätten.

Andrzej Dzwoneczek-Kozłowski residierte in einem Bungalow nördlich des Haupthauses. Der Anstaltsvorstand hatte ihm einen Alterssitz angeboten, da sämtliche Sachverständigen es für unmöglich erachteten, den alten Polen jemals wieder in den Literaturbetrieb einzugliedern. Trotz ausgeklügelter Rehabilitationsmaßnahmen war er nicht davon losgekommen, seine Gedichte in einer Geheimsprache zu verfassen – schließlich könne niemand wissen, wann das nächste Mal das Kriegsrecht ausgerufen werde. Allein diese Geheimsprache, die er selbst entwickelt hatte und derer er bis dato als Einziger mächtig war, ermöglichte es Andrzej, produktiv zu bleiben: Seine Lyrikbände, die Quartal um Quartal in Kleinstauflage von der Vanhaesebrouckse Drukkerij hergestellt wurden, füllten in der Anstaltsbibliothek bereits mehrere Regalmeter; überdies wurden jeweils Freiexemplare an führende Linguisten und Kryptologen versandt. Gleichwohl war es bislang niemandem gelungen, das von der Fundacja Polskiej Liryki Współczesnej ausgelobte Preisgeld für die Erstübersetzung dieses mutmaßlich höchst bedeutsamen Œuvres der Dissidentenliteratur einzustreichen.

Unter den Kurgästen hielt sich das Gerücht, der polnische Zausel habe sich 1981 eigenhändig alle Zähne herausgerissen – aus Furcht, Agenten des Sicherheitsdienstes könnten Abhörwanzen in seinen Plomben versteckt haben. Als Kevlier ihn bei einem Strandspaziergang darauf ansprach, entgegnete Andrzej, nein, diese Hurensöhne hätten ihm keine Wanzen, sondern lose Silberkügelchen unter der Amalgamabdeckung eingesetzt.
»Damit ich bei jedem Schritt an sie denken muß«, sagte Andrzej und stieß einen wohltemperierten Seufzer aus, ehe er grinsend seinen Zahnersatz zur Schau stellte: »Klingeling?«


»Diese Vorstellung ist weit verbreitet, aber nichtsdestotrotz völlig falsch«, erwiderte Dr. Op Den Berg mit festem Blick auf ihre Webcam. »Derzeit sind lediglich zwei unserer Kurgäste wegen einer Schreibblockade in Behandlung. Und auch denen mangelt es nicht an Einfällen, ganz im Gegenteil: Die beiden bringen gerade deshalb kein Wort aufs Papier, weil sie viel zu viele Ideen haben und sich vom Auswählen überfordert fühlen–«
»Verstehe«, fiel ihr Finanzinspektor Sterne ins Wort. Seine Stimme drang mit leichter Verzerrung aus den Lautsprechern: »Aber wie ich bereits sagte, mich interessieren in erster Hinsicht Ihre kanadischen Kurgäste.«
»Da kann ich Sie beruhigen. Gegenwärtig weilt kein einziger Ihrer Staatsbürger in unserer Einrichtung. Augenblick, ich schicke Ihnen unser Kurgastregister«, sagte die Anstaltsleiterin, und dann lächelte sie verschmitzt: »Am nächsten an einen Kanadier kommt wohl unser Kurgast aus Saint-Pierre-et Miquelon-heran.«
Dieser schreibe übrigens historische Kriminalromane und könne den Hieb eines Degens im Erzählen derart verlangsamen, daß nach einem Einschub – etwa der detaillierten Beschreibung einer Brigg und aller Besatzungsmitglieder sowie der Chronik ihrer fünfjährigen Weltumsegelung, welche dem Zusammentreffen der Duellanten vorangegangen war – die Klinge noch immer nicht an der gegnerischen Kehle angelangt sei. Dr. Op Den Berg erwähnte allerdings nicht, daß besagter Autor in Behandlung war, seit dessen Lektor das 1.800-seitige erste Kapitel gesichtet und daraufhin attestiert hatte, daß Prousts À la recherche du temps perdu im Vergleich dazu vor nervenzerreißenden Spannungsbögen strotze.
Finanzinspektor Sterne klickte sich indessen durch das anonymisierte Kurgastregister. »Könnten Sie mir bitte noch Paßkopien all Ihrer Patienten zukommen lassen«, fragte er schließlich.
»Mr. Sterne, unsere Kurgäste sind nicht unter Sicherheitsverwahrung«, erwiderte die Anstaltsleiterin. Der Inspektor rückte daraufhin noch näher an die Kamera, so daß Dr. Op Den Berg nur noch seine spröden Lippen auf ihrem Monitor sah: »Ich möchte Sie daran erinnern, daß diese Ermittlungen auch im Interesse Ihrer Einrichtung sind. Laut einem mir vorliegenden Bericht ist die Rendite des Vanhaesebrouck-Fonds empfindlich gesunken. An dieser Misere haben die Kursmanipulationen von Mr. Kevlier einen nicht unbeträchtlichen Anteil.«
»Nun, Sie sind jederzeit willkommen, unsere Kurgäste hier auf Curaçao persönlich kennenzulernen. Aber seien Sie gewarnt: Es besteht durchaus die Gefahr, daß Sie sich anschließend in einer Geschichte wiederfinden.«


Bei der Rückkehr von einem zweitägigen Angeltörn fand Kevlier eine Mitteilung der Anstaltsleiterin in seinem Postfach. Er fragte den kurerfahrenen Andrzej, was er von dem überraschend anberaumten Termin halten solle.
»Chefbehandlung? Ich fürchte, die Luft wird dünn für Dich, mein Bester«, frotzelte der Alte. Dann schulterte Andrzej den Kopf des prächtigen Blauen Marlins, den er als Trophäe präparieren wollte, und trottete zu seinem Bungalow davon.

Dr. Op Den Berg eröffnete Kevlier unter vier Augen, daß sie ihn mit einem weiteren Kurgast als Tandem in Behandlung nehmen wolle. Vorausgesetzt, auch er stimme diesem Experiment zu – immerhin handle es sich um einen bislang unerprobten, nicht ganz risikolosen Rehabilitationsansatz.
Sein Befund weise ihn als den idealen Tandempartner für die erst kürzlich eingetroffene Fumiko Okashima aus: Infolge fragwürdiger Heilverfahren in einer psychiatrischen Klinik sei nicht nur Fumikos Hypergraphie gedrosselt, sondern ihre gesamte schriftstellerische Produktion zum Erliegen gekommen. Beim hiesigen Aufnahmegespräch habe sich aber glücklicherweise herausgestellt, daß Fumiko vor besagter Fehltherapie stets Variationen bereits verlegter Romane verfaßt hatte.
»Genauer gesagt: Variationen jener Geschichten, die deren Klappentexte verhießen – weshalb ihre so entstandenen Texte nur wenig oder gar nichts mit den zugrundeliegenden Büchern gemeinsam haben.«
Kevlier hielt es für angebracht, seine diesbezügliche Sachkenntnis durch verständnisvolles Nicken herauszustellen.
»Infolge negativer Konditionierung wagt Fumiko es allerdings nicht einmal mehr, veröffentlichte Romane auch nur in die Hand zu nehmen«, legte die Anstaltsleiterin mit betroffenem Timbre nach. Angesichts dieser vertrackten Gemengelage baue sie fest auf Kevliers Kooperation: Seine Klappentextentwürfe sollten dabei als Trojanische Pferde zum Einsatz kommen, um Fumikos mentale Barrieren zu überwinden und von innen auszuhöhlen. Ihm selbst bliebe keine Zeit, an den Formulierungen zu feilen, da er die jeweils erste Niederschrift unverzüglich an Fumiko weiterreichen müßte. Die produktive Fremdverwertung – direkt vor seinen Augen – werde ihn zweifellos zur epischen Ausbreitung seiner Ideen herausfordern.
»Meiner Meinung nach ist dies der bislang vielversprechendste Weg zu Ihrem zweiten Roman. Und bei einem weniger günstigen Verlauf hätten Sie immerhin einer Kollegin in Schaffensnöten geholfen«, schloß die Anstaltsleiterin.
Kevlier erbat sich eine halbe Stunde Bedenkzeit.

»Jetzt rächt es sich, daß Du nicht endlich irgendeine Druckfassung Deines Debütromans organisiert hast«, schlußfolgerte Andrzej, nachdem Kevlier ihm Dr. Op Den Bergs Behandlungsansatz erläutert hatte: »Um zu beweisen, daß Deine Symptome echt sind, wirst Du im Akkord liefern müssen. Klingeling?«

Die Anstaltsleiterin bedeutete Fumiko, neben Kevlier Platz zu nehmen. Dieser hatte die Japanerin bisher nur einmal aus der Ferne gesehen; sie hatte im hydrotherapeutischen Ressort in einem Moorpool gelegen, weshalb er davon ausgegangen war, sie sei wegen chronischem Schreibtischrücken oder wegen einer Sehnenscheidenentzündung in Behandlung.
Noch bevor sie sich setzte, wandte sich Fumiko an Kevlier: »Bitte unterstehen Sie sich, mich jemals in eine Ihrer Geschichten einzubauen!«
Kevlier blickte Dr. Op Den Berg fragend an, doch die Anstaltsleiterin zeigte keinerlei Regung.
»Meinetwegen«, brummelte er nun zum zweiten Mal an diesem Tag und zog die Schreibutensilien zu sich heran.

Bei der ersten Sitzung verfaßte das Kurtandem einen Klappentextentwurf und ein Prosafragment. Beide begannen damit, daß Willem Vanhaesebroucks Enkeltochter auf der Fahrt zum XVI. Internationalen Webertreffen im polnischen Tiefschnee steckenbleibt. Kevlier zeigte sich beeindruckt von Fumikos Fertigkeit, Pointen wie Eiszapfen an Dachrinnen aufzureihen.

Über die katastrophalen Wetterverhältnisse im Jahre 1979 wußte Kevlier dank Andrzej bestens Bescheid. An schwülen Abenden erzählte der Alte gerne davon, wie er in jenem Winter zum ersten Mal verhaftet worden war: Sein vermeintlicher Gesetzesverstoß war, die Hofausfahrt mit einem Maiplakat freigeräumt zu haben. Daß es Warschau an Schneeschaufeln mangele, hatte der Sicherheitsbeamte als eine fadenscheinige Ausflucht zurückgewiesen – eine Ausflucht, die Andrzejs ideologischen Affront noch einmal verbal unterstrichen habe.
Die Untersuchungshaft währte allerdings nur zwanzig Minuten, denn der Sicherheitsbeamte stellte seine Ermittlungen zufrieden ein, nachdem Andrzej dessen festgefahrenen Privatwagen freibekommen hatte.

Kevliers Klappentext und Fumikos Fragment wichen deutlich von der autorisierten Vanhaesebrouck’schen Familienchronik ab: Sie stellten es beispielsweise so dar, als sei die Dampfkesselexplosion in der Weberei von einem Erbschleicher herbeigeführt worden und dessen Enkeltochter unrühmlich in die Verhaftung eines polnischen Dissidenten verstrickt gewesen. Nichtsdestotrotz fühlte sich Dr. Op Den Berg vom ersten Teilerfolg ihres Ansatzes bestätigt. Sie erstellte einen ambitionierten Kurplan für das Tandem – gerade so, wie es Andrzej prophezeit hatte.


Finanzinspektor Sterne traf am 15. März 2010 auf Curaçao ein und bestieg die am Flughafen bereitstehende Limousine. Da Dr. Op Den Berg die Kurgäste mit einem Aushang auf den bevorstehenden Besuch hingewiesen hatte, befand sich Kevlier zu diesem Zeitpunkt bereits auf halber Strecke nach Venezuela.
Die anstaltseigene Motoryacht schnitt mit steter Geschwindigkeit durch die Wellen. Andrzej, der darauf bestanden hatte, die Flucht altersgerecht angehen zu lassen, saß mit seiner Schleppangelausrüstung und einem eisgekühlten Bier am Heck der Vanhaesebrouck II.

Vor der venezolanischen Küste angekommen, drückte Kevlier seinem polnischen Fluchthelfer ein Bündel neuer Klappentextentwürfe in die Hand und bat ihn, er möge Fumiko regelmäßig mit Nachschub aus dieser Sammlung versorgen.
»Sobald ich wieder einen Unterschlupf gefunden habe, werde ich ihr weitere schicken«, sagte Kevlier.
»Klingeling«, murmelte Andrzej und verstaute das Bündel schmunzelnd in der Kühlbox. Dann ließ er das Beiboot zu Wasser und beobachtete, wie der Kanadier ans Ufer ruderte. Vom Strand aus winkte Kevlier ihm noch einmal zu und beobachtete nun seinerseits, wie Andrzej Kurs zurück auf seinen Alterssitz einschlug.


Zwei Jahre später debütierte Jonathan Kevlier unter seinem Alias Cederic Darwin Jr. bei einem neuseeländischen Verlag. Das Gros der Rezensenten zeigte sich beeindruckt von dem ›reifen Erstlingswerk‹ und stürzte sich dankbar auf jene Passagen, in denen der Autor ›ebenso kenntnisreich wie schonungslos‹ mit dem Gebaren der Finanzbranche abrechnete, ›ohne den Antihelden auf seiner grotesken Odyssee der genretypischen Läuterung oder Bestrafung zu unterziehen.‹ Die ›von Krisenwellen gebeutelte Weltwirtschaft‹ habe heuer also immerhin ›eine literarische Dividende‹ abgeworfen.

In der Bibliothek der Vanhaesebrouckse Kuurinrichting wurde der Roman als Cederic Darwin Jr.s zweites Werk registriert, wenngleich Fragments of the Master Plan nach wie vor bloß als ein Eintrag auf der Anschaffungsliste existierte. Dessen ungeachtet sahen sich Dr. Op Den Berg und der Sachverständigenausschuß ein weiteres Mal in ihrer Expertise bestätigt.

Der Romanhandlung zufolge trafen sich Kevlier und Fumiko bei einer Lesereihe der Vanhaesebrouckse Alumnivereniging wieder. Ihr inniger Kuß, der in einer früheren Fassung des Romans zu einer Vielzahl weiterer Verwicklungen geführt hatte, war jedoch einer Kürzung anheimgefallen – weshalb die beiden die Lesung ungeküßt und in entgegengesetzter Richtung verließen.


Fumiko nahm die Veröffentlichung von Notes from the Sanatorium weit gelassener auf, als Kevlier erwartet hatte: Ausgehend vom Klappentext, begann sie sogleich, ihre eigene Version der Geschichte zu schreiben. Diese wich deutlich von Kevliers Roman, aber auch von Inspektor Sternes Ermittlungsbericht ab – schon deshalb, weil Fumiko vom glücklichen Ende her zu erzählen begann.