Andreas Stichmann, Hamburg (D)

Geboren 1983 in Bonn, lebt in Hamburg. Andreas Stichmann studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.

Andreas Stichmann wurde von Jurorin Meike Feßmann für die TDDL 2012 vorgeschlagen.

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Andreas Stichmann: Der Einsteiger
(Romanauszug)
gelesen bei den 36.Tagen der deutschsprachigen Literatur
© Andreas Stichmann

Als Ana krank wurde, dachte ich: Gott sei Dank. Sie musste einfach mal eine Pause machen, sie konnte nicht ewig so betrunken und überdreht durch die Straßen laufen - und Geld konnte ich genauso gut alleine organisieren, es war sogar unkomplizierter alleine.
Wir hatten einen Schlafplatz in diesem leerstehenden Haus in der Altstadt gefunden, im zweiten Stock, in einer schmalen, leblosen Straße. Wenn ich morgens steifgefroren zum Fenster ging, hing draußen ein Gemisch aus Smog und Sonne, ein gelber Dunst, immerhin wärmend nach der Nacht in den Schlafsäcken. Der Verkehrslärm klang dumpf und fern, unten auf der Straße bewegte sich nichts. Ich musste den Kopf weit aus dem Fenster strecken, wenn ich Menschen sehen wollte, erst ganz oben an der Kreuzung fing das Stadtleben an. Geschäfte, Autos, eine Bushaltestelle; die Leute, die zu weit weg waren, um sie richtig zu erkennen.

„Rupert?“
Ich schloss die Fenster und setzte mich wieder zu Ana auf die Isomatten, direkt unter den großen, hellen Fleck auf der Tapete. An den anderen Wänden gab es ähnliche Stellen, dunkle und helle, in verschiedenen Größen, so dass wir Ratespiele machten, welche Möbel hier mal gestanden hatten. Ich fand, es müsse eine Küche gewesen sein, in der es einen Brand gegeben hatte, Ana meinte, eher eine Geheimbibliothek. Sie redete etwas fahrig, seit sie krank war. Ihre Handflächen waren feucht und kühl.
„Ist es schon Tag?“, sagte sie.
„Rede nicht“, sagte ich.
Ich wickelte ihr meinen Schal um den Hals und zog den Schlafsack zu, sodass sie etwas von einem Eskimomädchen hatte, wie sie zu mir herausblinzelte. Ganz rot und mit geschwollenen Lidern, aber friedlich. Es gefiel mir; manchmal hatte es fast etwas Witziges, wie benommen und verschlafen sie sich bewegte. Ich gab ihr warmen Schnaps, wie es meine Pflegemutter früher bei mir gemacht hatte, wenn ich krank gewesen war; eigentlich gehörte noch eine Zwiebel dazu: Eine sanfte Lähmung kroch in die Knochen, man trank drei Gläser und wurde schnell wieder müde.
Ihre Augen schlossen sich, während ich das Glas an ihre Lippen setzte, sie trank, hüstelte, schlief wieder ein.

Unbegreiflich, wie herzzerreißend sie im Schlaf aussah. Ihr Schnarchen war ein reines Kindergrunzen. Ich kroch nah an sie heran und roch an ihrem Haar, erschrak, als sie sich plötzlich mit dem Zeigefinger in der Nase rührte, so gründlich und energisch, dass man fast weinen wollte, es sah einfach so unschuldig aus. Wie sie die Nase rümpfte und noch mal rührte, um sich dann mit einem Ruck umzudrehen und in den Tiefschlaf zurückzusinken.
Ich roch.
Ich musste einfach an ihr riechen und ihr Gesicht ablecken. Ich hatte festgestellt, dass sie an unterschiedlichen Stellen ganz unterschiedlich schmeckte: Ihr Hals schmeckte nach Früchtetee, ihre Handgelenke eher salzig - und wenn sie schlief, schmeckte sie insgesamt süßer. Es war ein kleiner Rausch, weil sie es nicht mitbekam, weil ich so heimlich anwesend war mit meiner Zunge und meiner Nase. Hinter ihren geschlossenen Lidern bewegten sich ihre Augen.
Wenn ich jetzt hier in ihr Ohr flüstere, dachte ich, kann ich vielleicht ihren Traum beeinflussen, vielleicht kann ich in ihren Traum hinein, falls sie nicht sowieso von mir träumt. Und in spätestens zwei Wochen, wenn ich das Geld zusammenhabe, werden wir als Stadtmenschen in einer richtigen Stadtwohnung aufwachen, in der Realität.

Ich hatte inzwischen dieses klare, entschlossene Körpergefühl entwickelt: dick in meinen Parker eingepackt, trotzdem frei marschierend, im Holster meine Browning, in der Jackentasche den Faltplan und die Patronen. Ich wich den Blicken der Passanten nicht aus, auf keinen Fall durfte Schwäche gezeigt werden, soviel war klar: Die Menschen, die es geschafft hatten, konnten Ängste riechen, man musste sich von Anfang an ganz selbstverständlich unter ihnen bewegen, wenn man hier einsteigen wollte.
Den Faltplan hatte ich im Müll gefunden, ein löchriger Fetzen, der mir nicht wirklich weiterhalf in diesen verzweigten Straßen; Flaschen rollten über den Bürgersteig, Hunde zerrten an Ketten; erst wenn ich die Hauptstraße erreicht hatte, wusste ich den Weg - bergauf in das sanftere Viertel.

Die Wohnung, die ich mir ausgesucht hatte, lag im Erdgeschoss, im normalsten Wohnblock der Welt - der aber zugleich der schönste Wohnblock der Welt war, wenn man ein Auge dafür hatte. Es war still in dieser Straße, ein graublauer Schimmer hing über den viereckigen Vorgärten, nicht reich, aber auch nicht arm, solide eben - genau richtig. Die gelben Müllcontainer hatten in der Dämmerung einen graugrünen Ton angenommen, ordentlich in ihren Holzumzäunungen stehend, als müsste der Müll vor Dieben geschützt werden; tatsächlich waren sie mit Vorhängeschlössern behangen, ich hatte nachgesehen. Und eigentlich war mir von Anfang an klar gewesen, dass ich diesen Wohnblock kannte, aus einem vergessenen Traum oder aus einer Vorausschau, wenn es das gibt: Der Block rückt näher und näher, und dann ist er deutlich vorhanden, exakt mit den drei Schneeballlampen vor den Eingängen, mit den drei Kieswegen und den roten Hausnummern Neun bis Elf.
Er füllt den Umriss aus, der schon vorhanden ist im Kopf.
Und genau wie vorgesehen gleichen sich auch alle Fenster und Metallbalkone, lenken den Blick erst dadurch auf die kleinen Unterschiede: auf zwei Windspiele, auf eine mit Wäscheklammern besetzte Leine, auf eine Strohpuppe mit Hut, die lächelnd in einem Blumentopf sitzt. In den Fenstern gegenüber brennt gelbes Licht, aber niemand sieht raus; es ist ein stummes, ungewöhnlich friedliches Viertel. Bastianstraße Neun bis Elf. Ich habe es gesehen.

Zuerst: Dieses bunt schimmernde Wohnzimmer, hinter dem Fenster unten links. Die Lichterkette an der Wand, die Kerzen auf dem Tisch; ein bisschen weihnachtlich schon. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, die Hände neben dem Kinn auf dem kühlen Metall, das Gesicht vor der Doppelverglasung: Da war das gemütliche Sofa, das etwas schräg zu mir stand, sodass ich den Hinterkopf des kleinen Jungen sah, ohne erkennen zu können, was er tat. Nach einer Weile verschwand der Hinterkopf und es tauchten seitlich zwei Füßchen in blauen Noppensocken auf: blau, weil er ein Junge war, Noppen der Sicherheit wegen. Dann wechselte die Lichterkette ihre Farben, es wurde grünlich und rötlich im Raum, und wieder war es wie in einer Vorausschau, ich hatte es vorausgefühlt: Die Tür geht auf, die rote Mutter kommt rein, und zwar in ihren Puschen, die wie Tatzen aussehen. Denn hier ist sie, und hier gehört sie hin. In diesem knallroten Bademantel, mit diesem hellroten Haar.
Und mit ihr wirkt das Zimmer wie eine Höhle, die Bärenmutter in der Bärenhöhle, die sich zu ihrem Bärennachwuchs setzt - wobei wieder nicht zu erkennen ist, was auf dem Sofa passiert. Ob sie sich ein Bilderbuch ansehen oder leise miteinander sprechen, ob sie vielleicht ein Gespräch wiederaufnehmen, ein Mutter-Sohn-Gespräch, das schon lange läuft und über Jahre laufen wird? Schule, Arbeit, deine Träume, deine Sorgen? Für mich nicht zu sagen - aber nach einer Weile bewegt sich das ferngesteuerte Auto auf dem Teppich. Fährt rückwärts und zweimal im Kreis. Und ich strecke die Zehen durch und weiß, dass ich es bin, der es bewegt. Mit den Augen im Slalom. Auf dem Teppich. Zu mir her.

Donnerstagnacht, ein Uhr. Aber eigentlich ist das hier ein Raum außerhalb der Zeit, so kommt es mir vor. Der Himmel ist erschreckend klar, die Sterne stehen ekelhaft winzig und zugleich phantastisch darin, deuten so die Schicksalsnacht an.
Nicht, dass ich gleich die ganze Wohnung in die Tasche stecken will, das wohl kaum - aber diese Familie hat mit Sicherheit Bargeld und Wertsachen zuhause; ich werde hier vernünftig vorgehen, habe auch schon den Rest aus der Schnapsflasche getrunken, um mich zu stärken. Um mich in diesem Zustand auf der Steinmauer hinter dem Haus wiederzufinden, in der Bastianstraße Neun bis Elf, über dem Garten kniend, bereit zum Sprung.
Und springe.
Das heißt - zuerst sehe ich noch mal in diesen nackten Himmel, aus dem diese teuflischen Sterne immer verschwinden, wenn man sie einzeln fixiert, und dazu brennen meine Schläfen und erzeugen diesen Druck und diese Ungeduld, bis ich schließlich genug Willenskraft zum Springen aufbringe - aber es wird ein unglückliches Stürzen, ich hätte es sehen müssen. Ich knicke um, liege mit pulsierendem Knöchel im Garten und komme nicht mehr hoch; ein Brennen bis in den Oberschenkel. Und ich muss mich hinknien und die Zähne zusammenbeißen, während ich zur Seite krieche, während vor mir dieses Licht entsteht: Das ist Ana.
Beziehungsweise, das ist natürlich nicht Ana, aber so ähnlich wird sie auch auf der Terrasse stehen, wenn wir erst so eine Wohnung mit so einer Terrasse haben, denke ich - als junge Mutter am Abend. Als leuchtende Mutter unter der Außenlampe rauchend.
Wobei mich diese Mutter hier zum Glück nicht sehen kann, ich befinde mich außerhalb des Lichtscheins, von wo aus ich sehr deutlich ihr helles Gesicht, ihre gesenkten Lider und ihre fast durchsichtigen roten Wimpern sehen kann.
Die mich ein kleines bisschen wütend machen.
Die mich nach einer Weile, ich erschrecke selbst darüber, richtiggehend hitzig werden lassen - aber warum muss sie auch so dastehen, warum muss sie sich so zärtlich die Arme reiben, als hätte sie eine unendlich kostbare, empfindliche Haut? Als wäre sie überhaupt ein ganz besonderes Wesen. Mit zarten, winzigen Sommersprossen überall?
Wahrscheinlich ja.
Wahrscheinlich wirklich an allen Stellen, denke ich, und zusätzlich noch Muttermale, die sie mit ihrem Mann untersucht, damit sie keinen Hautkrebs bekommt. Und dass dieser Mann sehr einfühlsam sein muss, ist eigentlich auch schon deutlich geworden, dass er dünne weiche Wollpullover trägt und trotzdem sehr kräftig ist und voller gutem Vaterblut.
Wie er da im Hintergrund entsteht. Als Bewegung im Schatten.
Während sie ihre Zigarette ausdrückt und in die Wohnung geht, zielstrebig; denn mit Unwirklichkeitsgefühlen kämpft sie nicht, so viel ist klar, sie stimmt mit sich überein - während die Außenlampe wieder ausgeht und ich mich erhebe.
Denn meine Schmerzen sind weg.
Und ich habe das befreiende Gefühl, meinen Körper auch sonst nicht mehr richtig zu spüren, als befände ich mich ein kleines Stück über ihm. Ich kann jetzt aufstehen und langsam Richtung Terrassentür humpeln, mein Knöchel ist ein dumpfer Druck, nicht mehr, und vor mir bewegt sich einer meiner Finger und schiebt die Terrassentür auf.
Waschmittel und Schlaf. Ein kleines bisschen Schweiß. Familienaroma.

Dass ich mich also im Schlafzimmer befinde. Nehme ich an.
Und dass der Spalt hellen Lichts weiter vorne der Flur sein muss. Und dass diese formlosen Widerstände in der Luft Wäscheständer sind. Ein dunkler Parkour, der hier extra für mich aufgestellt wurde - denn es scheint mir jetzt ganz angemessen, hier zu sein, es hat zumindest eine Folgerichtigkeit. Und wer weiß, vielleicht bin ich auf eine gewisse Weise sogar erwünscht? Vielleicht wünschen sich die Eltern so einen Zwischenfall sogar, auf eine sehr merkwürdige, unbewusste Art?
Links spüre ich die Patronen in der Jackentasche und rechts ein paar Schnapsflaschenscherben, ich blute am Daumen, egal.
Wichtig ist jetzt, dass ich mich aufrecht bewege, weil es natürlich auch eine Frage der Körpersprache ist, weil es unnötig beängstigend wirken würde, wenn jemand das Licht anmachen und mich hier gekrümmt entdecken würde. Wer findet schon gerne jemand Gekrümmtes in seinem Schlafzimmer vor? Nein, dass ich die Wirbelsäule unbedingt durchstrecken sollte, denke ich - und gehe so durch das Schlafzimmer und den Flur bis zu diesem hellen, schwankenden Spalt, der jetzt zitternd vor mir zum Stehen kommt.
Die Dinge verschwimmen, egal - es fühlt sich gar nicht falsch an, es ist eben diese Wärme und diese Perfektion, die mich kurz weinerlich werden lässt: Die Küche schwimmt in ihrem eigenen Licht. Eine Küche bei Nacht, deren Glitzern etwas Verbotenes an sich hat. Der Türspalt hat exakt die Breite meines Gesichts - und das Ganze ergibt ein Bild aus einem gleichzeitig vergangenen und künftigen Leben, ich erinnere mich: Die Spülmaschine, der dreiäugige Strahler an der Decke, an der Wand die Bleistiftmarkierungen, die das Wachstum des Sohnes dokumentieren. Eine senkrechte Zeitleiste, die einen Halt im Leben des Jungen bildet, natürlich - etwas Festes im Vorbeifliegen der Jahre.
Dazu ein Vater und eine Mutter, die gegenwärtig noch sehr jung sind und sehr entspannt zusammensitzen. Sie mit dem nackten Fuß auf dem Oberschenkel des Vaters, und der Vater von unten mit der Hand in ihre Schlafanzughose fahrend, gefühlvoll ihre Wade streichelnd.
Während beide etwas ansehen, das sich außerhalb meines Blickfelds befindet.
Ich drücke die Tür noch ein bisschen weiter auf und begreife dann, dass da Klaviermusik läuft, eine leise, anfassende Klaviermusik. Die Eltern sehen sich ein Konzert im Fernsehen an, ein Open-Air-Konzert mit einem singenden Pianisten, sie sitzen bei einem Glas Wein und genießen das spätabendliche Programm. Es ist eine Ballade, zu der genau diese Stimme gehört, eine zarte, die zwischendurch auch rau werden darf, die Stimme des stadionfüllenden Sängers.
Die ich mit einem Summen begleite.
Aber sie hören mich nicht, und ich denke, dass ich jetzt auch nicht einfach reinplatzen kann, das nicht, sie wirken grade so entspannt, es würde unnötig respektlos wirken - es ist besser erstmal zu gucken, ob es möglich ist, sich mit ihrem Jungen anzufreunden.

Schon lustig. Dass meine Gedanken so klar sind und gleichzeitig so weit weg. Ich stelle mir vor, noch immer im Garten zu sitzen und meinen Geist von dort aus fernzusteuern. Aber es ist nicht so, ich bin im Flur und spüre das Brennen in meinen Knöchel wieder stärker.
Erahne etwas wie eine Garderobe und einen Schrank und frage mich, ob sich Geld darin befindet - oder in diesem Medizinschränkchen dort vielleicht eine Schmerzsalbe? Für meinen Knöchel? Ob es in Ordnung wäre, sich mal kurz an diesem Medizinschränkchen zu bedienen?
Das jetzt mit einem braven Klicken vor meinem Gesicht aufgeht. Etwas Licht kommt aus der Küche in den Flur, buntes Licht, zusammen mit einem schnelleren Lied - und es streicht über die Schlüssel, die hier hängen, eine ganze Menge Schlüssel: Der Ort für die Medizin ist offenbar doch ein anderer.
Aber auch das ist mit Sicherheit so vorgesehen in dieser Wohnung.
Ja, wahrscheinlich muss es sogar Orte geben, die Außenstehende wie ich nicht kennen: die grüne Teekanne der Großmutter ist im Bücherschrank zu finden, die Medizin möglicherweise in der Besenkammer; denn die Dinge der Familie haben natürlich ihre ganz eigenen Plätze eingenommen mit der Zeit. Sie sind angefasst und beseelt worden durch die Familie.
So dass ich mit einem beinahe demütigen Gefühl ins nächste Zimmer weiterhumple - und es ist wieder das Schlafzimmer, dieser angenehm dumpfe Geruch, diese kühle Aura nasser Wäsche im Dunkeln. Es ist alles so stimmig in diesen Räumen. Als ich meinen Weg zurück in den Flur finde, spendet mir der Sohn Licht, indem er die Badezimmertür grade hinter sich schließt. Und auch das, dieser nächtliche Ausflug des kleinen Jungen: wie stimmig und rhythmisch, wie sanft in seinem grünen Frotteeschlafanzug.
Geht da so klein und warm ins Klo.
Geht da ins helle Licht des Bades.
Das natürlich zu grell ist, nachdem man schon geschlafen hat, ich kann das sonderbar intensiv mitfühlen, als wäre ich der Junge, als würde ich hier wohnen: Jetzt bin ich also noch mal wach geworden, mitten in der Nacht. Der späte Gang zur Toilette. Die Sauberkeit, das Summen im Kopf. Und etwas aus dem Traum, das einen hat wach werden lassen, etwas Bizarres, das aber seine Macht verliert. Denn alles ist ruhig. Niemand ist tot oder pervers. Mutter und Vater sind noch in der Küche, morgen ist Mittwoch oder Samstag, der nächste Tag eines weiterhin friedlichen Lebens. Hier: der Bademantel ist wieder vom Haken gefallen. Und weit entfernt fährt ein Auto und bringt ein kleines Frösteln bei dem Gedanken an draußen, drinnen aber ist es warm, die Dinge des Lebens sind an den richtigen Stellen vorhanden. Jetzt: der gesunde Geruch des Stuhlgangs. Die gründliche Spülung. Dann eine Vorfreude in den Knien und den Beinen, ein richtiges Glück in den Gelenken, dass man sich gleich wieder hinlegen kann. Das Bett ist noch warm, der nächste Traum wird mit einem besonders schönen Gedanken begonnen: das Nachbarmädchen, der Sonnenausflug, die plötzliche Allmacht des Begabten, die wilde Wiese mit dem Klee, die Anteilnahme der Freunde - und die Tür geht auf und neben dem Bett steht der Gekrümmte. In seinem Parka. Macht alles tot.

Das nicht.
Ich strecke lieber meine Finger aus und drücke die Wohnzimmertür nach innen - etwas hektisch jetzt, obwohl ich mich nur langsam bewegen kann - und bin im Dunkeln, während der Junge hinter mir den Flur durchquert. Denn es wäre wirklich nicht in Ordnung gewesen, ihn so zu erschrecken, nicht so und nicht jetzt - es hätte mir auch die Chance auf eine friedliche Einigung verspielt. Schließlich will ich es mir nicht grundsätzlich verscherzen mit den Eltern, schließlich will ich erstmal fair bleiben und einen Kompromiss anbieten: Mein Name ist Rupert, und ich komme zunächst als Freund. Versteht meine Lage, gebt mir etwas Geld, dann gehe ich wieder, und zwar in Frieden.
Aber als ich mich grade umdrehe, als ich grade zurück will, um die Sache zu besprechen, sacken meine Beine weg und ich komme überhaupt nicht mehr hoch.
Das Schmerzgefühl ist wieder da.
Es schießt mir in den Kopf.
Und ich muss mich auf den Bauch drehen und mit den Händen vorwärts ziehen, ich muss zum Sofa robben, weil meine Beine nicht mehr gehorchen.
Und ziehe das Sofa ein bisschen zu mir ran. Krieche langsam in den Winkel.
Denke in dieser Position, dass es wohl der einzig richtige Platz ist im Moment. Weil er ruhig ist, und weil er vorläufig auch vollkommen zu mir passt. Mit den gebrauchten Taschentüchern und den Flusen.
Wo ich hingehöre.

Noch einmal höre ich die Stimme der Mutter, dann nichts mehr, weil die beiden wahrscheinlich ins Bett gegangen sind. Was traurig ist, denn jetzt sind sie endgültig nicht mehr zu erreichen. Andererseits wird es morgen einen neuen Tag geben, sage ich mir, ja - morgen werde ich dann eben umso klarer und aufgeräumter hinter dem Sofa vorkommen. Ich werde mich an den Frühstückstisch setzen und meine Situation erklären. Und vielleicht wird es so sein, dass die Zeit unmerklich vergeht, dass plötzlich schon zwei Wochen vergangen sind. Dass ich wieder und wieder Frühstück mache und Kaffee eingieße, und dass die Mutter mich vielleicht noch mal irritiert ansieht für einen Moment, aber nach einer gewissen Zeit eben nicht mehr, weil es dann selbstverständlich geworden ist.
Ja - vielleicht werde ich einfach da sein und dazugehören, und die Zeit wird verfliegen, und Familiendinge werden erledigt werden. Gemeinsame Entrümplungsaktionen, das Sichten des alten Krempels, den keiner mehr braucht und der doch da sein muss als unsere Basis im Keller. Und vielleicht werde ich dabei schmunzeln und das eine oder andere wiedererkennen, weil es ja auch mein Leben ist, weil es aus meinem Leben stammt: orangestichige Polaroidfotos, das Plüschtier mit dem fehlenden Auge, das selbstgemachte Bilderbuch, kleine Dinge der Liebe. Und Ana sitzt morgens auch mit uns beim Frühstück, natürlich, schon immer eigentlich - denn letztendlich waren wir immer hier und diese Küche gehört uns, letztendlich sind wir schon immer die Eltern in dieser Familie gewesen.
Und mit einem Schlag ist es dann auch zurück, dieses Bewusstsein, dass es tatsächlich unser Leben ist und unsere Wohnung. Denn jetzt, indem ich mir die Augen reibe und blinzle, biegt sich der Raum in die Tiefe, und ich sehe Ana, die grade die Küche verlässt, ich sehe den Küchentisch, an dem ich hier sitze, ich sehe unseren Sohn, der sich auf die Zunge beißt. Er macht Hausaufgaben. Der Fleißige. Der Kurze.

Ich betrachte meine Hände. Ich betrachte die Küche, als wäre sie gerade erst entstanden. Aber es ist alles normal, auch die Details prägen sich wieder aus. Die Maserung des Tisches, die Korkstruktur der Pinnwand. Ich sehe das alte Passfoto von Ana und mir, das schwarzweiß ist und trotzdem so lebendig wirkt, als wäre es erst ein paar Wochen alt, als hätten wir bis vor kurzem noch in leerstehenden Häusern geschlafen.
Während ich mich jetzt aber auf die Gegenwart konzentrieren sollte, sage ich mir, um wieder vollständig zurückzukehren, um wieder ganz normal als Vater hier zu sitzen. Als Frühstückstischmann.
In meiner für mich vorgesehenen Küche.
In der ich, wie ich sehe, alleine bin, weil mein Sohn grade in den Garten gegangen ist, weil ich hier schon wieder so lange am Frühstückstisch sitzenbleibe und die Wände angucke - aber das muss eben sein, weil sie sich sonst bewegen. Weil sich die Dinge hier immer so schnell verflüssigen, wenn man sie nicht fixiert.
Im Augenwinkel wird die Ernährungspyramide kleiner. Das Drei-Etagen-Obstnetz löst sich nach und nach auf.
Um dann aber wieder sehr deutlich da zu hängen. Weil ich natürlich rechtzeitig hinsehe.
In den oberen beiden Etagen befinden sich Nüsse und Äpfel, in der unteren Quittungen und Stifte, was aber auch so vorgesehen ist - weil es sich um eine dieser notwendigen kleinen Abweichungen handelt. Die Quittungen und Stifte in der untersten Obstnetzetage als größter Wahnsinn in dieser Wohnung.
In der jetzt doch alles normal ist, nehme ich an, in der sich die Dinge beruhigen. Der Sekundenzeiger schlägt im Takt.
Und ich kann endlich aufstehen und den Tisch abräumen, ich kann meinen Frottee-Bademantel fest zuziehen und konzentriert in den Flur rübergehen, in dem sich auch nichts verformt.
Denn wer denkt hier bitteschön und wer ist der Gedachte.
Und wer, denke ich, lässt jetzt den warmen Teppichboden des Schlafzimmers entstehen, wer schlüpft aus den Puschen, um barfuss diese Wärme zu empfinden, um so die Augen zu schließen und den Kopf in den Nacken zu legen?
Ich ja wohl.
Ich mit meinem Geist.
In diesem sonnigen Moment, den ich hier zu dehnen versuche.
Weil ich natürlich schon spüre, dass mir das Schlafzimmer bald wieder entgleiten wird, dass es sich in diesem Rot auflösen wird, das immer dunkler und dunkler wird. Einfach, weil mir langsam die Kraft ausgeht, weil sich der Teppichboden jetzt auch schon wieder kühler und kratziger anfühlt. Und weil die Flusen und Taschentücher dann wieder da sind, weil es wieder dunkel ist hinter dem Sofa.
In der Realität.

Während aber hier in der Altstadt, sage ich später zu Ana, auch schon wieder alles geisterhaft wird. In diesem kalten Versteck. Während die hässliche Tapete mit den Flecken jetzt im Morgengrauen wieder vortritt und trotzdem so unwirklich erscheint, genauso wie unsere Schlafsäcke und dein schlafendes Gesicht auf deinem ausgestreckten Arm. Genauso wie die Bewegung deiner Augen hinter deinen geschlossenen Lidern, die ich mehr erahne als sehe. Und ich sitze hier übermüdet auf meiner Isomatte, sage ich, mit meinem brennenden Knöchel, und ich rede und rede und rede - aber im selben Moment löst sich das Gerede ja sowieso wieder auf. Zusammen mit diesem Raum, den man auch gar nicht als Raum bezeichnen sollte, der ja gar kein Ort ist, an dem man tatsächlich vorhanden sein kann.
Weil es hier nur leere Flaschen und Müll gibt, sage ich. Weil die Flecken an den Wänden immer vager werden, zusammen mit meinen Worten.
So dass du mich eben doch ganz zu dir reinholen solltest, sage ich, so dass du doch einfach eine Küche träumen könntest, in der du mich siehst. Eine schlichte Küche, in der ich in deinen Augen entstehe. Ja, in der wir beide, sage ich, doch ganz normal vorhanden sein könnten, in der wir uns doch gegenseitig versichern könnten, dass es uns gibt.