Cordula Simon (A), ODESSA

Geboren 1986 in Graz. Lebt derzeit in Odessa, Ukraine. 2011 Studium der deutschen und russischen
Philologie in Graz und Odessa. Koordinatorin
der Jugend-Literatur-Werkstatt Graz.

Die Autorin wurde von Daniela Strigl zum Wettlesen um den Ingeborg Bachmann-Preis 2013 eingeladen.

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Cordula Simon: Foto: Wolfgang SchnuderlCordula Simon: Foto: Wolfgang Schnuderl

Cordula Simon: Ostrov Mogila

vorgetragen bei den 37.Tagen der deutschsprachigen Literatur
© Cordula Simon

Meine Mutter war schon seit Jahren immer mit Augen aufgewacht, als wäre jemand gestorben. Trotzdem hatte sich in der Zeit nicht viel geändert, und niemand war mehr gestorben, niemand, der hier einen Platz hatte. Nur die Katzen behielten ihr Heulen, wie immer, nicht für sich. Dennoch war ich heute fremd gewesen. Ich ging ins Haus, um zu frühstücken, nachdem ich die Schweine gefüttert hatte. Ich sagte: »Die Schweine grausen sich vor den Kakerlaken.« Denn die beiden Geschwisterschweinchen waren erschrocken zurückgewichen, als ich die Küchenabfälle mit dem Kübel in den Trog warf und die Kakerlaken vor der auf sie herabstürzenden Nahrungsflut flüchteten. »Die Welt steht nicht mehr lange«, antwortete meine Urgroßmutter. Das sagte sie immer, wenn ich einen Hauch Mensch in einem Tier zu finden glaubte. »Hachja«, antwortete meine Mutter, es war ihre Antwort auf alles. Auch als wir schon einmal zwei Schweinebrüder hatten und einen schlachteten und der zweite starb vor Trauer, weil er nicht mehr fressen wollte. »Die Welt steht nicht mehr lange.« Die einzige Prophezeiung, die sich nicht erfüllte. Wenn sie Unwetter oder Sonne prophezeite, hatte sie recht, wenn sie Gesundheit oder Tod prophezeite, lag sie richtig, und manchmal schien es, dass die Prophezeiungen nicht aus Vorzeichen gelesen waren, sondern nur eintraten, weil sie sie beschworen hatte. Ganz lange glaubte ich, dass sie so meinen Großvater getötet hatte und noch länger, dass meine Großmutter ihr das nie verzeihen würde. Ich hatte nicht mehr oft daran gedacht, in letzter Zeit. Ich glaubte schon, ich sei träge geworden. Als ich klein war, spazierte ich noch hinter dem Pflug her, doch mittlerweile muss ich bereits Kraft aufwenden, um den Pflug zu lenken, und das Pferd spazierte nur mehr, weil es alt geworden war, die Arbeit nicht mehr allein machen konnte, und ich fürchtete, dass die Tage sich immer dem Diktat der Urgroßmutter beugen würden, auch wenn ich wieder hinter dem Pflug spazieren würde und ein neues Pferd das alte ersetzte.
Aber die Großmutter sprach nie über den Verlust, sie drehte nur manchmal, wenn ich in die Stube kam, die alten Eheringe zwischen den Fingern und erzählte davon, was es für eine große Liebe gewesen sei, die größte, die die Welt je hatte zu sehen bekommen, oder immerhin die größte, die Ostrov Mogila je zu sehen bekommen hatte, wie sie schon als Kinder gewusst hätten, dass sie füreinander bestimmt gewesen seien, wenn sie sich vor der Urgroßmutter und dem Urgroßvater im Feld versteckt hatten, lachend und überzeugt, dass sie nicht nur im gleichen Jahr geboren waren, sondern auch im gleichen Jahr sterben würden. Ich lächelte zu der Geschichte und sagte, dass ich hoffte, auch eines Tages eine solch glückliche Ehe zu haben und sie lachte und meinte, dass ich darauf nicht zählen dürfe, und die Mutter und Urgroßmutter stimmten ihr zu. Da waren zu viele Mütter in meinem Leben, die mir klarmachten, dass sie alles besser wussten. Dann ließ meine Mutter noch ein tröstlich gemeintes »Hachja« vernehmen. Manchmal deutete sie damit an, dass etwas gleichgültig war, wie aufgeschlagene Knie, und manchmal wollte sie etwas besser machen, wie aufgeschlagene Knie. Die Großmutter kicherte dazu.
Wer mit der Urgroßmutter sprach, passte sich ihrem gedehnten Sprachrhythmus an. Auch die Großmutter und Mutter redeten mit lang gezogenen Silben, als würden sie auch aus ihren Worten, genauso wie aus den Worten der Urgroßmutter, Zauberformeln machen. Sie erhob sich von der Bank neben dem gusseisernen Herd, stützte sich dabei auf den Stock, sie werde ins Nachbarhaus gehen, die Timofejewna habe Herzschmerz, und sie würde sie wieder richten. Ich widersprach ihr, dass sie sie nicht richten könne, das Kind war tot und sie hatte doch selber gemeint, dass nur Zeit helfen würde – lange Silben spie ich langsam aus. Aber sie fuhr mir über den Mund. Die Timofejewna habe ein Stechen in der Brust und da könne sie sehr wohl etwas tun. Ich hielt den Mund, ich hatte ohnehin Angst, ich würde mich langsam, so wie die Großmutter und die Mutter schon damit begonnen hatten, in die Urgroßmutter verwandeln, wenn ich zu lange in ihrer Sprache steckte. Wir trugen schon längst alle die gleichen Blumenschürzen und die gleiche Frisur. Vielleicht hatte die Urgroßmutter entschieden, dass wir nur jüngere Ausgaben ihrer selbst werden sollten. Mir war diese Ähnlichkeit zwischen uns allen nicht aufgefallen, bis der Vater gestorben war. Die Urgroßmutter hatte vorhergesagt, er würde es nicht lange machen, und ein paar Wochen später saß er mit der Schnapsflasche vor sich und niedergesunkenem Gesicht am Küchentisch, als wir morgens aufstanden. Als wir ihn eingruben, wunderte ich mich noch, wo all die anderen Toten blieben, ich war noch klein. Da sah ich es, die Mutter, die Großmutter und die Urgroßmutter nebeneinander, aufgereiht wie Matrjoschkas.
Die Urgroßmutter kehrte von der Nachbarin zurück und sagte: »Die sehen wir nicht mehr wieder.« Das war ein Todesurteil. »Hachja«, seufzte die Mutter. »Ich dachte …«, ich zog die Worte hin wie zähen Speck, »… du könntest etwas tun?« Sie meinte, das habe sie. Ich erwiderte: »Du bringst sie also um?« Das war nicht, was ich hatte sagen wollen, denn auch wenn ich manchmal fürchtete, dass sie sich in meinem Kopf besser zurechtfand als ich selbst, beherrschte ich mich sonst mit den auseinanderklaffenden Phrasen, vor allem wenn ich manchmal Dinge dachte, von denen ich hoffte, dass es niemanden gäbe, besonders nicht sie, den meine Gedanken interessierten, damit niemand ihnen folgen konnte hinter den verschlossenen Lippen. Ruckartig wandte sie mir ihr Gesicht zu, die Augen hatten dieses böse Blitzen, das ich sonst aus niemandes Augen kannte. »Wie kannst du so etwas sagen?«, tropfte es der Mutter träge aus dem Mund. Sie schälte gerade Kartoffeln. Sie hatte dasselbe über meinen Bruder gesagt, als wir klein waren und nach draußen rannten und er starb, weil er in die Jauchegrube stürzte. Ich versuchte ihren Blicken auszuweichen, dem Raum auszuweichen, sagte, ich würde nach draußen gehen, um den Rahm umzufüllen, der am Vorbau in großen Einmachgläsern stand. »Den Bruder …«, sie machte eine lange Pause, »… hast du auf dem Gewissen«, sagte die Urgroßmutter leise, und der Mutter fiel das Messer aus der Hand. Ich hatte nicht vom Bruder gesprochen, und sie hatte ihn in meinem Kopf dennoch gefunden. Ich drehte mich um: »Wie kann ich den Bruder auf dem Gewissen haben? Ich war so klein.« Ich deutete die Höhe an, von der ich glaubte, dass mein Kopf sie damals erreicht haben musste: sechs Sommer. Sie nickte: »Du hast ihm gesagt, dass er das Gleichgewicht nicht halten könnte, wenn er über den Donnerbalken ginge, und er ging.« Der Satz schien mehrere Minuten zu stehlen. »Nie habe ich das gesagt«, schrie ich und hoffte, mein übliche Wortgeschwindigkeit zu haben. »Du erinnerst dich nur nicht mehr«, murmelte sie, sich auf den Sessel neben dem Herd zubewegend, sich schwer fallen lassend. Sechs Sommer. Ich wiederholte, noch lauter: »Nie habe ich das gesagt.« Die Großmutter trat durch die Tür. Ich weiß noch, wie die Mutter damals, wie jetzt, am Tisch saß und die Urgroßmutter sagte, dass wir ihn nie mehr wiedersehen würden und die Mutter augenblicklich zu weinen begann, noch während wir nach draußen liefen. Die Stille jetzt war die gleiche. Die Großmutter sah mich an, als wollte sie sagen: Nicht, lass es sein. Trotzdem kicherte sie, wenn auch nur leise. Und ich fragte sie, ob ich es gesagt hätte. Ob ich was gesagt hätte, fragte sie zurück, und als sie begriff, worum es ging, antwortete sie: »Ich war nicht vor der Tür.« Auch die Mutter und Urgroßmutter waren nicht vor der Tür gewesen, wie konnte die Urgroßmutter wissen, dass ich es gesagt hatte, wenn sie nicht dabei gewesen war? Warum sollte ich mich denn an etwas, was sie gesagt hatte, vor zehn Jahren, besser erinnern als an etwas, was ich selbst gesagt haben soll? Ich wusste nicht, was es sollte und wie es dazu kommen hatte können. Ich wollte verschwinden, augenblicklich, ohne eine Spur zu hinterlassen, aber niemand war je aus Ostrov Mogila verschwunden. Ostrov, die Insel. Niemand war je gegangen. Dabei war es keine Insel, nur eine Lichtung im Wald, durch den man nicht schwimmen musste. Das ist die Welt, die wir kennen. Der Rest der Welt sei groß, laut und verwirrend. Das hatte uns der Fahrer des Lasters erzählt. Aber verwirrend war es doch auch hier, er sah es nur nicht.
Als ich noch ein Kind war, hatte die Urgroßmutter mich überzeugt, dass er nicht echt war, der Fahrer nicht und auch nicht seine Welt, dass es Dinge aus dem Wald waren, die er brachte, und die Geschichte mit den großen Städten hatte sich der alte Zar nur zum Spaß ausgedacht – eine Verschwörung der Aristokraten, damit Bauern ihr Land zurückließen, und ich hatte ihr geglaubt, jedoch nicht für immer. Der Fahrer, der alle paar Monate herkam und uns Kochtöpfe für Getreide gab oder Schuhe für Äpfel, hatte mich mit dem Mitgebrachten überzeugt, dass sie mich belogen hatte. Der Lastwagenfahrer, der sich weigerte, unser Klo zu benutzen, wenn er auch fast einen ganzen Tag blieb, mit uns aß und wartete, bis wir alles zusammengetragen hatten, was wir ihm gegen etwas anderes gaben. »Kein Papier?«, fragte er, als er das Plumpsklo sah, und die Urgroßmutter zuckte mit den Schultern und deutete auf den Stapel Moos neben dem Loch. Da machte er die Holztür wieder zu; er hatte sich dagegen entschieden. Ich überlegte angestrengt, zählte, wie viele Tage es her war, dass er zuletzt hier gewesen war. Es müsste doch heute sein. Ich zählte noch einmal nach. Heute würde er kommen. Heute war der Tag, an dem der Laster kam. Ich könnte wegfahren. Das hatte niemals jemand getan. Wegfahren und dann in der lauten Welt leben. Wo man Licht nicht nur aus schwarz verdreckten Lampen hatte, wenn es finster wurde. Wo es dünnes Papier für den Hintern gab und man nur Geld tauschte. Wo man nicht nur geblümte Schürzen trug. Ich könnte einfach verschwinden, dachte ich, und die Urgroßmutter murmelte: »Ich erzähle dir ein Geheimnis: Menschen verschwinden nicht – sie spazieren einfach zur Tür hinaus.« Die Großmutter kicherte. Ich blickte sie an. Dort würde es mehr Gegenstände und weniger Mütter geben. Nämlich gar keine. »Hachja«, kam es vom Tisch. Und es gäbe dort kein zerdrücktes »Hachja«. »Na, dann renn doch. Lauf davon«, knurrte die Urgroßmutter, obwohl ich nichts gesagt hatte, »aber denk nicht daran, deine Schuld hierzulassen, du wirst sie schön mitnehmen.« Das war es also, dachte ich, der Geburtsvorgang. Bis zu diesem Moment dachte ich, ich sei ein ewig ungeborenes Kind, das einzige Kind und daher ewig im Leib der Mutter, Großmutter, Urgroßmutter. Und die Urgroßmutter hatte entschieden, dass ich verschwinden sollte, ohne die Mutter und Großmutter freizugeben, und mir war nicht klar, wie das gehen sollte, aber bevor ich die Tür zuschlug, hörte ich die Urgroßmutter, die sich auf dem knarrenden Stuhl zurücklehnte, sagen: »Die geht nirgendwohin.« Aber ich würde gehen, und ob. Um genau zu sein, würde ich fahren, in dem laut brüllenden Laster würde ich davonfahren, und sie würden mich hier nicht mehr sehen. Ich stieg durch das offene Fenster in das Schlafzimmer. Zu viele Körper lagen hier nachts und ich überlegte, was ich mitnehmen sollte. Ich packte die Bürste, alle Kleidungsstücke, die ich besaß, und die alten Buntstifte, für die ich nie Verwendung gehabt hatte, die mir der Lastwagenfahrer irgendwann geschenkt hatte, und wickelte alles in die Schürze zu einem Bündel. Der Lastwagenfahrer würde schon zusehen, dass die laute Welt mich nicht überrollte. Dann würde eben die Großmutter wieder die Schweine füttern und die Mutter den Pflug in die Erde pressen. Die Katzen würden eine von ihnen anjammern können.
Ich ging zur Straße, deren Staub in der Sonne leuchtete, und hockte mich auf den breiten Baumstumpf, neben dem der Laster halten würde. Er würde keinen ganzen Tag hier warten, der Fahrer, er würde mich mitnehmen und liegen lassen, was er wollte, und wir würden gleich weiterfahren. Hinaus aus Ostrov Mogila. Mogila, das Grab, das uns alle nicht hergeben wollte. Die drei Häuser und vier Ställe hinter uns lassend. Die Sonne schlich über die Baumwipfel, als hätte sie nichts Besseres zu tun, und ich fragte mich, wo der Laster denn nun bliebe, denn er kam normalerweise immer früh, nach einer Nachtfahrt, und fuhr am Abend weiter. Mein Magen knurrte bereits. Ich hätte vielleicht ein paar Kartoffeln einpacken sollen, aber wie hätte ich denn in die Küche zurückgehen können? Sie lauerten dort, warteten, dass ich in das teigklebrige Küchennetz zurückkehrte, wie übergroße Spinnen. Dreimal acht Beine. Vierundzwanzig Beine, die darauf warteten, mich nach Ostrov Mogila gewaltvoll zurückzuumarmen. Ich wühlte mit meinen Füßen im heruntergefallenen Laub. Raschelte vor mich hin, bis ich ein anderes Rascheln hörte. Ich wusste nicht, was kommen und wo ich mich morgen befinden würde, daher erwartete ich, mich umzudrehen und einen Wolf zu sehen, obwohl wir seit Jahren, seit der Plage mit all den jammernden Wölfen, als wir die alten Schrotflinten zum ersten und letzten Mal nicht nur benutzten, um alte kranke Hoftiere zu töten, kaum mehr auf etwas schießen mussten. Ich blickte mich um, ob ich noch irgendwo erdige Fußspuren von festen Stiefeln sehen könnte, doch es hätten auch meine eigenen gewesen sein können. Ich drehte den Kopf, vielleicht war da ja auch eine richtige Gruppe Menschen, die nicht zur Grabesinsel, zum Inselgrab, gehörte, und ich musste aufpassen, sie nicht entsprechend meiner ersten Vermutung für Wölfe zu halten. Aber es war nur der Urgroßvater, der durch das Laub schlurfte, und ich richtete den Blick wieder nach vorne, auf die Straße. Die Sonne hatte schon ihren orangen Untergangsschimmer bekommen. Er hockte sich neben mich, der amputierte Baum war breit genug.
»Weißt du«, begann er, »ich würde gerne sagen, dass ich auch so dachte, früher, dass es etwas anderes geben müsste, etwas anderes als Ostrov Mogila, aber es wäre gelogen, und du würdest mir ohnehin nicht glauben. Ebenso wenig wie ich beweisen könnte, dass wir je jung gewesen sind, deine Urgroßmutter und ich.« Mir wurde in dem Moment klar, dass ich mit dem letzten männlichen Mitglied meiner Familie sprach und sagte: »Scheiße«, aber ich traf den Ton nicht, den Ton, den der Vater benutzt hatte, wenn ihm etwas auf die Zehen fiel oder das Fohlen ausgebrochen war. »Ich weiß«, fuhr er fort, »aus Scheiße kann man kein Gold machen, aus Scheiße macht man vielleicht«, er zuckte mit dem Kopf, »Erde.« Aber er wusste es nicht, er wusste nicht, was ich meinte, und ich verstand nicht, was er sagen wollte. Wir würden hier alle eingehen, das dachte ich und sagte daher »Scheiße«, weil es angebracht war. Der Sohn der Timofejewna war tot, mein Vater und Großvater waren tot, der Mann der Timofejewna war auch gestorben, über den ich früher eigenartige Gedanken hatte, von denen ich glaubte, dass sie aus dem Hirn der Timofejewna in meinen Kopf geraten wären. Die anderen beiden Kinder der Timofejewna lebten noch, und das Mädchen schien mit ihren weit auseinanderstehenden Augen nicht sehen zu können, dass wir drei die Letzten waren. Sie, ich und ihr Bruder, der nur drei Finger an jeder Hand hatte, und über den später Gedanken in meinen Kopf gerieten, von denen ich dachte, dass die Timofejewna sie besser nicht in meinen Kopf gespuckt hätte, aber die Urgroßmutter sagte ihm, er bliebe besser weg von mir und er folgte ihrem bösen Zauber. Die Zeit wäre schon reif gewesen für die Mutter oder die Großmutter zu gehen, endlich wegzufahren.
»Erinnerst du dich«, sprach er weiter, »bevor dein Bruder starb, habt ihr die Urgroßmutter gehasst, sie kam in die Küche und ihr habt einen Kübel Wasser über sie gegossen und wart erstaunt und entsetzt, dass sie nicht schmolz. Erinnerst du dich?« Aber ich erinnerte mich nicht, begriff auch nicht, warum die Urgroßmutter dann nur ihn in den Tod geschickt hatte und nicht gleich uns beide. Er sprach weiter: »Ihr hattet es in einem Märchen gehört, das die Großmutter erzählte, und die Idee ließ euch nicht los, sodass ihr zu zweit den schweren, schwappenden Kübel in die Küche schlepptet, der ganze hölzerne Boden war nass.« Die Großmutter hatte die Urgroßmutter also auch tot sehen wollen, kam es mir. Er sah mich aus schmalen Augenschlitzen an: »Weißt du, auch Zauberwesen wie sie können bluten.« Er schüttelte gutmütig, viel zu langsam, langsam wie die urgroßmütterlichen Worte, den Kopf. »Alles stirbt«, sagte er und wollte wohl altersweise klingen, »auch der Bruder. Nur Gott ist keiner noch gestorben, solange ich lebe.« Ich bemerkte, dass er denken musste, ich wolle wegfahren, weil ich Schuld hätte, am Tod des Bruders, aber das war nicht meine. Sie hatte also ihn geschickt, mich davon zu überzeugen, dass sie recht hätte. Aber war er vor der Tür gewesen? Vor der Jauchegrube? Als es passiert ist? Gewiss nicht. Niemand war da, außer mir und meinem Geschrei, als er stürzte. Die Urgroßmutter würde sich die Hände nicht weiter damit schmutzig machen, mich davon zu überzeugen, dafür hatte sie den Urgroßvater: zu tun, was sie selbst nicht tun mochte. So wie damals, als er den Hirsch tötete, unseren. Er war ein Kalb gewesen, als wir ihn fanden, und allein, und wir schlichen heimlich mit Kuhmilch in den Wald und er hatte einen Namen, und als die Urgroßmutter in den Wald ging, als er schon groß und mit einem mächtigen Geweih ausgestattet war, ging er auf sie los, stieß sie zu Boden und sie rief nach dem Urgroßvater, der mit einem Holzspieß auf das Geweih einprügelte, laut, wie klingende, hohle Stöcke. Ihm musste der Kopf wehtun, er hatte wohl gewusst, wen er mit der Urgroßmutter vor sich hatte, und er floh zurück ins Gehölz, und am Abend brachte der Urgroßvater ihn erschossen heim, legte ihn auf den Vorbau und die Urgroßmutter klopfte ihm auf die Schulter und schlug uns Kindern mit der flachen Hand ins Gesicht.
»Du bist genau wie sie«, fuhr der Urgroßvater fort, und ich blickte ihn an, versuchte, ihn meine Empörung spüren zu lassen. Denn ich war sicher, dass ich keine Mörderin war. »Du hast deinem Bruder versucht zu erzählen, dass du besser sehen könntest als er, besser als die Mutter oder die Großmutter und erst recht besser als die Urgroßmutter, und du könntest Geister sehen und ein großer schwarzer Hund würde ihm folgen, wohin er auch immer ging. Ob er dir glaubte, weiß ich nicht. Du bist genau wie sie.« Er hatte wohl endlich bemerkt, dass er mich damit beleidigte, und schlug daher eine andere Richtung ein: Nun begann die Ansprache des Urgroßvaters, die mich zum Bleiben bringen sollte, die Sonne war ein gutes Stück tiefer gerutscht: »Ich weiß nicht, wo Gott die Erde geküsst hat, aber hier, hier bei uns, hat er auf die Erde geschissen, denn hier wächst einfach alles. Wir brauchen sonst nichts. Nicht mehr als früher, aber auch nicht weniger.« Ich dachte daran, so fest ich konnte, wie ich in den Laster steigen und losfahren würde und vielleicht könnte man einfach weiterfahren, ohne je zu halten.
»Was erwartest du zu finden? Woanders? In Ostrov Mogila ist alles, was ein Mensch benötigt. Es gibt zu essen und es gibt zu tun«, sprach er weiter, was die Urgroßmutter ihm vor einem Jahrhundert erzählt haben musste. Als hätte sie eine unsichtbare Mauer um das Dorf gebaut, vielleicht wäre die Mauer auch zu sehen, wenn man nur weit genug weg wäre. Vielleicht hatte sie sogar einen Deckel gebaut und wir hatten es alle nicht bemerkt. Die Dämmerung war bereits angebrochen und die Luft wurde kühler und mein Magen knurrte immer noch. Das Knurren hatte die Rede des Urgroßvaters kaum gestört. »Heute ist doch der Tag, an dem er kommen sollte, nicht?«, ich wunderte mich, wo der Fahrer denn blieb. Er hätte schon den halben Tag hier sein müssen. Der Urgroßvater lächelte, stützte sich auf seinen Stock und erhob sich. Er hatte den Auftrag der Urgroßmutter offenbar ausgeführt. Sagte noch: »Sieh zu, dass sie sich nicht noch einmal daran erinnert. Wenn sie sich erinnert, ist sie meist schlecht gelaunt«, lächelte wieder und ließ mich dort sitzend zurück. Es wäre das erste Mal, dass der Fahrer nicht kam und ich hoffte, ich hätte mich im Tag geirrt und dass er morgen gewiss da sein würde, während ich die Wollweste aus dem Bündel holte und überzog.