Anousch Mueller, BERLIN (D)

Geboren 1979 in Erfurt, lebt in Berlin. Studierte Jüdische Studien in Potsdam und Neuere Deutsche Literatur in Berlin. 2007 schloss sie das Studium mit einer Arbeit über
Pathografische Tendenzen zum Schreiben Adalbert Stifters ab.

Die Autorin wurde von Meike Feßmann zum Wettlesen um den Ingeborg Bachmann-Preis eingeladen.

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Anousch Mueller: Foto: Marlen MuellerAnousch Mueller: Foto: Marlen Mueller

Anousch Mueller: Falunrot

vorgetragen bei den 37.Tagen der deutschsprachigen Literatur 2013
© Anousch Mueller

Es hatte sich eingeschlichen, zunächst nur als leichtes Kribbeln, das
allmählich in ein Jucken und schließlich in ein Brennen überging.
Am Morgen der Abfahrt war es bereits ein kleines, rotes, glasiges
Bläschen am oberen linken Lippenrand. Immer wieder fuhr ich mit
der Zungenspitze über die Stelle und ahnte doch, dass alles
Befeuchten nichts helfen würde. Es war da und es begann bereits
leichte Schmerzströme Richtung Wange, Auge und Hals
auszusenden.
Ich war dank meiner Hypochondrie medizinisch soweit aufgeklärt,
dass ich wusste, dass es zwei Möglichkeiten gab. Entweder heilte es
rasch ab, oder es würde sich tiefer in meinen Körper einnisten, die
Haut entlang wandern und mich matt und wehrlos machen. Meine
erste Wundrose und zugleich ein körperliches Fanal. Denn binnen
einer Stunde würde Leo klingeln, in bester Reiselaune, aber sehr
unduldsam, wenn mein Körper nicht widerstand. Und er widerstand
oft nicht in all den Jahren. Bereits bei unserer ersten Begegnung
versuchte ich im Rhythmus seiner überreizten Rede mitzuatmen,
hastete seinen Worten herzstolpernd hinterher und verfolgte seine
Gesten augenzuckend.
Noch ein paar Handgriffe und ich wäre reisefertig gewesen, doch ich
spürte, wie die Kraft schwand. Ich konnte nichts essen und
Appetitlosigkeit war mein Bocksgesang. Es ging nie gut aus. Bis vor
kurzem war ich ein psychiatrischer Grenzfall gewesen, doch in den
vergangenen Wochen hatte mich die Entscheidung stabilisiert und
innerlich aufgerichtet. Nun saß ich kränkelnd vor meinem Rucksack
und erwartete den Rückschlag wie den Schuss eines Geiselnehmers.
Angstvoll versuchte ich durchzuatmen – und merkte, dass es ging.
Zwar nicht befreiend, aber immerhin ohne Stocken und Blockierung.
Und auch der nächste Atemzug kam und ging regelmäßig und der
nächste und übernächste ebenso. Da begriff ich, dass das Virus, das
mich gerade heimsuchte, ein kluges Ablenkungsmanöver meines
hinterlistigen Körper-Seele-Bundes war. Es würde meine Ängste in
Schach halten, weil mein Körper die ganze Aufmerksamkeit
einfordern würde. Ich nahm die nun spürbar fortschreitende
Abgeschlagenheit also dankbar an.
Leo konnte seine Enttäuschung über meinen Zustand nicht
verbergen, verkniff sich zwar ein »Typisch!«, ließ aber spüren, wie
schwer ihm das fiel. Wir besorgten in der Apotheke ein Virostatikum
und hatten wenige Stunden später die Zeit, die mein Schwächeln
gekostet hatte, wie Leo betonte, wieder aufgeholt.
Während der Fahrt wurde ich immer hinfälliger. Über der Lippe
flammte und züngelte es inzwischen. Leo sah sorgenvoll aus, verhielt
sich aber nicht so und überging mein Siechen, indem er uns auf ein
neuerliches skandinavisches Abenteuer einschwor, wobei er so
rücksichtsvoll war und hervorhob, dass das behagliche Schweden
meinem instabilen Gemüt ganz sicher besser bekäme, als das ungleich
majestätischere Norwegen.
Ein Jahr zuvor hatte er mich den landschaftlichen Zumutungen
Norwegens ausgesetzt, und das, obwohl mir der kleine Kobold Angst auf der Brust saß und den Atem stahl.
Es war die unbarmherzig überwältigende Trias aus Stein, Wasser,
Holz, die mir arg zusetzte. Wohin das Auge sich auch wendet, es trifft
auf metallischgrauen Felsen, der oft genug die Täler zu lichtlosen
Einsiedeleien macht, auf Wasserfälle, die allerorts krachend aus
Gesteinsspalten hervorstürzen, auf Fjorde, die sich so weit ins
Landesinnere hineinschmuggeln, dass das jenseitige Ufer auf lange
Zeit unerreichbar bleibt sowie auf tiefe, dunkle Föhrenwälder.
Landschaft als Attentat. Meine Beklemmung wich nur jenseits der
Baumgrenze. Hier auf den glazialen Plateaus musste man gar nicht
selber atmen. Der Wind sog den Atem einfach aus der Brust und
nahm ihn mit sich fort in die Endlosigkeit seines Stroms. Ich stand
mit den Beinen fest auf dem Fjell, sah Moos und Gesträuch in allen
Farben des Universums aus der Kargheit des Gesteins
hervorschimmern und hielt der Verlassenheit der Tundra stand. Das
war keine Landschaft im Werden und Gehen der Jahreszeiten, das
war ein Überbleibsel der Uridee von Landschaft: Panoramablicke in
die Prähistorie. Gott war noch ganz jung.
Mit Auto, Zelt, Kajak und Trangia-Kocher reisten wir über die
Serpentinen von einem Ort zum nächsten, rastlos, staunend,
manchmal müde, mit den Fingern auf der Landkarte schon die
Strecke des kommenden Tages verfolgend, aber uns kein Stück näher
kommend. Die Reise war von Leo generalstabsmäßig geplant worden,
worüber ich froh war, was aber auch bedeutete, dass ich mich seinem
Regiment zu fügen und seinem unerbittlichen Rhythmus zu
unterwerfen hatte – das Los der Mittellosigkeit, denn schließlich war
Leo auch der Hauptfinanzier unserer Expedition. So sehr ich das
Zelten liebte, das Gefühl vom Himmel nur durch eine hauchdünne
Membran getrennt zu sein, so sehr sehnte ich mich zum Ende der
Reise hin nach einer Übernachtung in einer der zahllosen
Holzhütten. Ein einziges Mal nur wunderbar erschöpft in ein Bett
fallen und den Wind durch die Ritzen pfeifen hören! Doch Leo
kanzelte diesen Vorschlag mit dem Hinweis auf die Corps of
Discovery ab, die auf solche Bequemlichkeiten auf dem Weg zur
Entdeckung der amerikanischen Westküste auch haben verzichten
müssen. Ich nahm den Scherz wahr, aber auch die Botschaft: Keine
Schwäche, bitte.
Was er nicht ertrug, war die Symbiose durch Glücksempfinden.
Allzu oft war es der geglückte Augenblick, den er jäh zerstörte, so wie
ein einzelner unachtsam losgetretener Felsen ein Leben unter sich
begräbt.
Einmal beobachteten wir eine herumtobende junge Familie. Im
Gegenlicht sah man die Bewegungen des Spiels, eine immer und
überall gleiche Choreographie familiären Glücks. Nach dem Kind
haschen, es in die Luft werfen, auffangen, lachen, kuscheln. Leo
beobachtete mich scharf aus den Augenwinkeln. Bei ihm ging ein
innerer Alarm los, man sah, wie ein harmloses Programm abrupt
beendet wurde und ein neues, gefährlicheres gestartet wurde. So
sanftmütig er eben noch den gelungenen Tag gelobt hatte, so
abschätzig zischte er mir jetzt zu: »Ach ja, ist es das, was du willst?« Ich
sah ihn eine zermürbende Spanne lang in die Augen und wand dann
den Blick von ihm wie von einem hässlichen Tier.
Den Rest des Abends saß ich auf einer Schaukel, starrte auf den
Gebirgssaum und hoffte vergebens, dass das Licht bald dahinter
verschwinden und alles in Dunkelheit versinken würde. Aber es war
Mittsommer und es gab keine Hoffnung auf Flucht in die Nacht.
Damals begann ich mit meinen Schweige-Exerzitien, während derer
ich meine Abschiedsworte einstudierte.
Nach der Fahrt durch Dänemark, der Überquerung zweier
Seebrücken und einer endlosen Passage südschwedischer Wälder
erreichten wir gegen Mitternacht Ingarö, eine kleine Insel, die
gänzlich umschlossen von Schären war. Leo hatte ein Häuschen
gemietet, und im Schein der Straßenlampe sah man, dass es
zauberhaft war.
Am nächsten Morgen erwachte ich aus einem nervösen Schlaf und
spürte, dass mit meiner Körpermechanik etwas nicht stimmte. Die
linke Seite war wie drangsaliert. Als hätte man mich nur linksseitig
verprügelt. Beim Schlucken war es, als wäre über Nacht ein neues
Organ am Hals gewachsen, schwer und fast unüberwindbar für den
Reflex. Es fühlte sich anders an, als ich es vom Angstschlucken
gewohnt war. Es war ungleich physischer. Ich tastete nach meinem
Hals und erschrak. Unterhalb des linken Kiefers hatte sich eine
riesige Beule gebildet. Der Lymphknoten war so stark geschwollen,
dass ich den Mund kaum öffnen konnte. Meine Abwehr hatte also
einen harten Kampf zu führen begonnen. Dazu schmerzte das ganze
Gesicht, der Kopf linksseitig, die linke Schulter und die linken
Rippenzwischenräume. Die rechte Körperhälfte schien nicht
betroffen. Aber beide Hände waren rot und wund und durchzogen
von feinen Rissen aus denen es hauchzart blutete.
Leos Betthälfte war leer. Er hatte einen Zettel auf dem Kopfkissen hinterlassen: »Guten Morgen, bin joggen. Was für ein wunderbarer
Tag! Kuss.« Entweder hatte meine Verwandlung innerhalb kürzester
Zeit stattgefunden oder Leo waren meine Wundmale gar nicht
aufgefallen. Beides war auf seine Weise beunruhigend. Beim Versuch
aufzustehen, schwappte die Übelkeit wie in einem bewegten Gefäß
hin und her. Ich schwankte ins Bad, ein winzigkleiner Verschlag, und
sah im Spiegel das Ausmaß des Elends. Das Bläschen hatte sich zu
einem hässlichen Krustentier entwickelt, das schorfig-nässend an
meinem Gesicht herumfrass. Die Schwellung erzeugte eine
Spannung, die die Symmetrie des Gesichts verzerrte. Ich befeuchtete
einen Waschlappen mit kaltem Wasser und nestelte hilflos an der
Schwellung, den Rötungen und Schmerzpunkten herum. Ich maß
Fieber. 37,5 unbedrohliche Grad Celsius. Das gab mir die Kraft,
mich ein wenig frisch zu machen und mich anzuziehen, sofern das
mit den gebrandmarkten Händen möglich war. Immer wieder musste
ich kurze Pausen einlegen, um mit den weniger befallenen
Fingerspitzen weiter zu hantieren. Dann hörte ich Leos Stimme
fröhlich von der Tür her rufen: »Bin wieder da! Bist du wach, du
Schlafmütze?«
»Ich bin im Bad. Bin gleich soweit!«
Und schon ertönten die vertrauten Geräusche von Wasserkocher,
Kaffeemaschine, Toaster. Leo trällerte, ich kämpfte. Durch den
kleinen Spalt der Badezimmertür sah ich Leos Schatten hin- und
herwandern. »Es ist schön warm, wir können auf der Veranda
frühstücken. Hast du dir überhaupt schon das Häuschen angesehen?
Es ist wie für dich gemacht!« Ich atmete ruhig durch, dann trat ich
aus dem Bad Leo entgegen. Ein kurzer Moment der Irritation, noch
kein vollausgebildeter Schreck, das war seine gestische Antwort auf
meinen kümmerlichen Auftritt.
»Hui, da hat sich aber was entwickelt«, sagte er auf meine Lippe
deutend. Und als ich ihm den Hals mit der gigantischen
Lymphmurmel zudrehte, da erschrak er doch.
»Mann, Mann, Mann! Komm, iss erst mal was!« Er führte mich
durch das Schlafzimmer und den anschließenden Wintergarten auf
die kleine Veranda. Das Häuschen stand in einem großen,
spätsommerlich blühenden Garten. Jetzt sah ich den falunroten
Anstrich des eingeschossigen Holzhäuschens, das lieblich von
Gräsern und Ranken umwuchert wurde. Es war perfekt. Leo hatte
ein wunderbares Frühstück bereitet. Das Omelett war auf der
Unterseite knusprig gebräunt und auf der Oberseite noch von einem
hauchzarten Glibberfilm überzogen, in den feine Tomaten- und
Schalottenstückchen hineingeraspelt und mit den ebenso zarten
Sardellenstückchen verschmolzen waren. Wurst und Käse waren
nicht einfach angerichtet, sie bildeten mit den hauchdünnen
Paprikastreifen ein dekoratives Ensemble. Und inmitten des
Gedecks, das von bunten IKEA-Kaffeebechern und Saftgläsern
flankiert wurde, leuchtete die Obstschale. Schmetterlinge und
Libellen umflogen das Tischchen und die Wärme brachte die Butter
bereits zum Zerfließen.
In der Vollkommenheit dieses Augenblicks war ich die Aussätzige.
Es war meine Pflicht, mich zusammenzureißen. Jemanden, der ein
solches Frühstück auf der Veranda eines märchenhaften Cottage
bereitet, enttäuscht man nicht. Also überspielte ich mein
Unvermögen, den Mund für die Nahrungsaufnahme ausreichend zu
öffnen, mit humoristischer Gelassenheit. Leo sah mich etwas
bedauernswert an, versuchte aber auch einige Aufmunterungsparolen. Nach dem mir mühsam zugeführten
Frühstück fühlte ich mich tatsächlich ein wenig gestärkt. Die
Übelkeit war verschwunden und die Schwäche war einer
regenerativen Müdigkeit gewichen. Während Leo den Tisch
abräumte, schloss ich die Augen und träumte davon, einfach den
ganzen Tag in der nördlichen Sonne sitzen zu bleiben und meinen
Körper sein Gefecht gegen den Eindringling führen zu lassen.
Da hörte ich, wie Leo den Autoatlas Mittelschweden entfaltete.
Er breitete ihn über den ganzen Tisch aus und begann mit dem
Zeigefinger Routen zu ziehen. Er fuhr an der zerklüfteten Küste
entlang, deutete auf Schären, Inseln, Seen, Naturparks und wog eins
gegen das andere ab. Stockholm könnten wir uns für die kommende
Woche aufsparen. Es sei denn, ich wolle unbedingt noch an diesem
Tag nach Stockholm. Ich schüttelte langsam den Kopf. Gut, dann
also Natur pur. Wie wäre es mit einer kleinen Wanderung an der
Ostküste entlang? Ich nickte langsam.
»Sehr begeistert siehst du ja nicht aus!«
»Ich fühle mich nicht sonderlich gut.«
Leo atmete tief durch.
»Du möchtest also hier bleiben?«
»Nein, ich – entschuldige, ich muss mich kurz hinlegen.« Mir war
plötzlich schwindelig, die Knie sackten durch, in den Ohren dröhnte
es. Ich schleppte mich aufs Bett, zog einen Stuhl heran und lagerte
die Beine hoch. Nur einen Moment Ruhe, bitte, flehte ich.
Nach kurzer Zeit strömte das Blut wieder verlässlich vom Herzen in
die Peripherie und zurück. Leo stand unduldsam daneben. Ob wir in
einer halben Stunde los könnten? Es sei schon nach ein Uhr und
wenn wir noch etwas vom Tag haben wollten, dann sollten wir demnächst aufbrechen. Aber es stünde mir natürlich frei, hier zu
bleiben. Er könne auch ein wenig allein herumcruisen.
Dass ich mich nicht zur Wehr setzte, hatte inzwischen nichts mehr
mit Schwäche zu tun, sondern mit Nachsicht. Ich ertrug Leo nur
deshalb, weil ich noch eine Rechnung mit ihm offen hatte. Weil das
von Anfang an unsere Abschiedstournee war.
Am nächsten Tag waren zwar noch alle Wundmale da, der
Lymphknoten war jedoch auf Kirschgröße geschrumpft, und die
Körperhälften fühlten sich wieder einander zugehörig an. Ich war
dennoch zu schwach, um die Schönheiten Schwedens zu erbeuten.
Und an der Lippe würde eine Narbe zurückbleiben.
Es wäre die dritte Leo-Narbe. Die erste zog ich mir zu, als ich mit
einem seiner monströs geschärften Messer unter seiner rigorosen
Aufsicht einen Kürbis schnitt, vor Nervosität abrutschte und mir
dabei den Knochen des linken Zeigefingers freilegte. Die dritte war
die Folge eines kleinen Segel-Unfalls.
Ich saß damals im Outdoor-Outfit von Tchibo und mit zwei
Unterrichtsstunden Uni-Hochschulsport-Segelerfahrung in einer
Gaffel-betuchten-vier-Mann-Jolle, als mich unser Flottenadmiral Leo
an die Pinne ließ. Ich war sicher kein Naturtalent. Ich war vielleicht
sogar besonders ungeschickt. Mir fehlte das Gespür für die korrekte
Stellung der Segel zum Wind, ich hatte ja noch keine Ahnung von
Anluven und Abfallen, killenden Segeln, Leegierigkeit und
überhaupt schien der verdammte Verklicker durchzudrehen. Aber
mein nautisches Totalversagen war eine einzige Kapitulation vor der
fürchterlichen Autorität Leos.
Die Böen trieben immer unbarmherziger in die Segel und unser Boot somit in eine abenteuerliche Krängung. Es war kein Steuern
mehr, sondern ein hilfloses Fuchteln, als Leo mir die Pinne aus den
Händen riss, über mein linkes, nacktes Knie hinweg. Der Schmerz
war kurz und hart, das Blut trat augenblicklich aus der länglichen
Hautspalte, die irgendetwas hineingefurcht haben musste. Das Boot
zog augenblicklich wieder gleichmäßig übers Wasser und offenkundig
war meine Verletzung unspektakulär genug, um keine
Wundversorgungspanik aufkommen zu lassen. Der Rest der
Mannschaft befand sich bereits wieder in saumseliger Segelstimmung.
Es war ein Stück eines abgebrochenen, rostigen Metallstifts
unterhalb der Pinne, der mir das Knie aufgeritzt hatte.
Leo, der resigniert hatte angesichts meiner Verfassung, mutete mir
am übernächsten Tag nicht mehr als einen ausgedehnteren
Rekonvaleszenz-Spaziergang zu, und einen Tag später war ich in der
Lage, über die Klippen von Roslagen zu wandern. Ich nutzte die
Dämmerung zwischen Schwäche und Heilung, um mich zu
vergewisssern, dass Leo mir nicht allzu sehr fehlen würde. Ich würde
nur all jenes vermissen, das man an einem Menschen vermisst, der
gut in kleinen Dingen und großen Gesten ist.
In den folgenden Tagen erwanderten wir das Stockholmer Archipel,
machten immer wieder Rast, und beobachteten das baltische
Glitzern. Ich war genesen, wenn auch nach wie vor gezeichnet. Die
tiefe Schrunde über der Lippe machte mich unberührbar. Und mir
fehlte es an nichts. Ich war in einer Landschaft, die Gott in einem
gütigen Moment geschaffen haben musste, und atmete, als sei es das
Selbstverständlichste von der Welt. Der schleichende Liebesverlust machte mich zu einem glücklicheren Menschen. In all den Jahren
unterstand ich der Knechtschaft eines Tabus, das das Liebeswort
ebenso unaussprechlich machte wie den hebräischen Gottesnamen.
Und so, als wäre ihm der göttliche Zorn eingeflüstert, wütete Leo
stets wie ein Prophet, sobald ich zaghafte Versuche der Übertretung
wagte.
Vielleicht hatte ich Leo mit meiner Gebrechlichkeit angesteckt,
vielleicht witterte er etwas, jedenfalls wurde er von Tag zu Tag
vorsichtiger. Vorsicht war seine Zärtlichkeit. Er bekundete zögerlich,
dass ihm unsere Berührungen fehlen und dass er wohl nicht mit
einem Talent für Feingefühl gesegnet sei. Er habe in den vergangenen
Nächten wachgelegen und seinem Herzen gelauscht. »Ich habe da
einen Defekt« war seine Erkenntnis. Ich atmete durch und sagte:
»Schon gut.«
Das skandinavische Leuchten des Spätnachmittages goss sich
wärmend über unsere Veranda. Ich saß auf den Stufen und hatte die
Augen geschlossen. Ein roter Film bildete sich hinter den Lidern.
Wenn ich die Augäpfel rollte, wechselten die Farben zwischen Gelb,
Orange und Rot bis fast zu Schwarz. Leo setzte sich zu mir und
reichte mir eine Tasse frisch gebrühten Kaffee.
»Danke.«
»Man ist hier nicht weit von der Herrlichkeit entfernt«, raunte
Leo. Ich nahm einen Schluck und hörte ihm zu, wie er das Licht und
die Landschaft pries. Wie immer, wenn er sprach, war es, als zitierte
er aus einem Fundus ausgewählter Wörter und Wendungen, die er
irgendwann in einem langen Repetitorium auswendig gelernt haben
musste. Doch mir wurden seine Worte fremd. Es war soweit.

»Ich möchte dir etwas Großartiges mitteilen.«
»Oh, da bin ich aber gespannt. Sag jetzt nur bitte nicht, dass du
schwanger bist. Das wäre niederschmetternd.«
»Ich liebe dich nicht mehr.«
Da war sie, die Sekunde, von der aus keine andere Entscheidung
mehr möglich war, der Moment, an dem der Abzug betätigt wurde
und die Patrone unaufhaltsam ihrem Ziel entgegenflog. Ich hätte ihn
so gern eigenhändig niedergestreckt.
Leo prustete. Er tat so, als habe er sich an seinem Kaffee
verschluckt, aber ich hatte gesehen, dass die Tasse bereits vorher leer
gewesen war. Er stand von den Verandastufen auf und stellte sich vor
mich, so dass er mir die Sonne nahm und sich um seine Silhouette
ein Strahlenglanz bildete.
»Süße, jetzt komm’ mir bitte nicht so!«
Sein Gestikulieren zerhackte die Gloriole.
»Ich weiß auch gar nicht, was du hast. Ich habe mich die letzten
Tage echt zurückgenommen, obwohl du mir mal wieder
unglaublichen Frust mit deinen ewigen Wehwehchen beschert hast.
Aber ich habe mir gesagt: Gut, das gehört bei ihr inzwischen
scheinbar dazu, sowie Depressionen und Frigidität. Was solls,
immerhin können wir den Wolkenheeren und Lichtschächten noch
gemeinsam Poesie abgewinnen. Und jetzt quatscht du was von
Liebe!«
Er hatte sich inzwischen immer massiver vor mir aufgebaut und
sah mich finster und durchdringend an. Ich blickte ihm fest in die
Augen: »Ich fürchte, mehr habe ich nicht zu sagen. Ich habe dich
geliebt, und jetzt ist eben vorbei.« Er drehte sich aufgebracht weg und
bescherte mir einen epiphanischen Augenblick. Die Sonne stand jetzt so tief, dass die Wolken wie Flammensäulen vom Horizont aufragten.
Nach einer kurzen Verschnaufpause polterte Leo weiter: »Also jetzt
mal im Ernst: Welcher andere Ausweg bliebe dir denn, als solches zu
behaupten? Ich meine, wenn du jetzt von Deinem Love-Solipsismus
ließest, was bliebe dir denn dann? So verhuscht und nur sehr bedingt
präsentabel wie du unter Leuten bist! Mehr Aussicht als auf ein
kleinbürglich-ärmliches Idyll und lauter harmlose Dinge kannst du
doch eh keinem Mann bieten! Und wie bitte schön könntest du
deine lebenspraktische Unfähigkeit anders legitimieren als mit
Liebe?« Das letzte Wort seiner Litanei sprach er so verächtlich aus,
dass sich sein Gesicht zu einer peinlichen Fratze verzog.
Ich antwortete nichts. Ich schloss die Augen erneut und
überprüfte meine Vitalfunktionen. Sie funktionierten tadellos. Auch
wenn das Anfluten meines Zorns bis in die Schläfen pochte. Die
dutzendfach geprobte Abschiedsrede brachte die Zunge zum Zittern.
Beinah wären die Worte hervorgestürzt.
Aber ich sagte nichts, ich sagte einfach nichts. Ich sagte nichts in
den kommenden Minuten, nichts in den kommenden Stunden und
nichts den ganzen kommenden Tag lang. Und auch am übernächsten
Tag während unserer langen Rückfahrt schwieg ich ohne
Unterbrechung.
Leo war unruhig wie ein gereiztes Tier. Und das Auto war sein
Käfig, aus dem er nicht fliehen konnte. Er umkrampfte das Lenkrad
und hatte nichts als die durch die Straßenverkehrsordnung
begrenzten Möglichkeiten der Fußpedale, um sein Wüten abzuleiten.
Mal fluchte er, dass meine Reaktion arg unangemessen sei, mal
schimpfte er mit den Worten krank, bescheuert, Irrsinn.
Schließlich schwieg auch er. Ich harrte einfach aus, von einer Minute
zur nächsten. Aber ich musste mich nicht sonderlich anstrengen. Mir
fiel das Schweigen so leicht, wie einem Vögelchen das Singen.
So trennte ich uns, indem ich ihm jegliches Wort verweigerte. Das
Ende war eine Umkehrung des Anfangs, als er mich mit
unermüdlicher Rhetorik in seine Gewalt gebracht hatte. Ich aber
hatte ihn besiegt, indem ich ihn niederschwieg.