Joachim Meyerhoff (D), WIEN
Der Autor wurde von Hildegard Elisabeth Keller zu den TDDL 2013 eingeladen.
Joachim Meyerhoff: Ich brauche das Buch
vorgetragen bei den 37.Tagen der deutschsprachigen Literatur 2013
© Joachim Meyerhoff
Trotz der vielen Menschen, die sich durch die mehrstöckige Buchhandlung am Münchner Marienplatz schoben, trotz ihrer wegen der Hitze im Inneren aufgeknöpften Wintermäntel und voluminös klaffenden Daunenanoraks und trotz der sehr tief, nur auf Kniehöhe, angebrachten Regalablage, sah ich den aufrecht positionierten, glänzend schwarz eingeschlagenen Fotoband schon von Weitem. Entdeckte von fern ein langes Bein und eine im Dunkel des Umschlags schwebende blonde Frisur. Auf meinem Weg quer durch den Laden kreuzten immer wieder Kunden meinen Blick, wurde ich angerempelt oder musste ausweichen, und doch vermochte kein Kopf, kein Hut oder hochgeschlagener Kragen die Anziehungskraft des Buches auf mich zu brechen. Die Strahlkraft des Einbandes war so stark, dass er durch die Körper hindurch leuchtete. Selbst dicke Bäuche und vollgestopfte Einkaufstaschen durchglühte er. Ich sah nur noch ihn.
Als ich den Fotoband erreichte, ging ich in die Hocke. In roter Schrift prang-te im Schwarz: „Life – das zweite Jahrzehnt. (1946 – 55)“ Die Frisur und die Beine gehörten zusammen, waren so gekonnt ausgeleuchtet, dass sie für sich standen, dennoch erkannte ich nun auch den restlichen Körper der dazugehörigen Frau. Das, was ich von weitem für ihre Beine gehalten hatte, waren sogar nur ihre Unterschenkel gewesen. Unendlich lang glitten ihre Schienbeine, mit jeweils vollendet geschwungenem Spann, in die Schuhe hinein. Ihr Gesicht war hinter den weichfallenden Haaren verborgen. Eine blasse Hand lag vornehm, wie tot, auf der graugroben Sessellehne. Ich meinte sofort zu begreifen, was das Besondere an dem Bild war: Eine gesichtslose Frau, in bezaubernde Einzelteile zerlegt, in Schönheit zerfallen.
Da die Buchstaben leicht erhaben wirkten, fuhr ich mit meinen Fingerkup-pen darüber, fühlte aber nur Glätte. Vorsichtig nahm ich das Buch vom Re-gal und schlug es mittig auf. Noch oft wunderte ich mich im Nachhinein darüber, dass ich gleich mit diesem ersten Aufschlagen auf die Seiten stieß, die unter hunderten von Bildern jene bleiben sollten, welche mich am meisten faszinierten. Da ich mit weiteren Darstellungen von Schönheit und Anmut gerechnet hatte – meine Sehnsucht nach Eleganz kam fast einer Besessenheit gleich, war aber leider vollkommen unerfüllt – traf mich das nun aufgeschlagene Foto brutal unvorbereitet.
Im ersten Moment begriff ich überhaupt nicht, was ich da sah. Eine Fotose-rie von jeweils vier Bildern pro Seite. Unter jedem Foto ein Kommentar. Bevor ich las, betrachtete ich die Aufnahmen. Ein schrecklicher Anblick. Eine abgemagerte Hyäne leckt an ihrem haarlosen Bauch eine klaffende Wunde. Im zweiten Bild beginnt sie an den Wundrändern zu knabbern, im Dritten zu zerren, im Vierten zieht sie sich mit ihren gewaltigen Eckzähnen einzelne Hautfetzen vom Bauch. Blut rinnt in den Sand. Sie steckt ihre Schnauze tief in die Wunde. Das Hyänengesicht verschmiert mit Blut. Auf dem siebten Bild ist ihr gesamter Kopf verschwunden im eigenen Leib. Es sieht aus, als läge sie auf einem tiefroten Teppich, ausgebreitet für sie, ausgerollt über den hellgelben Sand. Das achte und letzte Bild: ein Zeitsprung. Das in sich verkeilte Tier, tot und vertrocknet in der unwirtlichen Landschaft. Das räudige Fell ledrig gespannt über die hervortretenden Rippen. Entlang des gekrümmten Rückens an den Kadaver geschmiegt eine Sandverwehung. Die Unterschriften sind kurz und lapidar. Ich überfliege sie: „Eine verletzte Tüpfelhyäne in der senegalesischen Steppe“ und „Die Hyäne nimmt ihre Witterung auf“ und „Der Geruch von Blut weckt ihren Hunger“ und „Die Beißkraft der Hyäne ist einzigartig“ und schließlich „Ihr Fressinstinkt war größer als ihr Schmerz“.
Minutenlang kauerte ich am Boden der Buchhandlung, sah mir die gesto-chen scharfen Bilder an. Entdeckte weitere Details. Auf einem der Bilder war der gierige Blick des im blutigen Kopf steckenden Auges auf den Be-trachter gerichtet. Die Hyäne sah mich direkt an. Auf einem anderen Bild zogen weit im Hintergrund schemenhaft andere Hyänen vorbei, ihre Sil-houetten von der Hitze zerflimmert.
Ich klappte das Buch zu, stellte es aufrecht zurück in die kleine Plastikstütze und verließ die Großbuchhandlung. Doch schon am darauffolgenden Tag kauerte ich wieder vor dem Regal. Foto für Foto blätterte ich den Band durch, bis mir die Knie weh taten und ich kaum noch aufstehen konnte. Bilder über Bilder. Ich fand heraus, dass die herrlichen Schienbeine auf dem Einband Marlene Dietrich gehörten. Sah Fotografien von Musikern und Hollywoodstars, Politikern und Sportlern. Szenen aus dem Alltag eines amerikanischen Landarztes. Wie er versucht, einem von einem Pferdehuf am Kopf getroffenen Mädchen das Leben zu retten. Mit dickem, schwarzem Garn ist die Wunde des Kindes frisch vernäht, läuft quer über die geschwollene Stirn. Wie er den zusammenbrechenden Eltern mitteilt, dass das Kind nicht mehr zu retten ist, dass es sterben wird. Wie die Farmersfamilie erstarrt, erschöpft um das Bett herumsitzt. Das tote Kind. Der Landarzt, der lässig auf der Veranda eine filterlose Zigarette raucht, während ihm sein Mundschutz wie eben herabgestreift noch um den Hals hängt.
Bilder über Bilder. Und immer wieder meine Hyäne. Plötzlich bemerkte ich, dass ihr auf Bild vier ein Fangzahn fehlte den sie auf Bild drei noch hatte. Da kam es mir plötzlich so vor, als würden sich die Fotos durch mein genaues Betrachten verändern, so als hätte sie mein Blick in Bewegung versetzt.
Ich blätterte vor und zurück und stieß auf zwei weitere Fotos, die ich nie mehr vergessen sollte. Auf der rechten Seite der zweiundzwanzigjährige Truman Capote, genauso alt wie ich also, und auf der linken Seite Carson McCullers, von der ich noch nie gehört hatte. Truman Capote saß in einem rätselhaft überbordenden Interieur – etliche abstrakte Gemälde an den Wänden, Blumen über Blumen –, lässig die Zigarette in der Hand, und seine Augen sahen mich an, so abgeklärt, so stolz und souverän, wie ich es für einen Zweiundzwanzigjährigen nie für möglich gehalten hatte. So ein Blick, so eine großartige Mischung aus von oben herab und doch empfindsam war mir gewiss noch nie gelungen. Carson McCullers sah abenteuerlich aus. Pausbäckig, aufgedunsen. So, als hätte sie Mumps und die ganze Nacht gesoffen. Auch sie rauchte. Auf dem Tisch lag ein zerfingertes Päckchen Lucky Strikes. Sie war alles andere als schön und doch gefiel sie mir, ihre dunklen Augenringe waren verheißungsvolle Zeichen eines ausschweifenden, extrem geführten Lebens. Bilder über Bilder.
Wieder kam ich kaum aus der Hocke hoch und meine Knie knirschten. Ich ging zu den Romanen hinüber, kaufte mir „Uhr ohne Zeiger“ von Carson McCullers und las den Rest des Tages und die halbe Nacht vom stillen Ster-ben des Kleinstadt-Apothekers Malone.
Bis heute ist mir meine Entscheidung, den Fotoband nicht zu kaufen, son-dern ihn zu klauen, ein Rätsel geblieben. Es wäre ein Leichtes gewesen, zu meinen Großeltern nach Nymphenburg hinauszufahren und zu sagen: „Ich habe einen so wunderbaren Fotoband gesehen. Aber leider im Moment nicht genügend Geld.“ Meine Großeltern hätten sich angelächelt und gefragt: „Wie teuer ist der denn?“ Der von mir genannte Preis hätte sie nicht im Mindesten überrascht oder gar erschreckt. Wer Pinienkerne für acht Mark das Döschen kauft, um damit Rotkehlchen zu füttern, dem können achtundvierzig Mark für einen Fotoband kaum mehr als ein liebevolles Nicken entlocken. Aber ich wollte und konnte sie nicht fragen.
Ich wollte daran glauben, dass ich keine andere Wahl hatte, als das Buch zu stehlen.
Auch hatten sie mich aus einer heiklen und noch dazu selbstverschuldeten finanziellen Notlage gerettet. Es war gar nicht lange her, da hatte ich in der Münchner U-Bahn ein einschneidendes Peinlichkeitserlebnis gehabt: Um bei eventuellen Kontrollen ungeschoren davon zu kommen, hatte ich mir ein Pseudonym zugelegt. Schon lange hatte ich mich nach einem anderen Namen gesehnt. Da mein zweiter Vorname „Philipp“ und mein dritter Vor-name „Maria“ ist, mein Geburtsort Homburg im Saarland und ein klitzeklei-nes „von“ das ganze theaterhistorisch zum Klingen brachte, nannte ich mich „Phillip Maria von Homburg“. Wochenlang fuhr ich mit diesem schillernden Pseudonym unkontrolliert in der Münchner U-Bahn kreuz und quer durch die Stadt. Auch die Adresse hatte ich mit Bedacht gewählt. Beste Gegend, unmittelbar neben meinen Großeltern in der Kriemhildenstraße 12 in Nymphenburg.
An einem Dienstag war es dann so weit. Mit tumber Unauffälligkeit betraten drei Kontrolleure in Pseudozivil die U-Bahn. Kaum hatten sich die Türen mit einem pneumatischen Schnaufer geschlossen, riefen sie: „Fahrkarten bitte!“ Gelassen wartete ich und spekulierte darauf, dass es höchst unwahrscheinlich war, dass sich die Kontrolleure die Mühe machten, jemanden, der sich nicht ausweisen konnte, mit auf die Wache zu nehmen. Der Kontrolleur sprach mich an. „Dürfte ich bitte Ihre Fahrkarte sehen.“ Ich begann zu suchen, schüttelte Erstaunen mimend den Kopf. Fuhr mir mit den Händen mehrmals in die Taschen und murmelte: „Das gibt’s ja nicht.“ Schließlich sagte ich „Tut mir leid, ich hab leider meine Portemonnaie nicht dabei.“ „Ihren Ausweis bitte!“ „Tut mir leid, den hab ich auch nicht dabei.“ „Dann muss ich Sie mit auf die Wache nehmen.“ „Ach wie ärgerlich. Da kann man wohl nichts machen. Dann muss ich eben mitkommen.“ Er zog einen Block heraus. „Name?“ Endlich war es soweit. „Phillip Maria von Homburg.“ Und tatsächlich sah ich, wie ein subalterner Reflex durch seine Augen blitzte, so ein klitzekleiner unterwürfiger Funke. Langsam, umständlich trug er die Buchstaben ein, und es schien mir, dass er es grundsätzlich als einen Nachteil seiner Profession empfand, deutlich schreiben zu müssen. „Adresse?“ Ich buchstabierte. „Geboren?“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Das hatte ich vergessen. Aber das sollte mich jetzt nicht mehr aus der Fassung bringen. Gelassen antwortete ich. Gab irgendein Datum an. Er nickte, hielt mir den Strafzettel hin, und ging ohne noch ein Wort zu sagen, zum nächsten Fahrgast.
Ich hatte es tatsächlich geschafft, hatte skrupellos und gut gelogen und war nicht einmal besonders nervös geworden. Stolz saß ich in der U-Bahn. Da stand er plötzlich wieder vor mir, sah auf seinen Block und fragte: „Wann sind Sie geboren?“ „Bitte was?“ „Wann Sie geboren wurden?“ „Das hab ich Ihnen doch schon gesagt.“ „Ich würde es aber gerne nochmal hören!“ Mir wurde augenblicklich schlecht. Ich überlegte. Was hatte ich nur gesagt? Ich hatte keine Ahnung mehr. Sehr leise antwortete ich, leider sogar mit einem unüberhörbaren Fragezeichen am Ende: „Mitte März?“ Er trat nah an mich heran und fragte „Wann genau?“ „Äh- so - zwölfter?“ Da hatte er mich schon am Arm gepackt und von der Bank hochgezerrt. Untergehakt schoben sie mich den Bahnsteig entlang. Das sah nicht gut aus für Phillip Maria von Homburg. Ich musste mit auf die Wache und ein dreifaches Strafgeld wegen Falschangaben zur Person zahlen, welches dann meine Großeltern auslegten, ohne je zu erfahren wofür.
Es gab noch einen weiteren und letztlich wohl entscheidenden Grund für meine Absicht, den Fotoband nicht rechtmäßig zu erwerben: Ich wollte der Bedeutung, die die Bilder für mich in den letzten Tagen bekommen hatten, etwas entgegensetzen, das ein wenig Größe hatte, ein Wagnis war, und mich so durch den Diebstahl wenigstens ansatzweise als ein den Fotogra-fien Ebenbürtiger erweisen. Ich wollte nicht mit großbürgerlichem Großel-terngeld bezahlen! Ich wollte auf eigenen Füßen stehen und stehlen gehen. Hunderte von abenteuerlichen Bildern auf abenteuerliche Weise in meinen Besitz bringen.
Und so begann ich, meinen Raubzug zu planen. Ich schlenderte mehrere Tage, bibliophile Verträumtheit vorschützend, durch die Etagen der Buch-handlung, beobachtete dabei aus den Augenwinkeln heraus die Verkäufer, suchte die Decken nach Spiegeln oder Kameras ab, zählte die Schritte vom Fotoband bis zur Treppe, vierunddreißig, die Anzahl der Stufen hinab ins Erdgeschoß, vierundzwanzig, und die wenigen Schritte bis zum Ausgang, zwölf. Da mir ein gerammelt volles Geschäft von Vorteil schien, entschloss ich mich, an einem verkaufsoffenen Samstag zuzuschlagen.
Zur Vorbereitung schloss mich in meinem WG-Zimmer ein und trainierte das unauffällige Einstecken von Büchern unter den Pullover. Viel Mühe verwandte ich auf die Auswahl der idealen Kleidung. Schließlich wählte ich einen abgetragenen Lammfellmantel meines Großvaters und darunter einen dickwollenen sogenannten Troyer, einen Seemannspullover, den ich aus meiner norddeutschen Heimat mit nach München gebracht hatte. Ich übte das Verschwindenlassen des Fotobandes mit meinem alten Schulatlas. Stellte ihn auf die Bettkante, bückte mich, sah ihn mir an, ging in die Hocke, lüpfte leicht den Pullover, ließ ihn darunter gleiten, zog den Bauch ein, schob ihn hinter den Hosenbund, spannte die Muskeln an und stand wieder auf. Das ging gut. Dadurch, dass ich meinen Bauch gegen den Atlas presste, hielt er optimal. Unter dem Troyer war die Buchkante kaum zu erkennen. Wenn ich den Lammfellmantel schloss, war er zu hundert Prozent verborgen. Mit dem so vom Bett entwendeten Atlas ging ich im Zimmer herum. Ich konnte die Arme frei bewegen, sogar den Spiegel von der Wand nehmen, konnte völlig unbeeinträchtigt, die Buchhandlungstreppe simulierend, auf das Bett und wieder hinunter steigen. Der in der Wärme an den Bauch gedrückte Atlas fühlte sich großartig an. Wie ein Teil von mir, wie in mein Inneres gerutscht, sicher und geborgen.
Die WG, in die ich erst vor wenigen Wochen eingezogen war, hatte sich zu meinem großen Bedauern als nichts anderes als eine Zweckgemeinschaft entpuppt. Rechts von mir wohnte eine Zahnarzthelferin, die sich jeden Morgen ab sieben deftige Fleischgerichte briet, um sie später in der Praxis in die Mikrowelle zu schieben. Jeden verdammten Morgen ab sieben: Schnitzel, Schaschlik, Cevapcici. Und jeden Morgen schlängelte sich ein Ge-ruchstentakel aus ihrer Pfanne heraus durch den Flur, durch mein Schlüs-selloch, direkt in meine Nasenlöcher hinein. Mein anderer Mitbewohner war ein Schwabe, der ein Doppelleben führte. Tagsüber arbeitete er bei Siemens im Marketing der Rüstungsabteilung, schrieb Skripte für Panzer-werbespots, und abends kellnerte er im legendären Schlachthof und war mit allen Kabarettisten per du. Wir alle wechselten kaum je ein Wort mitei-nander und schlossen stets die Türen unserer Zimmer ab, sowohl, wenn wir da waren, als auch, wenn wir nicht da waren.
In der Nacht von Freitag auf Samstag schlief ich miserabel. Mal sah ich mich mit nach hinten gedrehtem Arm in einem Kabuff von Polizisten umstellt, weinend und stotternd, mal mit dem Buch am Bauch überheblich durch das Geschäft flanierend und als Höhepunkt der Hybris sogar noch rechtmäßig ein Reclam-Heftchen käuflich erwerbend. Kaum hatte ich meinen Plan als unmöglich und schwachsinnig verworfen, tauchten all die herrlichen Fotografien wieder auf. Liz Taylor mit sechzehn, Audrey Hepburn ganz privat in einem Männerpyjama-Oberteil. Capotes fordernder Blick. Ich hatte keine Wahl.
Ich betrat die Großbuchhandlung etwas früher als geplant. Hatte mich durch hunderte Schaulustige gekämpft, alle die Köpfe erhoben, zum Glo-ckenspiel des Rathauses aufblickend. Die Sonne schien und föhnwarme Luft wehte über den Platz. Im Inneren des Geschäfts war es angenehm kühl. Leider war es nicht ganz so belebt, wie ich mir erhofft hatte. Ich erreichte den Stapel mit den Fotobänden im ersten Stock, hatte mir fest vorgenommen, einen der ungeöffneten, noch jungfräulich eingeschweißten Bildbände zu entwenden und nicht etwa das von zig Kunden ab- und durchgegrabbelte Ansichtsexemplar. Ich knöpfte den Lammfellmantel auf und ging in die Hocke. Ein kurzer Blick nach rechts, dann nach links. Nicht weit entfernt von mir sortierte eine Verkäuferin Bücher auf einen Stapel. Tief drinnen, warm eingepackt unter dem Seemannspullover, raste mein Herz, raste auf und davon. Ich holte Luft, sah mich abermals um. Die Verkäuferin hatte sich abgewandt, stand jetzt mit dem Rücken zu mir. Aber es war einfach zu wenig Kundschaft um mich herum. Völlig ungeschützt hockte ich vor dem Stapel, ausgesetzt wie auf einer Lichtung. Da entdeckte ich oberhalb einer der Bücherwände einen langgestreckten Spiegel, der mir noch nie zuvor aufgefallen war. Gab es nicht solche Überwachungsspiegel, die von der einen Seite blickdicht, von der anderen aber sehr wohl durchsichtig waren? Wurde ich vielleicht genau in diesem Moment in aller Seelenruhe beobachtet? In Banken, das wusste ich, konnte man mit einem einzigen Knopfdruck alle Türen verriegeln.
Ich stand auf, mir wurde schwindelig. Eigenartiges Gefühl. Als hätte ich Fe-dern gegessen, Daunen in den Knien. Ich war viel zu warm angezogen. Um mich herum trugen alle leichte Jacken oder Blousons. Kein Mensch rannte an diesem Samstag mit Wollpullover und Lammfellmantel herum. Ich ging ein paar Schritte und setzte mich in der Architekturabteilung auf ein wuls-tig gelbes Lesemöbel. Jeder, der an mir vorbei kam, schien mich anzusehen, mich zu mustern, jedem schien ich merkwürdig vorzukommen. Und die, die mich nicht ansahen, da war ich mir sicher, taten es aus Kalkül. Je mehr ich mich um Unauffälligkeit bemühte, desto auffälliger wurde ich. Mein Kopf glühte, kam mir so vor, als würde er rot leuchten, vielleicht sogar blinken. He, schaut alle her, hier sitzt ein Meisterdieb! Bitte, bitte verhaftet mich! Komischerweise hatte ich heiße Füße. In meinen klobigen Winterstiefeln rieben sich feucht die Zehen aneinander, ja es kam mir fast ein wenig rutschig dort drinnen vor. Ein ständig seine Form veränderndes Tropfentierchen krabbelte wässerig meine Wirbelsäule hinunter. Wieder dachte ich an diesen herausfordernden „Nichts kann mir gefährlich werden“-Blick des gleichaltrigen Truman Capote und dann: Jetzt oder nie! Los! Jetzt oder nie!
Ich stand auf, lief zielstrebig zurück - mehr Menschen um mich herum, Gott sei dank endlich mehr Menschen - ging abermals in die Hocke - die Bücher einräumende Verkäuferin war verschwunden - nahm den eingeschweißten Fotoband, schob ihn gekonnt unter den Pullover, zog den Bauch ein und ließ ihn in die Hose gleiten. Leider erwischte ich zusammen mit dem Bund der Hose auch den der Unterhose, so dass das Buch, um einiges dicker als der Schulatlas, nun komplett am nackten Bauch anlag und hinunter bis zum Schamhaar reichte, mir – ja, wie nennt man das – auf die Schwanzwurzel drückte. Egal. Ich spannte den Bauch an und stand auf. Gelassen knöpfte ich mir mit zitternden Fingern den Lammfellmantel zu. Vierunddreißig Schritte durch das Gewühl zum Treppenabsatz. Besonders bemühte ich mich darum, keinen starren Blick zu bekommen. Das hatte ich ja gelesen, das war das Haupt-Augenmerk für Kaufhausdetektive: der starre Blick der Ladendiebe! Also locker die Augen rollen und bloß nicht zu schnell werden, bloß nicht die Zügel schießen lassen. Jetzt noch vierundzwanzig Stufen hinab und dann noch zwölf weitere Schritte bis zum rettenden Ausgang. Bei jedem Schritt auf der Treppe rutschte der gewichtige Fotoband an meinem schwitzigen Bauch weiter hinab und drückte mir mit seinen scharfkantigen Ecken unangenehm in die Leisten. Ich versuchte trotzdem, möglichst normal zu gehen. Kurz bevor ich die Schiebetür erreichte, sackte das Buch noch etwas tiefer. Ich konnte nur noch winzige Schritte machen und trippelte, weiter um Unauffälligkeit bemüht, hinaus ins Freie.
Ich hatte auf eine frische Brise gehofft, doch das Gegenteil erwartete mich. Föhnluft wehte mich an und nun brach mir auch auf der Stirn der Schweiß aus. Ich taumelte Schutz suchend ein wenig in die Menschenmenge hinein und blieb stehen. Behutsam öffnete ich einen Knopf des Mantels und legte meine Hand auf die Hose. Die Buchkante war weit unterhalb des Hosen-schlitzes. Ich zog den Bauch ein und schob sie mit den Fingern von außen durch den Stoff hindurch wieder nach oben. Da griff jemand vehement in das Fell meines Mantelkragens. Die Wucht des Zugriffs warf mich herum. Unmittelbar vor mir stand ein Mann meiner Größe. Blaues Hemd, schmale schwarze Krawatte. Er zerrte an meinem Lammfellkragen. Passanten blie-ben stehen, wandten sich um. Er zog mich nah zu sich heran. Er trug eine rote Brille und unter der Unterlippe einen winzigen ergrauten Bartzopf der mit einem ebenfalls roten Gummiband zusammen gezwirbelt war. Eingefallene Wangen, hager, asketische Gesichtszüge. Wieder zog er an meinem Kragen, zerrte mich zurück Richtung Eingang der Buchhandlung.
Da überwältigte mich die Scham. Eine in dieser Stärke noch nie zuvor erlebte Wallung schoss mir durch den Nacken in den Kopf. Mit einer mich selbst überraschenden Wildheit schlug ich seinen Arm beiseite. Als sich seine verkrallte Hand aus dem Lammfell löste, gab es ein rupfendes Geräusch. Ich war frei und rannte los, rannte, Passanten wegschubsend, direkt hinein in das Gewühl der Einkaufsstraße. Befeuert vom bohrenden Gefühl des Erwischt- und Ertapptwerdens, raste ich davon. Magische Umwandlung von Scham und Peinlichkeit in reine Fluchtenergie und Geschicklichkeit. Ich sprang seitwärts, verdrehte den Oberkörper, schlängelte und flipperte mich durch die Masse, stieß mich von Schultern ab und tänzelte durch das Menschenmeer. Mit aller Bauchmuskelkraft presste ich währenddessen das Buch gegen den Hosenbund. Alles ging gleichzeitig. Ich war ein Koordinationswunder auf der Flucht. Ich türmte in eine Seitengasse, kam zur Frauenkirche und drückte mich in eine Mauernische. Die Schwere der Steinmassen in meinem Rücken tat gut und ich blickte mich um, überzeugt davon, ihn längst abgehängt zu haben. Doch da war er. Keine zwanzig Meter entfernt trabte er locker auf mich zu. Die rote Brille, das entspannte Gesicht mit den trotz wilder Verfolgung unerschütterlich nach hinten gegelten Haaren. Ich verbarg mich in der Nische, beugte mich ein wenig vor. Er hatte mich bereits entdeckt. Fast teilnahmslos erschien mir sein stoisch auf mich gerichteter Blick. Er kam näher. Ich stieß mich von der Kirchturmmauer ab und rannte wieder los. Kurz bevor ich meine Nische verließ, war mir noch eine verwitterte lateinische Inschrift aufgefallen: Vacare culpa magnum est solacium. Darüber das abgasgeschwärzte Halbrelief eines aufs Rad Geflochtenen.
Ich rannte. Dieser scheiß Lammfellmantel. Was für eine hirnverbrannte Idee. Der Schweiß lief mir in die Augen und die Buchkanten bohrten sich mit jedem Schritt weiter ins Fleisch. Kein Mensch konnte so laufen, ge-schweige denn anständig fliehen. Ich kam an einem Brunnen vorbei, an dem Touristen saßen, die erstarrt wie Leguane ihre Gesichter in die Sonne hielten. Ich stolperte über einen Rucksack, fing mich im letzten Moment und trudelte weiter. Immer wenn ich mich umsah, war da dieser locker joggende Kerl mit seiner leuchtend roten Brille. Der war eindeutig kein Beschleunigungs-Jäger, kein Gepard, der kurz mal Gas gibt, alles auf eine Karte setzt, seine Beute niederreißt oder ziehen lässt. Der war ein ausdauernder Hetz- und Ermattungsjäger.
Ich stieß wieder auf die Haupteinkaufsstraße und kämpfte mich weiter vo-ran. Meine Kräfte schwanden. Der Rücken klitschnass. Ich bekam einen Bauchmuskelkrampf vom ständigen Buch-an-den-Bund-pressen. Während ich rannte, knöpfte ich mir den Mantel auf und riss den Fotoband heraus. Das war jetzt auch egal. Genau in dem Moment, als ich etwas Hoffnung schöpfte, einen guten Fluchtrhythmus gefunden hatte, sauste wieder diese Pranke auf mich nieder und grub sich in meinen Pelzkragen. Da ich unbeirrt weiter rannte, glitt mir der Mantel von den Schultern. Hinunter vom einen Arm, ich wechselte das Buch, hinunter vom anderen. Damit hatte der Wolf nicht gerechnet, dass das Lamm einfach aus seinem Pelz schlüpft. Was für eine Befreiung. Ich beschleunigte und war mir sicher, ihn jetzt endgültig abschütteln zu können. Doch da war er schon wieder. Keine fünf Schritte hinter mir. Nur noch knapp fünfzig Meter bis zum U-Bahn-Eingang Stachus.
Ich hatte die Rolltreppe fast erreicht, als mir jemand mit voller Wucht von hinten die Beine wegtrat. Ich strauchelte und stürzte in einen der für Mün-chen typischen Zeitungskästen zur Selbstentnahme hinein. Knallte mit dem Kopf gegen das Abendblatt und ging samt Kasten zu Boden, der scheppernd auf mich niederfiel. Ich sah auf. Da stand er. Sah mich durch seine rote Brille an. Er schien kaum außer Atem. Sein Blick war beunruhigend, flackerte besessen. Ich klammerte mich an mein Buch. Und dann fing ich an zu schreien. Immer denselben Satz. Ein einziger, stakkatohaft herausgebrüllter Satz. Immer wieder. Einen Satz, geboren aus Erschöpfung und Scham. Ich schrie: „Ich brauche das Buch!“ So laut ich konnte: „Ich brauche das Buch! Ich brauche das Buch!“ Er kam näher, griff nach dem Fotoband und zog mich daran unter dem Zeitungskasten hervor. Was für eine Kraft der hatte, dieser hagere Kerl, diese lächerliche Figur mit seiner beknackten Designerbrille und diesem fiesen Unterlippenbärtchen. Ich brüllte weiter, brüllte und zerrte. Die Folie riss ein, löste sich. Mit einem gewaltigen Ruck entglitt mir der Fotoband. Meine Hände schmerzten, waren so leer, schmerzten vor Leere, griffen ins Nichts. Ich ließ mich fallen, krümmte mich zusammen und wimmerte: „Ich brauche das Buch.“ Wo kam nur dieser Kummer her? Er tippte mir mit der Schuhspitze an die Schulter. Vorsichtig drehte ich den Kopf. Ich hatte höllische Angst vor ihm. Würde er mir ins Gesicht treten? War es das, was er wollte? Ganz langsam hob ich den Blick. Mit solch einer Verachtung hatte mich noch nie zuvor jemand angesehen.
Was dann geschah, ist mir immer unbegreiflich geblieben. Er hob den schwarzen Fotoband hoch über seinen Kopf, stand einen Augenblick da, wie ein zürnender Gott und schleuderte dann das Buch mit aller Wucht auf mich nieder. Wie ein Geschoss traf es mich mit der Ecke in die Brust. Ich schrie auf. Er beugte sich über mich, weit hinunter und sagte merkwürdig freundlich: „Dann lass dich halt nicht erwischen, du Depp du.“ Wandte sich ab und ging, ging federnd einfach davon und verschwand in der mich angaffenden Menschentraube.
Ich griff nach dem Buch. Der Einband war zerrissen, Marlene Dietrichs Bein zerfetzt. Alles tat mir weh. Ich kam auf die Beine. Nur wenige Schritte waren es bis zur Rolltreppe. Gedemütigt, beschämt und doch vollkommen glücklich fuhr ich, das Diebesgut unter dem Arm, aus der klebrigen Wärme hinunter in die Kühle der U-Bahn. Doch warum hatte er mir den Fotoband nicht abgenommen? Warum mich gehen lassen? War das Ganze ein Trick? Eine Falle? Wollten sie wissen, wohin ich meine Beute brachte? Ich kaufte mir ein Ticket - natürlich kaufte ich mir ein Ticket - und nahm die U-Bahn Linie Sechs. Endlich saß ich. So als müsste ich ihn besänftigen, als bräuchte er ein wenig Schlaf, wiegte ich den Fotoband sanft hin und her. An der The-resienwiese stieg ich aus und ging bis zur Mitte des riesigen Feldes. Sah mich um, wartete, drehte mich - 360 Grad Observation. Diese Wärme! Was für eine die Gehirnzellen malträtierende, gehässige Luft. Kein Feind weit und breit. Langsam beruhigte ich mich und machte mich dann auf den Heimweg. Immer wieder blickte ich mich um, hielt Ausschau nach der roten Brille, hatte mir wie einen Schnupfen eine leichte Paranoia geholt.
Sicherheitshalber schob ich für die letzte Wegstrecke das Buch wieder un-ter den schweißnassen Pullover. Ich erreichte die Wohnung, mein Zimmer, drehte zwei Mal den Schlüssel herum und ließ das Rollo hinunter. Unend-lich erschöpft zog ich Troyer und T-Shirt, Stiefel und Socken, Hose und Un-terhose aus. Wo jetzt wohl der Lammfellmantel war? Auf den Oberschen-keln hatte ich zwei winkelförmige Blutergüsse und auf der Brust eine pul-sierende Schwellung. Mein Schamhaar war flach gepresst – ich lockerte es -und auch etwas tiefer sah es nicht gut aus. Ich legte mich auf das Bett, stopfte mir das Kissen unter den Kopf und nahm mir den Fotoband. Vorsichtig entfernte ich den schwerverletzten Einband, legte ihn behutsam neben mich, um ihn später zu versorgen. Und dann sah ich mir meine Bilder an. Jedes einzelne, ausgiebig, solange ich wollte. Jetzt endlich gehörten sie mir. Meine Hyäne, meine Marlene, mein Truman, meine Audrey, mein Landarzt.
Bilder über Bilder.
Da fiel mir die Inschrift wieder ein. Nackt huschte ich auf den Flur, trug das Telefon in mein Zimmer und rief meine Großeltern an. „Hallo, ich bin´s“ Mein Großvater meldete sich. „Oh hallo, mein Lieber, was gibt’s denn?“ „Ich wollte dich etwas fragen. Ich hab eine lateinische Inschrift gesehen. Kannst du mir sagen, was die bedeutet?“ „Ich werd`s versuchen.“ „Also, ich hoffe, ich habe es mir richtig gemerkt: Vacare culpa magnum est ... Das letzte Wort weiß ich nicht mehr.“ „Oh“, erwiderte er fröhlich, „Cicero! Das ist berühmt. Vacare culpa magnum est solacium.“ Er übersetzte es und wir verabredeten uns für den kommenden Abend zum Essen. Ich trug das Telefon zurück auf seinen Flurplatz, schloss mich wieder ein und kroch unter die Bettdecke. Das helle Tageslicht drückte mit aller Macht von außen gegen das Rollo, aber nur an einzelnen winzigen Punkten blitzte es, funkelnden Sternen gleich, durch das Gewebe. Ich legte das Buch neben meinen Kopf auf die Matratze und flüsterte, schlagartig sterbensmüde: „Mein Gott, was für ein Quatsch. Frei von Schuld zu sein ist ein großer Trost.“