Nadine Kegele, WIEN (A)
Die Autorin wurde von Burkhard Spinnen zu den TDDL 2013 eingeladen.
Nadine Kegele: Scherben schlucken (Romanauszug)
vorgetragen bei den 37.Tagen der deutschsprachigen Literatur 2013
© Nadine Kegele
1.
„Märchenhaft“, hat die Contessa gesagt, „geradezu ästhetisch“, wie sie es sich vorstellen wolle. (Eine Blutlache nähen, aus rotem Stoff, sie auf die Straße legen, mich dazu.) Nora, auf der Couch, ihre Lippen am Tee, den die Contessa ihr angeboten hatte, Kräutertee, Minze, hat gegrinst. Sie mag, dass die Contessa Humor hat. (Der Stoff aus Samt, dickflüssig.) Wenn Nora davon spricht, klingt es, als müsse es direkt schön sein, doch sie ist unsicher, ob es so ist. „Wäre“, hat die Contessa korrigiert, eine Nummer auf einen Zettel geschrieben, ihn über den Tisch
gereicht, für die Ferien, „für den Notfall.“
Der Zettel raschelt in Noras Hosentasche, knistert in ihrem Kopf, ein Echo zwischen ihren Ohren, als beiße sie ein Keks klein. Ihr Telefon piepst, einmal, zweimal. Wie es ihr gehe, fragt die Füchsin,
aber Nora will nicht reden darüber. Am Ende der Nachricht ein <3 (ein Herz, ein Kussmund, eine Eiswaffel), liegt seitlich, ist umgefallen. Nora liegt seitlich in Löffelchen, schläft sie allein, liegt sie
auf dem Bauch. Denn liegt Nora seitlich, bekommt sie Falten am Dekolleté, da ihre Körperhälften zueinander klappen und am Morgen die Mitte markieren, die Brüste zu schwer.
„Können gern tauschen“, sagt die Füchsin, wenn Nora jammert, „ich nehm deine Brüste und die Falten dazu.“
Die Brüste der Füchsin ein Brett. Nora mag es, Nora hätte es gern, wollte sein wie die Füchsin, ein dünner Junge.
2.
Die Mütter am Spielplatz tragen oft schwer an ihren Bäuchen und den Brüsten darüber, die mitwachsen, das zweite, vielleicht dritte noch, vier eher unwahrscheinlich. Väter sind hier selten zu sehen, Väter sind eine Erscheinung. Die Schwangeren legen ihre Hände in den Rücken und
strecken sich hinauf zur Sonne. Im Winter biegen sie sich gerade in der kalten Luft, ihre Hände in wollenen Fingerlingen, die ihrer Kinder in winzigen Boxhandschuhen, manche tragen sie profimäßig. Das Mädchen hatte Natalie geheißen und ihre Mutter hatte es keine Stunde mit ihr auf dem Spielplatz ausgehalten. Nach zwanzig Vergehen, Nora hatte mitgezählt, hatte sie das Mädchen gepackt und in den Buggy gesteckt. Natalie, angeschnallt, hatte sich nach vorne geworfen und zurück und wieder nach vorne und gebrüllt, während die Mutter sie vom Spielplatz fuhr. Natalie hatte noch schnell ein Mädchen an den Haaren gezogen. Einundzwanzig. Nora hatte Natalie auf Anhieb gemocht. Die Brüste von Natalies Mutter waren auf dem Kugelbauch aufgelegen, der Bauch war an Natalies Hinterkopf gestoßen. Womöglich hatte noch etwas von innerhalb des Bauchs gegen ihren Kopf getreten. Nora hatte wegsehen müssen, sich auf das sich verfärbende Gesicht des Mädchens konzentriert. Aus seinem Mund war Speichel gelaufen, als
müsse es noch dringend jemanden beißen.
3.
Das hatte sie schon so gemeint, als sie es ihm sagte, dass sie ihn nicht brauche, vor Freude strahlend, dass sie ihn ja (noch) gar nicht brauche zum Glück. Er hatte gesagt, ein Vorwurf in
jedem Wort, sie wolle das auch nicht gesagt bekommen. Er hatte recht. Sie hatte bloß „Hm“ gemacht, dann Pause, ein zweites Mal, dann große Augen. Sie hatte gehofft, dass es ihn treffen würde. Und war überrascht gewesen, als es das hatte.
4.
Sofort riecht es im Lift nach altem Mensch. Das stört Nora nicht, denn sie mag ihre Nachbarin. Der Hund ihrer Nachbarin trägt eine Manschette, hat etwas am Ohr, Nora hört nicht hin, Nora beobachtet das Gesicht ihrer Nachbarin im Spiegel. Bei starkem Wind richtet sie sich ihre Frisur im Spiegel im Lift. Ihr Gesicht ist lang. Die Gesichter alter Menschen ziehen sich mit den Jahren in die Länge. Je älter, desto länger. Sehr alt, sehr lang. Das ist die Faustregel von Noras
Beobachtungen. Nora ist fasziniert, auf dem langen Gesicht sitzt nach ein bisschen Fingerspitzen durch die Haare eine reparierte Frisur. Ihre Nachbarin lacht, über sich, sagt: „Man muss nach was gleich schauen.“
Noras Augen sind gerührt, ihre Nachbarin macht, dass sie sentimental wird. Sie ist achtzig, wirkt jünger, sieht aber schlecht. Hat wahrscheinlich genug gesehen, denkt Nora, hat so viel gesehen, dass ihr Gesicht sich in die Länge ziehen musste, damit der Mund, der zu den Füßen gewachsen war über all dem, was die Augen gesehen hatten, nicht heraus fiel aus dem Gesicht.
„Das hier war früher der Klopfbalkon.“
„Der Lift“, ist Nora erstaunt.
Auf Anhieb ist ihr das Wort sympathisch.
„Den haben sie da drauf montiert. Jetzt klopf ich die Teppiche beim Fenster aus“, sagt ihre Nachbarin und meint, „muss auch irgendwie gehen.“
Nora entschließt, das Wort doch nicht zu mögen. Zum Abschied reicht ihre Nachbarin Nora die Hand, weich und warm, wie eine Umarmung. Sie wäre gern verwandt mit ihr, wäre gern ihre Tochter. Vielleicht würde sie auch Nora gewollt haben, ihre Nachbarin hat nur Söhne. In diesem
Fall, denkt Nora, sind Brüste von Vorteil, doch kleine reichen vollkommen aus.
5.
Aus dem Duschkopf prasselt Wasser, das zu heiß ist. Sie schrubbt ihre Haut mit einem Abwaschschwamm. Er sagt immer, er mag sie, doch Nora mag sie nicht, sitzen großflächig auf ihren Schultern, machen auf Altersflecken. „Lass mich doch deine Sommersprossen mögen“, hat
er gesagt, „auch die Akkumulationen“, und Nora hatte lachen müssen, obwohl die Mutter seines Kindes eine Haut hat aus Porzellan. Sie ist hübscher als andere Frauen, um so viel hübscher als
Nora, die begonnen hatte, Geschirrabteilungen zu meiden (Porzellanläden.)
6.
Die Füchsin lehnt am Springbrunnen und wartet. Ihre Haare lodern auf dem Kopf, obwohl das Wasser sie zu löschen versucht. Spaziergang zum Kanal, die Füchsin will am Fluss essen. Durch die Glasfront sieht Nora einen Schwan, der in der Dämmerung glitzert. Im Winter war einer an eine Eisscholle angefroren, die Feuerwehr war ausgerückt und hatte ihn herausgeschnitten. Später hat sie ihn vom Eis geföhnt, vermutet Nora, die keinen Hunger hat.
„Aber du musst was essen, such dir was aus“, drängt die Füchsin in Spendierhosen. Nora sieht sich satt an ihrer burschikosen Freundin, denn viel Essen macht viel Brust.
„Wirklich, ich hab keinen.“
Vielleicht ist es der Schwan, der im Sommer in das Tretboot verliebt war, denkt sie, der immerzu neben dem Boot her schwamm und als es im Herbst im Hafen angetaut wurde, im Wasser neben ihm sitzen blieb, worüber es schließlich Winter geworden war.
„Wie geht’s mit Anton?“
Nora lügt. Pause. Nora rührt im Tee.
„Und deiner Mutter“, fragt die Füchsin später im Kino trotzdem.
Aber der Film ist zu laut und die Frage leise genug, um überhört werden zu können. „In Ewigkeit, Amen“, sagt Nora, als das Licht angeht.
Sie fädeln sich aus der Reihe, ihre Schuhe zertreten Popcorn.
„Wie im Babykino“, sagt die Füchsin und meint die Erwachsenen.
Die Luft ist kalt, der Himmel eine helle Nacht. Die Füchsin hängt sich bei Nora ein, weil sie das schick findet. Am Ende der Straße schießt ein Haus aus dem Boden, Flutlichter beleuchten sein Skelett.
„Könnt von Anton sein“, mutmaßt die Füchsin, der gefällt, wenn Männer hohe Häuser planen, dann durch die Straßen gehen und sagen: „Das hab ich gebaut, und das, und das.“ Nora denkt an die Arbeiter, die die Bauten auf ihren Rücken in die Höhe ziehen, und ob die
dasselbe sagen dürfen, wenn sie durch die Stadt gehen.
„Winni hatte immerhin einen Doktor“, kommt die Füchsin auf Hannes zu sprechen, „das war schon attraktiver.“
Ein Winfried wird auch mit Doktor nicht attraktiv, denkt Nora und sagt: „Ich hab gar nichts.“
„Du hast jetzt Anton.“
7.
Am Morgen bleibt Nora lange liegen. (Ich hab jetzt Anton.) Ihr Dekolleté schlägt Falten, sie streckt die Beine aus, dreht sich auf den Rücken, Blick zur Decke, Spinnweben. Sie steht auf. Cremt ihr Dekolleté glatt. Sitzt mit einer Tasse in der Hand am Fenster, vor dem Fenster der Lichthof, der lügt. In der Tasse treibt aufgeblasen der Teebeutel. (Ertrinken.) Nora stürzt vom Stuhl, den Tee in den Ausguss, greift nach einem Glas, trinkt, schnelle Schlücke, kaltes Wasser, das Glas liegt glatt
an ihrem Mund.
„Du musst dich nicht kümmern um sie“, hatte die Füchsin gesagt.
Als das Krankenhaus angerufen und den Namen genannt, Nora nachgefragt hatte, der Name wiederholt worden und ihr das Telefon aus der Hand gefallen war, weil sie den Namen der Mutter gut kannte von früher, waren seine Arme auseinander gegangen wie bei einem Gottvater, und Nora war darin verschwunden wie in einem Karton. Er hatte den Karton fest verschlossen oben, sie ihre Füße an die Pappwände gestoßen, bis er wieder geöffnet hatte. Dann war sie
davongerannt.Und wiedergekommen.
„Glaubst du, dass es so gut werden kann mit uns?“
Nora hatte geschwiegen.
„Glaubst du das?“
Anton angesehen.
„Ich tu das nicht, weil ich was Böses will.“
Antons Gesicht straff.
„Aber du tust es.“
Der Hahn füllt Noras Wasserglas auf, die Hand zittert. (Glasscherben schlucken.)
8.
Ihre Nachbarin schlurft durch den Hausflur, trägt Sonnenbrille, Nora kommt das komisch vor, aber seltsam nicht.
„Ich war beim Arzt“, sagt sie, „jetzt krieg ich Injektionen“, und nimmt umständlich die Brille ab.
„Was haben Sie gemacht“, ruft Nora aus.
„Er hat eine Ader getroffen. Hat gesagt, das kann passieren.“
Der Hund jault kurz auf, weil so etwas nicht passieren sollte.
„Tut’s sehr weh?“
Ihre Nachbarin setzt die Brille auf die Nase zurück und stöhnt.
„Sehen tu ich halt schlecht.“
Nora denkt, sie sieht aus wie Heino. Sie könnte sich gut vorstellen, dass ihre Nachbarin hübsch singen kann.
9.
Ein Fußgänger will über die Straße bei Rot, es kommt ihm eine Straßenbahn zuvor, die das darf, weil sie Grün hat. Er winkt die Straßenbahn vorbei, großzügig erst, dann ungeduldig. Nora hat es
nicht eilig, Nora muss nicht ins Büro, und im Krankenhaus wartet niemand, sie trödelt. Das Gesicht der Mutter trägt die Farbe des Leintuchs. (Leichentuch.) Die Mutter liegt und atmet
nicht. Der Brustkorb steht still, der Atem braucht kaum Platz. Mit den Fingernägeln zwickt Nora der Mutter in den Unterarm, die Wangen zucken nervös, manchmal zuckt nur eine, als zwinkere die
Mutter Nora frech zu. Doch dafür war die Mutter nicht fröhlich genug gewesen.
„Eine Veränderung“, fragt Nora.
„Schätzchen“, antwortet die Krankenschwester, die so breit ist, dass sie gerade noch durch die Tür
passt. Maßgeschneidert, denkt Nora. (Die Tür oder die Schwester?) Nora entscheidet sich für die Tür.
10.
Auf dem Stelzenhaus stehen Kinder und warten, bis sie an der Reihe sind. Eines drängelt, doch Natalie ist es nicht. Am Ende der Rutsche stehen Mütter und kennen sich. Nora setzt sich auf die Holzbank und schaut. Im Sommer strickt sie für den Winter, im Winter sitzt sie auf einer Zeitung, die Hände in den Manteltaschen. Das sieht eigentümlich aus, doch die Mütter sind zu beschäftigt, außerdem ist Nora kein Mann und an eine lange geplante Entführung denken die Mütter nicht.
Nora ja auch nicht. Wenn Nora im Sommer strickt, klimpern die Nadeln wie kleine Säbel. (Prinzessinnen die Augen ausstechen damit.) Und es glänzen Brüste in der Sonne, an denen
Kleinkinder trinken, als wären Brüste zum Füttern erfunden, das findet Nora eine Zumutung. Die erneut Schwangeren hatten so sichtlich Geschlechtsverkehr, dass Nora errötet, wenn sie an ihnen
vorüber geht. Ein Junge bleibt vor Nora stehen, sieht sie an, will weinen. Sie erkennt das am geringelten Mund.
„Hans“, ruft es nach ihm, der wahrscheinlich nach seinem Vater heißt und so weiter.
Hans stolpert davon und einer Frau ans Bein. (Kleinkinder wirken wie Betrunkene.) Dort steht er und umarmt die Hose. Die Hand seiner Mutter faltet ihm ein Dach über den Kopf.
11.
Am Bahnsteig steht eine Frau, die ihre Nase eingepackt und mit Klebstreifen am Gesicht befestigt hat. Eine Verpackung aus Verband, groß und eckig. (Cyrano de Bergerac.) Ein Mann im Wartehäuschen schnäuzt sich, es ist kalt, seine Nase voll. Er hält sich mit einem Finger ein Nasenloch zu, bläst durch das andere auf den Boden. Rotz ist gesund, denkt Nora, sagen zumindest die, die ihn essen und dazu stehen. Woher sie das hat, weiß sie nicht, vielleicht hat sie es auch erfunden. Nora stellt sich weit weg von ihm, weil seine Haut dunkel ist. Einmal hatte einer, als Nora freundlich zu ihm gewesen war, ein Blatt auseinandergefaltet und ihr vors Gesicht gehalten.
„Bruder“, hatte er, undeutlich, geflüstert, den Kopf geschüttelt, sanft, mehrmals, auf das Foto geklopft.
Eine Reihe Menschen hingestreckt auf heißem Sand, oben die Augen verdreht, verzerrte Münder, und unten – es hatten die Füße gefehlt. Seitdem sagt sie sich, dass es ihr in jedem Fall gut geht, sie wiederholt es sich, sagt es sich immer wieder. Doch sie kann es nicht fühlen. Nora weiß, dass Anton sie verlassen wird, weiß es, da es in ihrem Brustkorb nervös geworden war vor einiger Zeit und ängstlicher wird mit jedem Tag. Verlassen werden, Krieg, denkt Nora, verlassen werden, Krieg.
(Das eigene Unglück ist immer das größte.) Der Zug fährt ein. Cyrano bückt sich nach ihrem Koffer. (Mit den Gedichten für die Nacht.) Würde sich jemand vor den Zug werfen jetzt, würde Nora wissen, dass man sich das trauen kann. Sie macht einen Schritt nach hinten, legt sich einen Satz zurecht, der sie auffangen soll. Hat die Contessa empfohlen, bevor sie in die Ferien gefahren war. Und die Füchsin hatte gesagt, und bedeutungsvoll geschaut dabei: „Er gibt dir etwas, das du
dringend brauchst.“
„Was?“
„Nimm es!“
Doch dann bekommt sie es nicht mehr.
„Nora“, sagt er, nur „Nora.“
Weil das ihr Name ist.
Sie umarmt ihn, nestelt hektisch an den Knöpfen seines Hemds.
„Verstehst du nicht“, wird er laut, „sie versteht es einfach nicht.“
Antons Augen auf ihrem Hals. Sie zieht den Schal enger um die blanke Haut. Ein Fingerzeig zur Tür. Um sie morgen wieder anzurufen, denkt sie, er sagt: „Es tut mir leid.“
12.
Wenn Nora die Mutter so daliegen sieht, friedlich, ist es gar nicht geschehen. Dann fasst sie in sich hinein, tastet in der Bauchhöhle umher und greift nach dem Hass, der noch in ihr ist. Zuerst hatte
Nora gedacht, er wäre ihr Vater vielleicht. Nein, so einen Vater hat sie nicht. Er hatte kein Klo gehabt. Sie hatte es sich verkneifen wollen, bis sie beinahe zerrissen wäre. Sie hatte nicht zerreißen wollen. Er hatte einen Eimer hervorgeholt von unter dem Waschbecken, es war bloß ein
Raum gewesen, Blechwände, sie über dem Eimer gegrätscht. Der Hund bei der Tür, der viel zu groß war, um freundlich zu sein, hatte sich nicht interessiert für sie, hatte über barbusige Frauen am Strand gewacht, die baden gewesen waren im Meer, sich nun lufttrocknen ließen. Mehr weiß Nora nicht mehr. Auch weiß sie nicht, warum die Mutter sie hergeborgt hatte, und warum sie nicht endlich stirbt dafür. Nora ist bereit. Manchmal flüstert sie das der Mutter ins Ohr, doch die
Schwester sagt, sie kann sie nicht hören, „aber sie kann jederzeit zu sich kommen, sagen die Ärzte, doch ob gesund –“
„War ohnehin immer krank“, will Nora dann erwidern.
„Denken Sie nicht, es wäre gut, wenn sie erwacht“, mutmaßt die Contessa in regelmäßigen Abständen, „damit Sie alles fragen können, was Sie wissen wollen von ihr.“
Wenn sie erwacht und ein Pflegefall wäre, bettlägerig, auf Hilfe angewiesen, die Windeln gewechselt werden müssten, denkt Nora, würde es die Mutter demütigen. Auch würde sie alle paar Stunden umgebettet werden müssen, um sich nicht wund zu liegen und zu verwachsen mit dem Leintuch.
13.
„Wie geht’s“, fragt Nora, „und wie geht’s ihm?“
Der Hund ihrer Nachbarin schnüffelt an ihren Füßen, er ist ein kleiner Hund.
„Gut geht’s uns“, behauptet ihre Nachbarin, „jetzt hat er halt was am Darm“, sie lacht, „er wird alt“,
sie lacht, „und ich ja auch“, klopft auf die Hüfte, die bald erneuert wird, „aber das schaffen wir schon“, lacht wieder, „haben schon ganz andere Sachen“, und noch ein Mal.
„Bestimmt“, versichert Nora und möchte dieser Frau alles glauben.
Sie umarmen einander, öffnen ihre Wohnungstüren. Ein Luftzug tauscht sich aus. Nora erschrickt. Ihr wird klar, dass ihre Nachbarin sterben wird. Alte Menschen sterben an der Hüfte.
14.
Neun, die Füchsin. Nora zieht die Decke über den Kopf, stellt sich schlafend, oder krank, kurz vor Angina. Sagt die Füchsin immer: Bin kurz vor Bronchitis, kurz vor Durchfall. Und Nora will dann schreien: „Es gibt kein kurz vor! Entweder du hast Durchfall oder nicht!“ Doch Nora hat keinen und Angina hat sie auch nicht. Sie trifft sich mit der Füchsin auf der Terrasse des Cafés. Zwischen den Stühlen Tauben, die vor dem Kellner flüchten, der nicht weiß, dass diese Vögel einst am Königshof gelebt hatten und bestaunt worden waren für ihr Gefieder. Nun werden
sie von den Beinen des Kellners verjagt, weil sie fürs Zertreten zu flink sind. Doch sobald er mit wehender weißer Schürze die Terrasse verlässt, fliegen sie erneut heran und picken nach den Krümeln, die von den Tischen fallen. Vielleicht ist ihnen aber auch bloß kalt und sie suchen die Wärme der Heizstrahler, die um die Tische herum glühen, und die Krümel picken sie auf, weil das ihr Job ist. Nora, in eine Decke gewickelt, nippt an der Tasse. Die Füchsin bewegt ihre Lippen.
Nora schweigt in den Tee. Der Kellner tritt nach einer verkrüppelten Taube. (Die Schürze des Kellners ist keine Friedensfahne.)
„Ist dir auch nach Kuchen“, fragt Nora.
Die Füchsin nickt und steht bereits vor der Kuchentheke.
„Nuss“, hatte Anton gesagt und auf seine Stirn geklopft, als sie sich getroffen hatten zum ersten Mal. Nora hatte gelacht und den Rum gespürt. Nora verträgt nicht viel.
„Früher hätte ich gesagt, ich nehm auch einen Müllmann“, die Füchsin sticht in ihre Cremeschnitte, „heute weiß ich, dass ich schon einen mit Abschluss will“, Nora ins Tiramisu, „ist das schlimm?“
Der Himmel verändert die Farbe, damit er besser zur Füchsin passt. Die Füchsin ist eine dominante Frau.
„Hannes ist kein Müllmann“, sagt Nora.
„Aber wir kommen aus so unterschiedlichen Welten. Er ist der Erste seiner Familie, der die Uni von
innen gesehen hat, das kann doch nicht gut gehen.“
„Und wir zwei“, fragt Nora, „bei uns funktioniert es doch auch.“
„Das ist was anderes“, denkt die Füchsin, „mit dir will ich keine Kinder.“
Als Kind hat Nora der Mutter Zigaretten geholt. Der Trafikant hatte bloß ein Auge im Gesicht stehen, doch mit dem hat er alles gesehen, was er sehen wollte. Die Mutter hatte HB geraucht.
„Und was heißt das umgekehrt“, hatte der Einäugige sie gefragt. Nora hatte bereits buchstabieren können.
„Aber ich mach schon keinen Rückzieher“, klopft die Füchsin auf den Tisch, „Und weißt du, was das beste ist“, fragt sie und grinst, wie Füchse eben grinsen, „die Wohnung wollten andere ja auch, aber wir sind Akademiker.“
Die Füchsin kommt aus gutem Haus. Manchmal vergisst sie, dass sie aber eigentlich ganz nett ist, dann sagt sie Sachen, die sie nicht so meint. Nora verabschiedet sich, bis die Füchsin wieder weiß, was sie redet, sie blickt aufs Tischtuch, Blumenmuster, meidet die Augen ihrer Freundin.
Die Füchsin hat schöne Augen, aber nur, wenn Nora sie mag. (Die Füchsin verschwindet in ihren Bau. Füchsin ab.) Nora zieht ihr Telefon aus der Tasche. Kein Anruf, Nachricht auch keine. Sie wird sich
nicht melden, sagt sie sich, sie darf nicht, sie hat es versprochen, dass sie ruhig bleiben wird dieses Mal, weil sie erwachsen ist und sich um sich selbst kümmern kann – und schlägt bereits einen Weg ein, der nicht zu ihrer Wohnung führt. Dort steht sie und sieht Licht in seinem Fenster. Ihr Brustkorb weitet sich, atmet auf. Sie will zur Sprechanlage, doch dann nimmt sie ihre Beine in die Hände und rennt.
15.
Nachdem Nora beschloss, warten zu können, ging sie heim und ließ sich ein Bad ein, ihre Schamhaare wirbelten an der Wasseroberfläche wie in einem Sturm. Er hatte gefragt, und mit seiner Zehe in ihren Schritt getippt, wie er sagen solle, Mumu schlage er vor. Sie hatte auftauchen wollen aus dem Schaum und ihn umfangen, so unbekannt warm war es geworden in ihr drin, und hat gesagt, „als hätten wir keinen Sex, sondern Umarmungen“, ihn ausgelacht, „ungelenke
Umarmungen.“
„Scheide vielleicht?“
„Bin ich ein Kind!“
„Vulva?“
„Klingt wie ein serbischer Wald, in dem noch Minen liegen. Vagina“, hatte sie vorgeschlagen, und es so betont, dass es aufregend klang. Nora ist sehr offen im Bett, das Bett kann nie groß genug sein für eine wie Nora – sie hatte ihn beeindrucken wollen. Nora lächelte, weil sie es vergessen hatte. Als sie erwacht, lächelt sie immer noch. Lächelt auch noch, als sie in der Küche sitzt und ihr Blick die Fliege im Abwaschbecken verfolgt. Das Emaille dunkelgelb, als färbte sie Eier darin, oder hievte sich, ein Spleen, gerne mal hoch und pinkelte hinein, ohne nachzuspülen. Antons Wohnung ist sauber und neu. Sobald er sich meldet, will sie ihn überraschen damit, seine Wohnung wäre optimal für sie beide.
16.
Aber Anton meldet sich nicht. Nora versucht es mit einer Kurznachricht, mit einer zweiten, mit noch mehr, aber Anton meldet sich nicht. Nora liest die Nachrichten. Ihr Mobiltelefon prallt an der Wand ab, bleibt in seinen Einzelteilen liegen. Sie darf der Contessa nichts erzählen davon, oder erst, wenn alles wieder gut sein würde: „Frau Graf, ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen“, wollte sie beginnen, „aber dieses Mal war es gut, dass ich es getan habe, denn –“
Nora sammelt das Telefon vom Boden auf, steckt die Teile ineinander, auf dem Display ein neuer
Sprung, das Startbild erscheint, farbige Balken hüpfen über den Sprung hinweg, Kinderlachen im Treppenhaus schluckt die Begrüßungsmelodie. (Ein Kind!) Nora läuft zum Schrank, doch der ist
leer. Auf einem Kleid in einem Schaufenster steht ihr Name. Es ist zu teuer, sie darf es sich nicht leisten.
„Wie lange drüber“, fragt er aber nur.
„Vierzehn Tage“, antwortet Nora rasch.
„Ich hab schon eins, für das ich nur zahle“, sagt er, ohne nachzurechnen, „was ich nie wollte war,
ein Vater sein, der nur zahlt.“
„Dann zahl nicht, bleib!“
„Nora.“
„Nora was?“
„Bitte steig aus.“ (Kleidung ist überbewertet.)
17.
Als sie erwacht, sitzt etwas klamm auf Noras Brust. Sie kann es nicht sehen, es ist dunkel, sie schlägt um sich, es fällt auf den Boden. Sie springt aus dem Bett, ihre Knie geben kurz nach. Die
Wohnung saugen. In den Ecken beginnen. Beschäftigen.
„Nicht stillsitzen, nicht grübeln“, hat die Contessa gesagt, „und versuchen Sie, sich selbst zu beruhigen.“
Nora steht an der Spüle und wäscht das Geschirr der vergangenen Tage. Schrubbt die Krusten von den Tellern, bis die Fingergelenke knacken. Zieht den Abflussstopper, als es glänzt. Der Satz,
fällt Nora ein. Sie überlegt. Erinnert ihn nicht. Im Spülbecken wird das Wasser gurgelnd in den Boden gezogen. Sie blickt ihm nach. Ihr verschwimmt die Sicht, Schweiß tritt aus den Poren auf
ihrer Stirn, obwohl sie friert, der Satz ist – (Weg.) Sie hört das Rauschen in ihrem Kopf. Lange. Irgendwann weint ein Kind im Treppenhaus, ein Echo hinterher. Nora tut das weh, wenn ein Kind weint, wenn ein Kind weint, hat es recht.
18.
Noch nie hat Nora die Stadt von oben gesehen. Es ist eine kleine Stadt, eine Legostadt, aber der Boden wie ein echter. Läge nun die Hand der Füchsin in ihrem Rücken, sie würde sich hineinfallen lassen. Doch die Füchsin ist beim Tennis. Nora beschließt zu warten. Danach beschließt Nora woanders zu warten und geht los. In seinem Fenster kein Licht. Vielleicht ist es hell genug in der Wohnung. Nora blickt in den
Himmel. Selbstverständlich ist es hell genug in Antons Wohnung. Der Himmel verdunkelt sich. Sie denkt an eine Stirnlampe, selbstverständlich besitzt ein Architekt eine Stirnlampe.
Dann ist es dunkel und das Haustor verschmilzt mit Noras Rücken, ihre Gelenke werden steif, sie nickt weg. Der Himmel steht in Flammen, als Nora erwacht. Sie prescht hoch und reißt sich die Jacke am
Haustor auf. Das Feuer geht über in Aquarell. Sie steht auf der Straße und blickt mitten hinein, sie möchte dieses Morgenrot essen. Nach dem Essen geht sie.
19.
Als Kind hat Nora mit geschlossenen Augen geschaukelt und gewusst, wie Vögel fliegen. Das Metalltor quietscht in der Angel, Nora bremst mit ihren Schuhen ab. Als Kind ist sie von der Schaukel gesprungen, weit nach vor ins weiche Gras. Im Buggy sitzt Natalie und wird chauffiert,
Trinkkakao zwischen den Händen, auf ihrem Mäntelchen ein Herz. „I love you“ steht geschrieben darin, darunter: „Love me!“
Natalies Mutter grüßt, freundlich, sie sieht nett aus. Und Natalie bläst Blubber in den Strohhalm und ist amüsiert.
20.
„Heut so früh, Schätzchen?“
Die Schwester versperrt mit ihrer Fülle die Tür, dahinter liegt die Mutter dünn in ihrem Bett. Ein Mann hält ihren Arm hoch, die Mutter winkt ihr, oben ohne, zu. Nora hofft, die Mutter hat ihr die Flasche gegeben.
„Wir waschen sie fertig, dann dürfen Sie rein.“ Nora geht zum Automaten, zählt Münzen aus der Hosentasche, ein Zettel raschelt, sie nimmt ihn in die Hand, drückt mit der anderen einen Kaffee. Der Warteraum ist leer, traurig, obwohl Kalenderbilder bunt und sonnig die Wände einfärben. An Noras Zunge schwappt heiß der Kaffee,
ihr fällt der Becher aus der Hand. (Altersflecken auf Mutters Haut.) Die braunen Tropfen, die an die Wand schlagen, fließen zu Boden.