Roman Ehrlich, BERLIN (D)
Der Autor wurde von Juror Paul Jandl nach Klagenfurt eingeladen.
Roman Ehrlich: DAS KALTE JAHR (Auszug)
vorgelesen bei den 37.Tagen der deutschsprachigen Literatur 2013
© Roman Ehrlich
Nach einigen Wochen im Ort meiner Herkunft, im Haus meiner
Eltern, mit Richard in den Räumen meiner Kindheit, habe ich gelernt,
eine Reihe von Fragen nicht mehr zu stellen, weil sie Richard zu sehr
aufregen. Weil er danach oft ganz unruhig im Haus umherläuft oder
auf lange Zeit rausgeht in den Schnee und mir unter Drohungen
verbietet, ihm zu folgen.
Zu diesen Fragen gehören:
Wann bist du hierhergekommen und von wo?
Wo ist deine Familie?
Was ist mit meinen Eltern passiert?
Musst du nicht irgendwann in die Schule gehen?
Was hast du gemacht, als du allein warst?
Dazu kommt die Frage nach den Werkstücken, die er anscheinend
immer dann bearbeitet, wenn ich aus dem Haus bin, und die mich
immer drängender interessieren, je länger sie von Richard vor mir
versteckt werden.
Er bewahrt sie, soviel habe ich mir zusammengepuzzelt aus kurz in
sein Zimmer geworfenen Blicken und zu spät von ihm abgebrochenen
Handgriffen, in Einzelteile zerlegt und in Pappschachteln verstaut
unter dem Bett und unter den Regalböden in meinem alten
Kinderzimmer auf.
Die Zeiten, die ich ohne Richard im Haus meiner Eltern verbringe,
sind höchst selten, und nie kann ich sicher sagen, wie lange er
wegbleibt. Ich würde außerdem niemals in seiner Abwesenheit
anfassen und durchsuchen, was ihm gehört, weil ich weiß, dass sein
Vertrauen in mich dann für immer verloren wäre.
Was ihm gehört ist dabei eine Art fließende Kategorie geworden.
Manchmal stehe ich in diesen Tagen in der geöffneten Tür zu meinem
Zimmer und schaue auf die Möbel und auf die Bilder an den Wänden,
und obwohl ich weiß, dass ich alles einmal selbst auf diese Weise
arrangiert habe, passt es ja mittlerweile viel besser zu Richard als zu
mir.
Es ist seins geworden, weil er jetzt das Kind ist und weil er hier
den für das Kind vorgesehenen Raum bewohnt. Die Jahrbücher aus
meiner Schulzeit, Tagebuchhefte oder Fotoalben, die überall in
Schubladen und zwischen Büchern aufbewahrt sind, gehören zu
diesem Lebensraum dazu, auch wenn sie Teile meiner eigenen
Vergangenheit sind. Ich würde, wenn ich plötzlich anfinge, mich dafür
zu interessieren, wahrscheinlich bei Richard um Erlaubnis fragen, sie
herunter ins Wohnzimmer holen zu dürfen.
Es klingt seltsam, aber so hat sich das mit den Dingen im Haus meiner
Eltern entwickelt, mit denen, die mir gehört haben, mit ihren, mit dem,
was wir hinzugebracht haben, seit ich wieder da bin. Es handelt sich
bei alldem nicht mehr um Besitz im eigentlichen Sinn, und es wird
von mir auch nur noch dahingehend überprüft, ob es für uns und dabei
vor allem für Richard von Nutzen ist.
Umso aufmerksamer werde ich, als Richard mich an einem dieser
Tage fragt, ob ich dabei helfen kann, etwas Material und Werkzeug zu
besorgen, das er für seine Arbeit benötigt. Es fehlt ihm, wie er sagt, an
einigen Zentimetern Stahlrohr, einer Eisensäge und einem Mörser.
Wir besorgen diese Dinge in den Einzelhandelsgeschäften des Ortes,
deren Betreiber dem Wetter trotzen, wacker morgens ihre Türen
aufschließen und die Flächen vor ihren Läden begehbar halten durch
Schaufeln und Streuen. An manchem Morgen habe ich schon gesehen,
wie sie mit den Scheibenkratzern aus ihren Autos die Schaufenster
bearbeitet haben, um wenigstens im Radius ihrer eigenen Körpergröße
die Auslage freizuhalten vom Frost und den Blumen aus Eis.
Nachts fallen die Temperaturen immer weiter in immer
unerträglichere Tiefen, kaum einer geht dann noch vor die Tür, und es
wird so still im Ort wie auf einem Friedhof.
Wir kaufen die von Richard benötigten Dinge, das heißt, ich kaufe die
Dinge, in den Läden an der Promenade und der Hauptstraße, Richard
wartet eigentlich immer vor den Geschäften auf dem Gehsteig, weil er
sich nicht mit den Bewohnern des Ortes und ihrer Neugier, an die sie
sich immer dann erinnern, wenn sie einem Kind begegnen, mit ihren
Fragen und verstellten Stimmen, mit ihren hornigen Handflächen,
auseinandersetzen möchte.
Er trägt eine dicke Jacke und eine marineblaue Mütze mit
hochstehendem Bommel, an der ich ihn gleich erkenne, wenn ich aus
den frei gekratzten und doch ständig nachbeschlagenden
Schaufensterscheiben nach draußen auf die Straße schaue.
Diese Mütze hat ziemlich genau die Farbe des Meeres, wie es hier
eigentlich aussieht an einem klaren Tag, wie ich es nicht mehr
gesehen habe, seit ich zuletzt aus dem Ort weggegangen bin.
Wahrscheinlich ist sehr viel Zeit vergangen. Es gibt nirgendwo einen
verlässlichen Kalender oder eine mit Sicherheit korrekt nach unserer
Lage auf dem Planeten gestellte Uhr. Nicht im Haus und nirgendwo
im Ort. Es lässt sich nicht mehr zweifelsfrei sagen, wann ich
angekommen bin und wie viel Zeit tatsächlich seitdem verstrichen ist.
Die Bewohner des Ortes sind, vorsichtig formuliert, keine große Hilfe.
Sie haben selbst große Schwierigkeiten, meistens mit sich und den
Umständen der anhaltenden Kälte. Sie verabreden sich untereinander
für später, wenn es dunkel ist oder für morgen, und sie sagen meistens
gestern, wenn sie die Vergangenheit meinen, wobei sie sich dann auf
etwas beziehen, was genauso gut auch vor einigen Tagen passiert sein
könnte. Die Ereignisse aus einer länger zurückliegenden Vergangenheit, vor allem solche aus einer Zeit, in der über dem Ort
einmal die Sonne stand, Blätter an den Bäumen hingen und Besucher
auf den Freisitzmöbeln an der Strandpromenade Fischgerichte
verzehrten, scheinen ihnen allen längst verschwommen und unklar
geworden zu sein.
Keiner, so kommt es mir in diesen Tagen oft vor, traut sich mehr so recht, über diese Zeit zu sprechen. Aus Angst, er
könnte sich da etwas zusammenfantasiert haben, wofür ihn die
restlichen Ortsbewohner für endgültig verrückt geworden erklären
müssten.
Richard geht meistens ein Stück weit vor mir her, wenn wir nach
Hause laufen. Vor allem, nachdem wir gemeinsam eingekauft haben,
macht ihn die Vorfreude, alles zu Hause ordentlich aufzuräumen oder
vielleicht auch später noch hinter geschlossener Tür in seinem
Zimmer zu benutzen, ein paar Schritte schneller. Er bleibt auch nicht
stehen, wenn ich mir etwas ansehe oder von einem der Bewohner des
Ortes angesprochen werde. Wenn ich zu lange brauche, geht er
einfach nach Hause und macht ein Feuer im Ofen, läuft mit einem
Stock in der Hand ums Haus und schlägt den Schnee von den Ästen
der Bäume, soweit er sie erreichen kann, oder er geht ohne Umweg
hoch in sein Zimmer und schließt die Tür.
Er läuft ein Stück vor mir her, ich schaue mir den blauen Bommel
seiner Mütze an, der bei jedem Schritt mitschaukelt, und überlasse es
Richard, den Heimweg auszusuchen. Ob wir am Meer entlanggehen,
an der Hauptstraße oder den kleinen Umweg durch ein angrenzendes
Wohngebiet. Es ist immer eine weiße Landschaft, mit Häusern oder
dem Strand, langsam dahinziehenden Autos, wenigen Menschen auf
den Bürgersteigen, der dunkelgrauen Winterjacke und der blauen
Mütze.
Mir fällt in dieser Zeit oft auf, wie ich meinen Blick immer auch ein
Stück über Richard hinausgehen lasse, bis zur nächsten Kreuzung den
Bürgersteig absuche nach möglichen Gefahren, den Verkehr im Auge
behalte, Gartentore und Autotüren, die nachlässig zum Gehweg hin
geöffnet werden könnten, Eisflächen, Räumwerkzeug, nicht
angeleinte Hunde. Eine ganze Zeit lang war es mir immer
unerträglich, so viel auf einmal wahrnehmen zu müssen. Ich habe die
meiste Zeit in meinem Leben hauptsächlich damit zugebracht,
absichtlich wegzuschauen und mich nicht von allem, was ständig um
mich herum passierte, was sich meine Aufmerksamkeit erhampeln
wollte, ablenken, verwirren und zerstreuen zu lassen.
Jetzt aber kam es auf das Schauen wieder ganz stark an. Und es war
ein wachsames Schauen. Ein Bewachen. Es war von uns beiden aus in
die Welt gerichtet, erkannte dort die Gefahren, die auf uns
einzubrechen drohten, und schied sie klar von den Dingen, die einfach
nur so vorhanden sind. Ich habe zu dieser Zeit festgestellt: Wenn man
etwas bewacht, wenn man vor etwas oder jemandem Wache hält, dann
richtet sich die Aufmerksamkeit erst richtig in die Welt.
Ich trage Sorge für Richard und Verantwortung, und mit dieser Sorge
im Rücken dient mein Blick über alles, was uns begegnet, endlich
einem Zweck. Ich muss mich von nichts mehr abwenden. Ich sehe mir
alles an, ohne eine Erklärung dafür zu suchen. Ohne zu wissen, was es
bedeutet.
Wenn wir uns zu Hause in der sicheren Umgebung der Räume meiner
Eltern befinden, wenn die Scheiben schon blind sind von der Nacht
und sich wieder nur unsere im Schummerlicht sitzenden Körper in den
Fenstern spiegeln, dann, dachte ich, schauen wir eben zusammen in
die Vergangenheit, und dann bereite ich für Richard diese
Vergangenheit auf nach meinem besten Wissen. Auf eine Art, die für
ihn lehrreich sein oder ihn vielleicht vorbereiten könnte, abhärten für
die Zukunft. Heute ist mir klar, dass ich damit unrecht hatte.
Als am Abend des 10. April 1815 der Berg Tambora auf der Insel
Sumbawa, die zweihundert Jahre lang abwechselnd von
holländischen, britischen und japanischen Besatzern kontrolliert
worden war, explodierte, stieß er mit einem Mal einhundertvierzig
Milliarden Tonnen Gesteinsmasse in die Luft, anderthalb Kilometer
Berg, von der Spitze abwärts, sprengten sich aus dem alten Gefüge
und regneten auf die umliegende Landschaft herab. Überfaustgroße
Brocken schlugen in die Reisfelder und Hütten der Bauern ein,
Ascheregen und Schwefelregen folgten, Tsunamiwellen, die Dörfer
und Siedlungen rund um den Tambora wurden allesamt vernichtet.
Noch bevor man die kilometerhohe Aschesäule sehen konnte, die aus
dem Vulkankrater aufstieg, hörte man überall auf den indonesischen
Inseln die Detonationen. Aufgeschreckt und hektisch gingen die
Besatzer in Stellung, Schiffe wurden aufs Javameer ausgesandt, man
griff zu den Waffen und spähte in den Abend nach feindlichen
Truppen.
Feuerstürme, rot glühende Gaswolken, Asche und flüssiges Gestein
fluteten die Flanken des Tambora hinab ins Meer. Eine schaumige
Kruste bildete sich auf der Wasseroberfläche, in sie eingebacken die
Vegetation, Häuser, Tiere, Menschen, die in dem heißen Rutschen und
Fließen umgekommen und mitgerissen worden waren. Großflächige
Bruchstücke dieser Schaumkruste trieben hinaus auf die See und dort
jahrelang herum. Immer wieder stießen Fischer und Fernreisende auf
solches Treibgut.
Infolge des Ausbruchs verfinsterte sich der Himmel. Der Staub, die
Asche und die Gase stiegen in die Stratosphäre, gelbliche
Dunstschleier, die vom Wind um den ganzen Erdball getragen
wurden.
Das einfallende Sonnenlicht wurde von diesem säurehaltigen
Dunst zurückgeworfen, wenn es regnete, regnete es Schwefel und
Asche, die Böden und das Grundwasser wurden vergiftet, und durch
den Mangel an Licht blieb es ein Jahr lang Winter auf der nördlichen
Hälfte der Welt.
Den Menschen in Europa und Nordamerika war die Ursache für diese
Verdunklung, die Kälte und die ungewohnten Niederschläge lange
unklar. Viele zogen aus ihren Häusern aus und hofften auf Besserung
anderswo, fuhren vielleicht auf einem Schiff von Europa nach
Amerika oder von dort zurück und fanden dann, auf der anderen Seite
des Ozeans, auch nur dieselbe Dunkelheit vor, Schneefälle im
Sommer, erfrorene Felder, Hunger. Keiner wusste, dass weit entfernt
auf dem Planeten etwas aufgerissen war, explodiert, und so starrten sie
fragend in den sternlosen Himmel.
Als ich Richard vom Ausbruch des Tambora erzählte und ihn fragte,
könnte es nicht sein, dass wieder irgendwo in einem fernen Erdteil
eine solche Explosion stattgefunden hat und wir jetzt wieder
ahnungslos umhergehen in der Kälte, zuckte er nur mit den Schultern,
wollte davon gar nichts wissen. Es kam mir sogar so vor, als würde er
richtig wütend, je länger ich versuchte, den Ursachen auf den Grund
zu kommen.
Es war kein freiwillig von mir gefasster Entschluss, die Arbeit in dem
Elektrofachmarkt an der Strandpromenade wiederaufzunehmen. Ich
würde sogar sagen, die Entscheidung hierfür wurde über mich
verhängt.
Wir brauchten schon sehr bald Geld, weil ich ja das wenige, was noch
auf meinem Konto übrig geblieben war, größtenteils schon auf dem
Weg ans Meer ausgegeben und den Rest dann recht schnell in unsere
Versorgung investiert hatte.
Ich war durch den Ort gelaufen, auf der Suche nach ausgeschriebenen
Stellen, hatte kostenlose Zeitungen im Supermarkt studiert, musste
dabei aber feststellen, dass sich die Bewohner mittlerweile ganz auf
ihre raunende, vertrauliche Kommunikation beschränkten und nicht
mal mehr ihre alten Fahrräder in den kostenlosen Wochenzeitungen
annoncierten. Lediglich ein paar Gesuche nach menschlicher
Gesellschaft oder überschüssigen Haustieren fand ich, der Rest
Fleischreklame und Frauen mit ungewohnt rosig aussehenden
Gesichtern, die sich mit einiger Zufriedenheit und vorsichtig
abgespreizten Fingern Faltencreme in die Augenwinkel massierten.
Die Werbung, vielleicht weil sie so farbig war, wirkte überholt und
aus einer anderen Zeit kommend auf mich.
Als ich aber in den Elektrofachmarkt ging, zum ersten Mal, seit ich
wieder im Ort war, um eine 9-Volt-Batterie und etwas Schaltdraht,
einen Saitenschneider und Isolierklebeband für Richard zu kaufen, als
ich eine Weile erst im Verkaufsraum gestanden hatte, vor der großen
Glasvitrine, in der scheinbar noch die gleichen Mobiltelefonmodelle
lagen wie zur Zeit meiner viele Jahre zurückliegenden Ferienarbeit,
dann in den vielen stumpf und schwarz in den Raum zeigenden
Fernsehbildschirmen meine Spiegelung anschaute, wie ich da stand
und wartete, etwas eingesunken und von der Wölbung der
Glasbildröhren wie durch ein Fischauge betrachtet, als der Schnee an
meinen Schuhen langsam schmolz und sich eine kleine Pfütze auf dem
grauen Teppichfußboden um meine Schuhsohlen bildete und die
trockene, staubige Heizungswärme mir wieder stark zu schaffen
machte, kam der Ladeneigentümer Letterau aus der Werkstatt hinter
dem Verkaufstresen hervor und erkannte mich sofort.
Er erkannte mich nicht nur sofort als mich, sondern, und das war der
Augenblick, als ich vielleicht gerne nach meiner Meinung gefragt
worden wäre, als seinen Angestellten.
Er sagte: So. Und: Ah, hallo, und ob ich ihm nicht gleich mal helfen
könne, einen fertig reparierten Fernseher aus der Werkstatt
hinauszutragen, er wolle ihn hinten bei der Kellertreppe zu den
abholbereiten Geräten stellen. Dann verschwand er wieder im
Durchgang zur Werkstatt, und ich ging ihm nach, verteilte feuchte
Fußspuren im ganzen Laden, und zusammen wuchteten wir ein
übermäßig großes Fernsehgerät von einem Rollwagen, der zwischen
verschiedene Messgeräte und eine Lötstation geschoben war, und
trugen es vorsichtig an den vielen Geräten vorbei, die halb
aufgeschraubt im Testmodus liefen oder völlig auseinandergebaut auf
ein bestelltes Ersatzteil warteten. Meine Schuhe quietschten beim
Rückwärtslaufen über das nikotingelbe Linoleum der Werkstatt, ich
sah die kleinen Bauteilregale und hart gewordene Lötzinntropfen auf
den Arbeitsplatten und den durchgesessenen Polstern der Bürostühle.
Der Fernseher in unseren Händen hatte ein Gehäuse aus dunklem Holz
und war so breit, dass ich ihn mit beiden Armen nicht hätte umfassen
können. Herr Letterau und ich fingen stark zu schnaufen an, mein
Mantel spannte über dem Rücken, und ich machte alles falsch, als wir
das Gerät schließlich abstellten, sodass mir gleich ein fieser Schmerz
die Wirbel entlangfuhr, der auch nicht verging, als ich wieder aufrecht
stand.
Am 3. Juli 1844 erreichte den Grundschullehrer und jüdischen Kantor
Liebmann Adler die Nachricht, seine Frau sei bei der Geburt ihres
ersten Sohnes infolge unerwarteter Komplikationen gestorben. Es ist
nicht bekannt, ob die beiden Eltern vor dem plötzlichen Tod der
Mutter schon einen Vornamen für das Kind ausgewählt hatten. Wenn
es aber einen gab, entschied sich Liebmann Adler dafür, ihn zu
verwerfen und durch das deutsch-hebräische Hybridwort Dankmar zu
ersetzen, das sich, sage ich zu Richard, wohl am besten mit Dank
Bitternis übersetzen lässt.
Zehn Jahre nach dem Tod der Mutter emigrierten Liebmann und
Dankmar Adler aus dem thüringischen Lengsfeld nach Detroit, wo der
Vater eine Stelle als Rabbiner und Kantor der Jüdischen Beth-El-
Kongregation annahm. Dankmar Adler ging bei verschiedenen
Detroiter Architekten in die Lehre, hörte aufmerksam zu, als man ihm
erklärte, dass hoch aufstrebende Gebäude die irdische Manifestation
der Hinwendung zu Gott seien, kämpfte daraufhin drei Jahre lang im
amerikanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Unionsarmee und zog
schließlich mit seinem Vater in den späten sechziger Jahren des 19.
Jahrhunderts nach Chicago – rechtzeitig, um mitanzusehen, wie die
Stadt im Oktober 1871 von einem tagelang wütenden Feuer
großflächig vernichtet wurde.
Der Großbrand wälzte sich durch die Stadt und vernichtete
achtzehntausend Gebäude, hinterließ eine Ruinenlandschaft, die von
der damaligen Presse und den Autoren, die Begriffe für das zu finden
versuchten, was sie da vor sich sahen, als die Überreste des
schlimmsten Holocaust der Geschichte bezeichnet wurde, was ja, sage
ich zu Richard, wohl wörtlich gemeint war und zum damaligen
Zeitpunkt vielleicht auch zutreffend gewesen sein mag. Ich schaue ihn
kurz an und bemerke, wie sich dieser ganze Seitenarm der Geschichte
in einem gelangweilten Blick aus dem Fenster verliert. Sobald ich mit
Richard über Begriffe spreche, geht seine Aufmerksamkeit sehr
zuverlässig verloren.
Die Straßen der Stadt, fahre ich also fort, waren jedenfalls noch Tage
nach dem Brandende unbegehbar heiß, und die wenigen, die sich,
vermummt, als wäre der tiefste Winter über sie hereingebrochen, in
die Ruinen aufmachten, um die in Wandsafes und Stahltruhen
aufbewahrten Wertpapiere und Banknoten zu bergen, mussten nicht
selten mit ansehen, wie die papierenen Reste ihres Wohlstandes noch
in den rettenden Händen in Flammen aufgingen, als sie der flirrend
heißen Luft ausgesetzt wurden.
Es ist wahrscheinlich, sage ich zu Richard, den ich mir damit wieder
zurückgeholt habe, zumindest schaut er mich jetzt an, dass Adler
damals schon wusste, was für alle zu dieser Zeit in Chicago
ansässigen Architekten galt:
Dass nun seine Zeit gekommen war. Eine geschichtlich einmalige
Gelegenheit. Eine völlig verkohlte Brachlandschaft dort, wo vorher
noch die stetig wachsende Stadt gestanden hatte. Eine Leerstelle, von
der jeder, der zu Visionen fähig war, wusste, dass sie bald mit der
neuen Idee einer Stadt aufgefüllt werden musste.
Beim Anblick des Feuers, und wohl vor allem beim Hören der
Vielzahl von Geräuschen, die dieses Feuer verursachte, ist es Adler
und den anderen in Momenten der still in die Vision der späteren
Großtaten versunkenen Nachdenklichkeit bestimmt schon so
vorgekommen, als wäre das laute Krachen, Schnalzen, Prasseln und
Schlagen der verzehrenden Flammen, das Zusammensinken der
Balken und Mauern bereits ein tosender Applaus für das später von
ihnen vollbrachte Gestaltungswunder.
Herr Letterau führt mich in den ersten Stock, wo von einem kurzen
Flur drei Türen abgehen. Eine davon ist die Mitarbeitertoilette, die
andere der Lagerraum für Putzmittel, und die dritte, die er öffnet, führt
in einen schlauchartigen Raum, der nach einigen Metern im rechten
Winkel abknickt und an der Fensterfront entlangführt, von der aus
man den Strand und das Meer überblicken kann.
Es ist schon dunkel geworden, also sehe ich an diesem frühen Abend
nur das gelbliche Glosen der Laternen vor dem Haus, das sich ein
Stück weit über den verschneiten Strand erstreckt und dann verliert.
Der Rest ist wieder gespiegelter Innenraum im Fensterglas, Regale
voller Geräte, hauptsächlich Videorekorder und Radios,
aufeinandergeschichtete Computertastaturen, vor den Fenstern ist auf
der ganzen Länge eine Arbeitsplatte angebracht, auf der einige
Messgeräte stehen, Präzisionswerkzeug, winzige Schraubenzieher und
Imbusschlüssel, Pinzetten, Kontaktspray, Kriechöl, ein paar
schmuddlige Lappen und überall kleine Döschen mit sehr kleinen
Schräubchen, die außer Herrn Letterau niemand mehr ihrer Herkunft
zuordnen könnte.
Mittig auf dieser Arbeitsplatte befindet sich eine ordentlich frei
geräumte Stelle, auf der ein kleiner, würfelförmiger Fernseher steht
und oben auf dem Fernseher ein Videorekorder. Vor den Geräten
liegen zwei Fernbedienungen, parallel zueinander und zum Einsatz
bereit.
Es ist, erklärt mir Letterau, unter diesen Witterungsbedingungen fast
unmöglich, ein vernünftiges Fernsehsignal zu empfangen. Die
wenigsten Menschen im Ort leisten sich eine so hochwertige Anlage,
wie wir sie hier auf dem Dach haben. Es ist auch sehr schwierig, ihnen
diese Investition schmackhaft zu machen, weil sie selbst mit den
leistungsstärksten Systemen noch kein restlos befriedigendes Resultat
erzielen können.
Die Menschen wollen aber, sagt Letterau, wissen, was geschieht, und
ich biete seit einiger Zeit diese Dienstleistung an, die zur tragenden
Säule meines Unternehmens geworden ist. Und das würde ich jetzt
gerne an Sie delegieren, damit mir mehr Zeit bleibt, meinem
eigentlichen Handwerk nachzugehen. Ihre Aufgabe hier wird sein,
einen Abriss des täglichen Unterhaltungs- und Informationsspektrums
anzufertigen. Mit diesem Rekorder, sagt er und legt dabei seine flache
Hand auf das Gerät.
Mir ist absolut klar, dass Sie sich nicht alles gleichzeitig anschauen
können, aber das erwarte ich auch gar nicht. Sie werden ohnehin
sehen, dass es gar nicht so viel ist, was unsere Anlagen aus diesem
Granithimmel herauslesen können, und dass es außerdem mit der
Vielfalt im Programm nicht sehr weit her ist. Aber ich bitte Sie
trotzdem im Hinterkopf zu behalten, dass Ihr Primärziel die
Vollständigkeit ist und nicht der Bildungsauftrag oder der Nachweis
von Geschmack.
Sie werden hier jetzt jeden Tag, je zwei Stunden am Morgen, mittags
und abends, bevor Sie den Laden verlassen, Aufnahmen machen und
diese Aufnahmen als Erstes am nächsten Tag in ausreichender Zahl
vervielfältigen. Wir können unseren Kunden so zwar nur das
Programm von gestern anbieten, aber Ihnen ist ja vielleicht schon
aufgefallen, dass hier unter den Leuten eine gewisse Gleichgültigkeit
herrscht, was diese Begriffe angeht.
Ja, sage ich, das ist mir schon aufgefallen.
Am Anfang hatte ich noch beide Fernbedienungen in der Hand, mit
der einen schaltete ich durch die Programme, und auf der anderen
drückte ich die Aufnahmetaste, sobald ich das Gefühl hatte, hier zeigt
sich der Fernsehtag auf eine repräsentative Weise. Später dann setzte
ich mich einfach an den Arbeitsplatz, startete die Aufnahme und
sprang zwei Stunden lang durch die Programme. Dreimal zwei
Stunden jeden Tag, Frühstücks- und Mittagsfernsehen und das
Vorabendprogramm.
Zuerst erschien nur ein dicker Balken, der den Bildschirm
gleichmäßig von oben nach unten durchwanderte und an seinem
oberen Rand von ein paar bunten Strichen ausgefranst war, die mich
ein wenig an Flammen erinnerten. Ich schaltete auf den nächsten
Programmplatz und sah eine stark verzerrte Person vor einer
Wetterkarte. Das Land, das auf die Studiowand projiziert wurde, war
an mehreren Stellen durchbrochen und flimmerte, ebenso die Person
selbst, ich konnte sie kaum erkennen, aber ich glaubte sehen zu
können, dass sie mit den Schultern zuckte.
Das erste Bild, das halbwegs klar vor mir auf dem Bildschirm
erschien, war das einer Gruppe Polizisten, die Gasmasken und
Kampfmontur trugen und zwischen sich auf dem Straßenboden eine
Coladose hin und her traten. Im Hintergrund, das konnte aber auch
schon wieder an der Bildqualität liegen, stieg Rauch auf aus einer
Häuserzeile.
Ich erzähle Richard von den Aufnahmen, erzähle ihm von einem
Landwirt, dem eine sehr große Nase im Gesicht sitzt und der
gemeinsam mit einer schmalen, rothaarigen Frau auf einem Traktor
übers Feld fährt. Er sieht sehr glücklich aus, sage ich. Danach schaut
er aber plötzlich direkt in die Kamera, er ist jetzt allein und im Begriff
etwas zu erzählen, macht eine Pause, seine Augen wandern hin und
her, sein Kopf bewegt sich dabei nicht. Es sieht so aus, als würde er
versuchen, etwas hinter sich zu sehen oder zumindest in der
Peripherie, als müsse er sich absichern, dass da keiner steht und ihm
zuhört, der nicht hören soll, was er sagt, und dann sagt er: Na ja, wir
haben noch eine Weile da im Restaurant gesessen, und dann hat sie
einfach alles ausgesoffen. Sie ist wirklich ein Pferd manchmal.
Ich erzähle Richard auch von einem Motorradfahrer in feuerfarbener
Ledermontur, der die Stahlstreben einer großen Sundbrücke
entlangfährt, und von einem grauhaarigen Staatsmann, der sich in
einem sehr großen Plenarsaal aus edlem Holz unbeobachtet fühlt und
ausgiebig im Ohr bohrt. Ich erzähle ihm von einem Cabriolet, das auf
einer Serpentinenstraße in die Kurve fährt, darin zwei Gesichter, mit
aufgerissenen Mündern und Augen, aus Freude, sage ich, und aus
Angst, und wie in einem schwarz-weißen Niemandslandsbahnhof eine
düstere Gestalt in schwarzem Anzug, aus der Hüfte heraus und über
die Gleise, einem dicken Mann in den Rücken schießt, der dann
zusammensackt auf den Bohlen des Bahnsteigs, kurz bevor der Zug
einrollt.
Als ich zu sprechen aufhöre, habe ich kurz das Gefühl, Richard
klatscht gleich in die Hände vor Begeisterung. Er kickt jedenfalls mit
den Beinen aus, das habe ich noch nie an ihm gesehen. Und er bleibt
an diesem Abend zum ersten Mal, seit ich wieder zurück bin im Haus
meiner Eltern, noch lange im Wohnzimmer sitzen, neben mir auf der
Couch, vor dem Fenster in den Garten, wo der Schnee das diffuse
Schimmern der Straßenlaternen reflektiert. Ein stumpfer Widerschein,
kein Glitzern. Die Sonne hatten wir damals, denke ich, seit Monaten
nicht mehr gesehen.