Kerstin Preiwuß, LEIPZIG (D)

Geboren 1980 in Lübz, aufgewachsen in Plau am See und Rostock, lebt als freie Autorin mit ihrer Familie in Leipzig. Sie liest auf Einladung von Meike Feßmann.

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Sie sah dem Jäger nach, wie er sich langsam entfernte. Sein Hund trabte erst neben ihm her und lief dann voraus, die Schnauze dicht über dem Boden, Witterung aufnehmend. Sie wartete, bis die beiden nicht mehr zu sehen waren, dann folgte sie ihnen.
Sie mochte keine Hunde. Hunde zwangen sie, die Straßenseite zu wechseln, selbst wenn sie klein waren und an der Leine gingen. Sie konnte nichts dagegen tun, es war ein Reflex, dem sie sich jedes Mal wieder hilflos ausgeliefert fühlte.
Nach der nächsten Biegung kam schon die Brücke, vor der der Jäger sie gewarnt hatte. Ein paar Bohlen, an die ein Geländer aus Ästen gesetzt war. Es war nicht zu sehen, worüber sie führte, weil das Gras darunter alles überwucherte.
An manchen Sonntagen waren sie nach dem Mittag bis hierher spaziert. Nach dem Essen sollst du ruhn oder tausend Schritte tun. An der Brücke hielt Vater jedes Mal an, nahm seine Kinder beiseite und fragte, ob sie auch immer die Wahrheit sagten. Wer lügt und über die Brücke geht, bricht ein und muss im Sumpf versinken. Fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben. Sie gestanden immer alles: ein Stück Schokolade, heimlich abgebrochen von der Tafel aus dem Schrank. Eine schlechte Zensur. Danach betraten sie vorsichtig die Bohlen und hielten sich am Geländer fest, bevor sie sich abstießen und so schnell rüberliefen wie möglich. Einmal sagte Hans, dass er nicht mehr lügen würde und darum auch nichts gestehen könne, aber Vater sagte, dass er von mindestens einer Lüge wisse, und ließ ihn stehen. Während alle die Brücke überquerten, blieb Hans zurück. Als sie sich entfernten, verzog er sein Gesicht und begann zu weinen. Er hörte nicht auf damit, sodass Mutter sich wiederholt nach ihm umdrehte, aber Vater packte sie am Arm und zog sie weiter, bis sie sich so weit entfernt hatten, dass er nur noch zu hören war, und auch das verebbte bald. Als sie nach Hause kamen, wartete Hans vor der Tür, er hatte kehrtgemacht und war den ganzen Weg zurückgelaufen.
Etwas presste ihr den Atem ab und brachte die Luft zum Flimmern. Die Beine sackten ihr weg, sie musste sich am Geländer festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Im Gras zirpte eine Grille, ansonsten war alles still. Sie hielt erschöpft inne und stützte sich auf das Holz. Zwischen den Grasbüscheln stand dunkel das Wasser. Auf einmal war ein Brummen zu hören, es kam von einer Libelle, die erst stehend in der Luft verharrte und sich dann neben ihren Händen auf dem Geländer niederließ. So nah war sie erschreckend groß, Exemplare wie sie müssen Vorbild der Feen und Elfen in Märchen gewesen sein. Es hatte einmal einen Skandal gegeben, der unglaubliches Aufsehen erregte. Zwei Mädchen waren von einem Spaziergang heimgekommen und hatten behauptet, auf Elfen gestoßen zu sein, sie könnten es beweisen, sie hätten sie fotografiert. Die Bilder galten jahrelang als Sensation, selbst Arthur Conan Doyle, dessen Sherlock Holmes die Ermittlungsmethoden von Scotland Yard weltberühmt gemacht hatte, zählte zu den Bewunderern der Fotos und stellte bis zu seinem Tod ihre Echtheit nie infrage. Erst im hohen Alter brachen die beiden ihr Schweigen und gestanden die Fälschungen ein, sie hatten Elfenfiguren aus einem Märchenbuch abgemalt, ausgeschnitten und mit Hutnadeln im Gras festgesteckt.
Die Libelle hatte ihre Facettenaugen auf sie gerichtet und die Flügel gesenkt. Sie wusste nicht, ob das Tier sich provoziert fühlte, ihres Wissens sahen Insekten ultraviolett, sie müsste folglich von einer Purpurwolke umhüllt sein. Um das Tier nicht aufzuscheuchen, vermied sie jede Bewegung. Mit Libellen kannte sie sich nicht aus, Bremsen bissen, Bienen stachen aus Not, Wespen aus Lust. Auf Stiche reagierte sie allergisch, auf Bisse nicht. Plötzlich rollte es den Hinterleib hoch wie ein Skorpion. Ruckartig stieß sie sich vom Geländer ab und sprang zurück, während die Libelle aufflog und geräuschvoll ihren Weg durch den Sumpf fortsetzte.
Sie wartete, bis das Brummen nicht mehr zu hören war, dann betrat sie die Bohlen erneut. Mit langsamen, genau abgemessenen Schritten ging sie hinüber, wie um sich zu beweisen, dass die Brücke am Ende nichts als eine gewöhnliche Holzkonstruktion war, so wie der Sumpf bloß eine Ansammlung bestehender und vergehender Pflanzen. Nichts Besonderes, es führte nur eben kein Weg dran vorbei.
Am Waldrand stand ein Hochsitz. Sie kletterte hinauf, um dem Regen zu entfliehen. Oben war es eng, man konnte nur sitzen, stehen war allein in gebeugter Haltung möglich. Sie sah hinaus auf die Wiese. Von den Schuppen, die dort einmal gestanden hatten, war nichts mehr zu sehen. Das hier konnte auch die Mitte der Welt sein, alles erschien von hier aus gleich weit entfernt, das Meer genauso wie die Hauptstadt oder eine Grenze zum Nachbarland. Aber sie konnte sich noch gut an den Geruch erinnern, der von der Farm ausgegangen war und bei ungünstigem Wind bis zu ihnen nach Hause drang und Vater vorauseilte, wenn er von der Arbeit kam.

Schmal sind die Nerze und dunkel. Sie tollen durch die Käfige und halten immer die Spur: vor – zurück – vor – zurück. Oder sie verbeißen sich mit gesträubtem Fell in das Drahtgeflecht, rasend vor Wut über die Enge, und wenn man den Käfig hochnähme, würden sie einfach hängen bleiben. Auf der Farm sind es Tausende, die am liebsten durch das Drahtgeflecht flutschen würden, aber die Maschen sind zu eng. Durch jeden Spalt kommen sie, ganz dünn können sie ihre Körper machen, sich geschmeidig in jede Richtung biegen. Sie würden ihm durch die Finger gleiten und gleich an die Kehle springen, sobald er nur einen Moment nachließe in seiner Aufmerksamkeit. Sie riechen sein Blut, wenn er an den Gattern vorbeigeht, wie es gegen die Halsschlagader drückt. Sie gieren danach, dass es aus der Öffnung spritzt, die sie mit ihren Zähnen reißen, und stoßweise um ihre Schnauze fließt, erst schnell, dann immer langsamer, bis es die Barthaare verklebt.
Das aber darf nicht passieren, weil es den Wert des Fells vermindert. Die Farm ist berühmt für ihre Pelze, es ist die größte Europas, und es ist seine Aufgabe, dass sie sauber bleiben. Er kennt das von den Aalen, wenn man sie putzt, aber Aale haben eine Schmirgelhaut, die sich abschaben lässt wie Pergamentpapier. Das Fell der Nerze jedoch ist seidig, mit tiefdunkelbrauner Granne und feiner, klarer, blau getönter Unterwolle. Es gibt erste, zweite und dritte Sorten, weißledrige Winterware und eine blauledrige Variante mit schütterem Schweif. Die Winterfelle sind zu bevorzugen, die Sommerfelle stammen meist von verendeten Tieren, sie haben flacheres Haar. Durch die Zucht kommt es zu neuen Farben, Stahlblau, Silberblau, Bronzeblau, Platin, Lichtbraun, Gelbbraun, Beige, Lavendelbeige, Blassviolett, Schwarzkreuz, Saphir, Topas, Pastell, Creme, Naturweiß. Sechzig bis achtzig Felle braucht es für einen Mantel, weniger für einen Schal, Kragen oder Muff. Alles am Nerz ist verwendbar: Kopf, Kehlstück, Bauchstück, Rücken, Pfoten, Schweif.
Ihr Leben ist kurz. Ein paar Monate, bis die Haut unter dem Fell weiß geworden ist und sich die Haarwurzeln restlos in die oberen Hautschichten verlagert haben, so dass man sie ihnen abziehen kann, dann sind sie ausgewachsen. Die Ranz ist noch kürzer, nur einmal im Jahr bricht in den letzten Wochen im März die Hitze aus. Dann hebt er die Rüden aus ihren Käfigen und steckt sie zu den Fähen. Stundenlang hockt der Rüde auf der Fähe und ist nicht zu trennen von ihr. Gegen Ende drängt die Zeit, wenn jede Fähe gedeckt sein soll, also reißt er sie nach einer halben Stunde auseinander und setzt den Rüden bei der nächsten Fähe ab. Das geht so lange, bis die Hitze abklingt. Tagelang hört er ein heiseres Keuchen und sieht sie regungslos verpaart aufeinander in den Käfigen hocken. Die Fähe, die nicht trächtig wird, verliert ihren Pelz ebenso wie der Rüde, der nicht richtig deckt. Nur die Besten bleiben übrig als Zuchttiere für den nächsten Wurf. Weit bis zu den Vorfahren wird dafür ihr Stammbaum verfolgt. Sie sitzen in freien Gehegen im Tageslicht, weil das der Fruchtbarkeit zuträglich ist, während der Rest in den Schuppenkäfigen lebt, damit die Sonne das Fell nicht bleicht.
Dann hofft er darauf, dass das Weibchen an den Flanken dick zu werden beginnt. Er lässt es in Ruhe und gibt ihm mehr zu fressen, bis es sich nach ein paar Wochen in den Wurfkasten zurückzieht, sich dort auf die Seite legt und die Jungen herauspresst, immer im Mai, ein ganzes Knäuel, mindestens drei, manchmal auch sechs bis acht, noch blind und nackt, aber schon mit spitzen Zähnchen nach der Mutter gierend, nach ihrer Milch als Vorgeschmack auf all das Blut. Unsichtbar liegen sie an den Zitzen, nur hören kann er sie, ihr leises Fiepen, wenn er das Ohr an den Wurfkasten hält. Nichts darf die Fähe beunruhigen, auf jedes plötzliche Geräusch reagiert sie verstört und verwirft oder frisst ihre Brut. Nach sechs Wochen nimmt er die Fähe heraus. Der Wurf bleibt beisammen, bis die Jungtiere ausgewachsen sind, das geht schnell, ein paar Wochen nur. Danach werden sie einzeln in neue Käfige gesteckt, die eben frei geworden sind von ihren Vätern und Müttern. Dann erst bildet sich der Winterpelz, er zeigt sich zuerst an Füßen und Kopf und wächst dann langsam über den Nerz, bis er ihn eingeschlossen hat und auch die Ohren dunkel sind. Noch aber ist das Leder nicht reif und hat eine grüne oder blaue Färbung.
Vater kennt alle Stationen: das Füttern, das Hegen, das Säubern, die Ranz ohne Balz, das Töten, das Pelzen, am Ende das Fell. Er betreut achtzig Alttiere und bis zu dreihundertzwanzig Jungtiere pro Jahr. Er macht das gern, es sind schöne Geschöpfe mit perfekten Körpern. Mit den Handschuhen streicht er ihnen von außen über das Fell, selbst da muss er aufpassen, dass sie ihn durch den Draht nicht zu fassen kriegen. Erst wenn sie tot sind, zieht er die Handschuhe aus, um sie zu berühren. Er würde das lieber tun, wenn sie noch leben, einmal ihr pochendes Herz fühlen und den Finger drauflegen, am ganzen Leib spüren, wie sie vibrieren.
Nur im Sommer tun sie ihm leid. Ihre Pfoten, gemacht für den weichen Erdgrund, ratschen über den Draht, ihr Fell, dick und fettend für ein Leben im Feuchten, legt sich immer enger um sie und trocknet sie aus, bis sie ersticken. Dann sterben sie wie die Fliegen, und er kann, wenn er die Käfige entlanggeht, reihenweise hineingreifen und sie einsammeln. Da liegen sie, die Pfoten hängen aus den Maschen so weit heraus, wie es die Schwimmhäute zulassen, und zittern nicht mehr. Vater wird dann immer ganz anders, so viele auf einmal, das geht ihm nah, das lässt keinen kalt, nicht mal ihr Fell ist dann noch zu gebrauchen. Man müsste sie feucht halten, drei Bäder pro Tag, aber das verbraucht zu viel Zeit und Wasser und Energie, es kommen ja wieder welche. Die Überlebenden lässt er in der nächsten Ranz erneut aufeinander los, und dann jungt die Fähe und wirft neue Nerze in die Welt, und alles beginnt von vorn, und das für sieben, acht Monate, bis der Pelz sich gebildet hat, und dann packt er sie mit einer Zange am Genick und setzt sie auf einen Tisch, zieht sie auseinander, schiebt ihnen einen Pol in den After, drückt den Beißring in die Schnauze und hält sie fest, bis der Stromstoß sie durchfährt, und sofort strecken sie sich und sind nach etwa einer Minute tot.
Aber das ist nicht effektiv, da kommt nur eins nach dem andern dran, und es trifft einen, dabei zuzusehen, wie der Tod eintritt. Besser man macht es mit Gas, zwanzig oder mehr kommen in die Kiste, in die man Auspuffgase strömen lässt, nicht dass das Fell beschädigt wird. Weder Einschusslöcher noch Messerstiche, einfach Gas, das lautlos in die Nüstern dringt und die Körper nach etwa fünfzehn Minuten plötzlich erschlaffen lässt, dass er sie später mit der Schaufel rausholen kann, so viele auf einen Streich. Die Leiber liegen dann auf dem Holzrost wie niedergemäht und auf dem Boden liegt der Kot.
Dann sind sie nur noch Pelz, den man vom warmen Körper zieht, bis jeder Nerz wie ein Nacktmull aussieht. Weiß ist die Haut unter dem Fell und blind das Gesicht, denn Ohren, Lider und Nase werden mit abgetrennt. Am Ende bleibt kaum etwas übrig. Das Fell aber wird auf ein Brett gespannt, Füße und Schwanz mit Papier ausgestopft, und in einem luftigen Raum zum Trocknen aufgestellt. Dann werden sie verschickt und zu etwas Größerem verarbeitet. Kein Umriss ist mehr zu sehen, ihr Körper verschwindet in den Falten eines Mantels, über den bald eine Frau mit den Händen streicht. Ihre Handschuhe aus feinem Leder sind so dünn, dass jeder Nerz ihr die Finger zerfleischen könnte, aber sie spürt bloß das federleichte, wärmende Fell, wie es an den Spitzen zittert.
So geht das monate-, jahrelang, und die Pelze bekommt niemand zu sehen, das Fell geht gleich zum Kürschner und dann nach Leipzig auf die Messe, wo es ins Ausland verkauft wird. Einmal hat Vater einen Prospekt gesehen, mit dem für Nerzpelze geworben wurde, feinste Qualität made in GDR.
Es trifft den Vater, es setzt ihm zu, er wird den Geruch nicht los, der über der Farm wie eine Dunstglocke liegt, in jedem Geruch nach wildem Tier lauert der Tod, und manchmal geht das Zittern der Nerze in seine Hände über und er wünscht sich einen anderen Beruf. Aber er ist nun einmal hier gelandet und kann froh darüber sein. Nach dem Krieg hat er geholfen, die Gräber auf dem Friedhof auszuheben, es gab so viele, große und kleine, für Männer, Frauen und Kinder, die sich erhängten, in den See gingen oder an Tuberkulose starben.
Das und die Asche, die nach der Verbrennung an den Straßenbaudienst ging, waren nichts für ihn, gab genug davon in den Jahren davor. Also hat er sich zum Pflanzenbeschauer ausbilden lassen, da musste man nur prüfen, ob das Getreide von Schädlingen befallen war. Aber das war direkt an der Grenze und er kaum zu Hause, und man muss aufpassen, wenn man so weit weg ist von Frau und Kindern, lassen die Manieren nach. Man wohnt zusammen in einem Bungalow, man schläft zu viert in einem Zimmer, da kommt es vor, dass am Abend die Flaschen leer über den Boden kullern, bei den Erinnerungen, jeder trägt einen anderen Sack davon auf seiner Schulter. Ich kann dir Sachen erzählen, dass dir die Ohren schlackern und die Augen aufgehen. Als wir auf dem Weg zur Krim durch die taurische Steppe zogen, konnten wir aus der Ferne Pferde, Kamele und Antilopen erkennen. Inmitten der Steppe führte uns der Weg an einem Paradies vorbei, mit einem Zoo und einem Botanischen Garten. Das hatte ein deutscher Fürst angelegt, aber jetzt war alles verlassen und von den Deutschen keiner mehr da, nur ein Kreuz für eine alte Frau, wohl die Mutter des Fürsten, sie soll in dem Schloss von den Sowjets erschossen worden sein. Als wir weiterzogen, stießen wir auf deutsche Häuser mit spitzen Dächern und die weißen strohgedeckten Hütten der Ukrainer. Die Hütten haben wir abgebrannt. Davor schauten wir uns Filme an mit tanzenden Mädchen und nackten Beinen.
Aber lieber sitzt man zusammen und trinkt und schweigt sich an, das gibt genug Zusammenhalt, das wärmt auch so, und guck mal hier, das Loch hab ich vom Schuss, ich war nicht so geschickt mit links, aber es hat sich gelohnt, ich kam weg von der Front.
Die Bilder, mit denen er dann ins Bett geht, sind nicht ohne. Manchmal muss Vater nachts deswegen hoch. Dann zieht es ihn in den Schuppen, wo das Saatgut in Säcken lagert. Er ist nicht mehr ganz bei Sinnen, dafür aber voller Kraft, und der Saft kocht in ihm, und aus seinem Bauch strömt die Wut durch alle Adern und steigt die Nervenbahnen hoch, bis sie den Kopf in einen Hexenkessel verwandelt, und wann, wenn nicht jetzt, ist er ein Mann, und ob diese Säcke das nun wissen oder nicht, es ist Krieg, und er nimmt sich, was er braucht; bis sich die Arterien plötzlich zusammenziehen, sodass das Blut kurz stockt, bevor es weiterschießt, und ihm der ganze braune Saft vom Hirn aus rückwärts durch die Adern fährt, bis alles, was seinen Eingang nimmt, auch wieder seinen Ausgang findet, so wie die Menschen, die ins Haus getrieben werden, und rot sind die Menschenfackeln, die dann von innen an den Fenstern lecken, und als eine Fackel aus dem Haus stürzt, treibt er sie wieder hinein, rot ist der Hahn, der vom Hausdach kräht, rot die Gesichter der Kameraden, die mit ihm den Halbkreis bilden um das Haus, rot die Flammen, die auf einmal wie Weibergesichter aussehen und ihn mit ihren hohen Stimmen hinein locken wollen, bis aus den Weiberstimmen ein schriller Ton wird und er die Hände gegen die Schläfen presst und seinen Kopf zusammendrückt, damit das aufhört in ihm, als wären ihm Aale in den Kopf gekrochen und hätten sich dort ineinander verbissen, Zitteraale, deren elektrische Ladung sich nun entlädt, und rot fließt das Blut eines jeden Menschen aus seinem Körper, und rot ist die Farbe der Liebe wie auch der Wut, und schwarz ist am Ende nur der Tod, schwarz wird die Nacht, nachdem der Brand zu Ende geht, schwarz sind am nächsten Tag die verkohlten Leiber, aber weiß bleiben die Zähne, und weiß ist das, was sich während des Brandes aus ihm ergießt, weiß ist am Ende die Hand, die er sich vor den Körper hält und dann sauber durchschießt, eine Verwundung, die als Kriegsverletzung gelten kann; und endlich lässt der Druck nach, und er sieht, dass er im Schuppen an einem der Säcke lehnt, in den er reingestoßen hat, und wie es also mit einem durchgehen kann. Dann kommt die Scham und lässt ihn nicht mehr los. Die Scham kommt immer hinterher und hält dann an. Sie befeuert die Wut, bis sie hochkocht und sich die Aale durchs Hirn beißen und er am ganzen Leib erzittert, und das ist eine Formel, die fürs Leben gelten kann. Während es ihm das Hirn zerreißt, beginnen Lust und Wut sich untrennbar zu mischen, sodass er nicht weiß, warum er Lust empfindet, wenn er wütend ist, und immer erst in Wut geraten muss, um Lust zu spüren, und sich dieses geheime Gefühl von sich selbst als Mann auch auf alles andere ausdehnt, und von da an bilden Wut und Lust und Scham eine verhängnisvolle Kette.
Nur das Trinken kommt gegen das Zittern an. Es tut etwas mit dem Blut, lässt es dünner werden und kreisen durch Kopf und Lunge und wieder zurück in den Körper, dass er leichter atmet gegen den Druck, der auf ihm liegt wie Mehltau, der das schlimmste aller Übel ist, die eine Pflanze befallen können. Wenn der Mehltau auf den Pflanzen liegt, muss man alles vergasen, den ganzen Ertrag, und wegen der Fähigkeiten, die er beim Vergasen erworben hat, darf Vater den Arbeitsplatz wechseln und arbeitet seitdem auf der Farm.
Aber den Mehltau wird er nicht mehr los, und auch das Zittern hat er mitgenommen, und so kommt er häufig nicht pünktlich zum Abendbrot, sondern hält vorher noch bei dem und dem auf ein Glas, Klarer oder Brauner, bis es kocht, bis die toten Nerze wiederauferstehen und sich in ihre eigenen Felle verbeißen mit Barthaaren, die elektrisch aufgeladen sind vom Schnaps. Dann tobt ihm die Purpurwolke durch das Hirn, dann hat er die Wut, und vielleicht hat seine Frau was angefangen, während er den Tag hart arbeitet für das wenige Geld, vielleicht macht sie ihm ein Kuckuckskind.
Sie tut noch so, als wüsste sie nicht, dass man es ihr ansehen kann, er jedenfalls kann. Das Abendbrot steht in der Küche, die Kinder sind schon im Bett. Er weiß, dass sie ihn insgeheim verachtet, und wie gern würde er ihr einfach so ein paar Pelze mitbringen, damit sie sieht, was er arbeitet, aber es ist alles für die Produktion, es geht alles ins Ausland, ob ins brüderliche oder kapitalistische, ist egal, und dann muss sie ihn doch für einen Schwächling halten, der nicht mal seiner Frau etwas von der Arbeit mitbringen kann wie alle andern auch, Wurst oder Holz oder Schrauben vom Betrieb, und deswegen ist er in ihren Augen auch kein Mann. Dafür wird er sie erst einmal ordentlich vermöbeln, bevor er sie besteigt, und erst danach kommt er wieder zu sich und sieht seine Frau unter sich mit offenen Augen an die Decke starren. Einsamer ist man nie, aber das sagt er ihr nicht, sondern rollt sich zur Seite und schiebt ihr die Decke zu, es ist wichtig, dass sie weiß, er steht seinen Mann.

Sie musste weggenickt sein, denn als sie zur Lichtung sah, äste dort ein Reh. Das Reh nahm keine Notiz von ihr. Es wusste nicht einmal, dass es beobachtet wurde. Sie könnte es jetzt erschießen. Der Tod würde schnell sein. Wenn der Schuss ertönt, saust die Kugel schon heran und lässt nur kurz die Panik zu, ein Heben des Kopfs, eine halbe Körperwende, der Beginn einer Flucht, bevor sie von hinten durch die Schulter ins Herz eindringt. Sie formte eine Hand zur Pistole und zielte. Das Reh rührte sich nicht.
Auf einmal hob es den Kopf, scherte hinten aus und sprang in den Wald zurück. Kurz danach war Gebell zu hören, der Hund des Jägers stieß zwischen den Bäumen hervor und stürmte auf die Stelle zu, an der bis eben das Reh gestanden hatte. Sie duckte sich. Durch die Ritzen konnte sie sehen, wie der Jäger seinen Hund an der Schnauze fasste und laut auf ihn einsprach. Obwohl es nicht ihr galt, fühlte sie sich ertappt. Der Hochsitz war sein Platz, sie konnte nur hoffen, dass er ihn heute nicht brauchte. Es wäre ihr peinlich, wenn er sie entdeckte, sie fühlte sich wie jemand, der etwas Unrechtmäßiges tat.
Das Warten wurde zur Qual. Als sie das Reh aus dem Verborgenen beobachtet hatte, war ihr alles leicht erschienen, nun, da sie sich vor dem Jäger versteckte, erfand ihr Körper lauter Finten, um sie zu einer Bewegung zu nötigen. Langsam staute sich das Blut und ihre Hände und Füße wurden taub. Es drängte sie, ihre Haltung zu verändern, wenigstens den Rücken zu strecken oder einen Fuß. Der Drang war ungeheuer, und je länger sie still hielt, desto mehr wurde er zum Zwang. In der Zeitung hatte sie einmal von einem Mann gelesen, der auf einem Hochsitz gestorben war, nachdem er erst seine Familie und dann die Arbeit verloren hatte. Er hatte ein Hotelzimmer gemietet, dort Portemonnaie, Ausweis, Auto- und Wohnungsschlüssel auf den Nachttisch gelegt und war dann mit dem Fahrrad in den Wald gefahren, hatte das Fahrrad im Gebüsch versteckt und war auf einen Hochsitz gestiegen. Dort fand man ihn zwei Monate später mumifiziert unter einer alten Steppdecke, Arme und Beine an den Rumpf gepresst, in Hockstellung wie ein Embryo.
Von oben konnte sie hören, wie Hund und Jäger vorbeigingen. Der Hund hechelte und schnüffelte an der Leiter, bellte aber nicht. Eine Mücke kam angeflogen, sie sirrte ein paarmal um ihren Kopf, ließ sich an ihrer rechten Schläfe nieder und stach zu. Sie zwang sich stillzuhalten, bis die Mücke mit ihr fertig war, denn wenn sie auch nur kurz nachließe in ihrer Konzentration, würde sie die Kontrolle verlieren und hemmungslos auf sich einschlagen, als säßen da Hunderte Mücken.
Langsam entfernten sich die Geräusche. Sie behielt ihre Position bei, bis sie nichts mehr hörte. Erst dann hob sie den Kopf. Ihr Nacken war steif, und als sie die Beine streckte, waren sie taub. Sie kratzte sich an der Stelle, wo sie den Einstich vermutete, es juckte, und sie spürte, wie sich die Quaddel bildete. Dann versuchte sie aufzustehen. Es klappte erst beim zweiten Versuch.
Vorsichtig stieg sie die Leiter hinab und machte sich auf den Rückweg. Am Feldrand standen Schlehenbüsche. Eine Zeitlang hatte Vater versucht, aus ihren Früchten Schnaps zu machen, und sie zum Pflücken hergeschickt. Die Früchte lagerte er in bauchigen Behältern im Keller, tat Zucker hinzu, verschloss die Öffnungen luftdicht mit Knetmasse und wartete, bis sie vergoren waren. Aber der Schnaps schmeckte nicht, und so blieben die Behälter im Keller stehen, bis Hans sich einmal den Spaß erlaubte und dem Hund davon zu trinken gab.
Es regnete nicht mehr. Der Himmel hatte eine weiße Farbe angenommen, also wurde die Wolkendecke dünner und das Wetter besser. Sie ging zurück, ohne auf den Weg zu achten. Er war ihr immer noch vertraut, wie ein Muster, durch das sie, wenn sie es nur genau genug verfolgte, wieder an den Anfang gelangte und alles von vorn begann.