Olga Flor, GRAZ (A)

Geboren 1968 in Wien, lebt in Graz. Sie studierte Physik und arbeitete im Multimedia-Bereich. Seit 2004 freie Schriftstellerin. Schreibt Romane, Kurzprosa, Essays. Sie liest auf Einladung von Daniela Strigl.

DOWNLOAD TEXT: PDF

Olga Flor
Unter Platanen
Romanauszug

Das satte Geräusch des Ins-Schloss-Fallens blieb aus. Sibylle Klein schob die Matte zurecht und zog die Wohnungstür zu. Runter zu den Kindern, die im Wagen warteten; sie hatten nicht an die Regenjacken gedacht. Isabelle, 7, und Claire, 12. Isabelle kam zu Sibylles Eltern, die sich allerdings weigerten, beide Mädchen aufzunehmen, Claire übernachtete bis zu Maximilians Rückkehr bei einer Freundin. Sie durfte nicht vergessen, ein Geschenk für Leas Mutter auszusuchen. Was Vernünftiges. Doch was brachte man mit aus dem schönen Lissabon? Schön, hatten jedenfalls alle gesagt, denen Sibylle von der Reise erzählt hatte, doch Sibylle wollte nirgends mehr hin, Sibylle wollte ihren Frieden und in Ruhe im Büro herumsitzen und endlich die Publikation über das Verschwinden des öffentlichen Raums zu Ende bringen. Wieder einmal dachte sie, dass Hässlichkeit auf lauter verschiedene Weisen existieren könne, dass zum Beispiel jede Region ihren eigenen hässlichen Häuschenbaustil entwickelt habe, die deutschen Städte über ein anderes Aussehen des suburbanen Hausagglomerats verfügten als die irischen oder die österreichischen, dass aber leider der Umkehrschluss nicht gezogen werden könne, dass nämlich Schönheit international sei.

Das Konferenzzentrum in Lissabon sah aus wie alle Konferenzzentren dieser Welt. Hallend, unterkühlt, das Auditorium gerippt und riesig. Sie hielt sich einen der Kopfhörer ans Ohr, während sie am Rad zur Auswahl der Dolmetsch-Stimmspur drehte und den Glaskasten suchte, in dem diejenigen saßen, die zu diesen Stimmen gehörten. Sibylle Klein, 42, Soziologin, verheiratet mit dem Endokrinologen Maximilian Swoboda, Mitarbeiterin in einer Firma, die Gutachten zur Verkehrs- und Raumplanung erstellte und die sich darauf spezialisiert hatte, besonderes Augenmerk auf die sozialen Implikationen von Großbauvorhaben zu legen. Immer nahe an der Grenze zur Nichtverlängerung des Dienstvertrages. Hatte schon einige Kollegen überlebt, und dass die Messer lang wurden, wenn das Geld knapp wurde, womit es andauernd drohte, war ja keine Überraschung. Draußen das Denkmal für die portugiesischen Eroberer, die ohne Rücksicht auf Verluste himmelwärts stürmten, ein gewaltiger Reißzahn, den die Mündung des Tejo dem Meer entgegen bleckte. Vergangene Größe. Kennen wir, dachte Sibylle, die Österreicherin. Die Moderatorin erteilte dem Publikum das Wort, und ein Mann in einer der vorderen Reihen erhob sich, um es für sich zu beanspruchen. In dem Moment, als sich der Rücken streckte, damit die Hand an einem langen Arm das Mikrophon erreichen konnte, erkannte Sibylle die Form. Noch bevor er seinen Namen nannte und seine Funktion, war bereits eine Woge durch Sibylle gerollt, die sich nur kurz Zeit nahm, unterwegs innezuhalten, den Magen zum Flattern zu bringen und die Knie aufzuweichen. Yves. Yves Le Guerec. Ein großer Franzose, blond, kurzhaarig, gepflegter Stoppelbart, mit leichtem Hang zum Übergewicht, makellos gekleidet, der sich nun zum Saal wandte und in ebenso makellosem Englisch etwas ausführte, das Sibylle Wort für Wort hörte, ohne auch nur den geringsten Sinn darin auszumachen. Das Phantom. Der Währungsfonds, Paris Office, IWF, IMF, auf französisch natürlich FMI, die mussten ja immer alles umdrehen. Der Fressfeind, da war er.

Für den Abend hatte sich eine kleine Gruppe vor dem Hotel verabredet, in dem die meisten der Tagungsteilnehmer untergebracht waren, und sie gingen unter der Leitung eines ortskundigen Deutschen in einen der ältesten Teile der Altstadt, in die Alfama, wo sie sich auf einem engen, grillrauchgesättigten Platz zwischen niedrigen Häusern und unter vom Stadtfest verbliebenen Girlanden anstellten, um Plätze an einem der dichtbesetzten Tische zu bekommen. Sibylle unterhielt sich mit einer Abgesandten des dänischen Landwirtschaftsministeriums, einer hübschen schmalen Frau mit dunklen Haaren und schnellem Blick. Später saßen sie nebeneinander unter einem gewaltigen Baum, der den kleinen Platz ausfüllte – eigentlich war es eher ein Hinterhof, zu dem trotz des beträchtlichen Lärmpegels, den die Menge aufsteigen ließ, schmale Fassaden lufthungrige Fenster öffneten. Der Ortskundige gegenüber, von dem sich herausstellte, dass er ein Portugiese mit deutscher Mutter war und Guilherme hieß, riet ihnen zu gebratenen Sardinen. Überhaupt gab es hier eigentlich nichts als Fisch oder Fleisch, das auf einem offenen Grill gegart wurde, die Rauchschwaden mussten die Oberflächen der Möbel, die Wände der Wohnungen darüber längst völlig imprägniert haben. Der Fressfeind, was Dümmeres fällt dir nicht ein, dachte Sibylle.

Sie sah ins dunkle Laub des Baumes, in dem bunte Bänder und kleine Lämpchen befestigt waren, die noch nicht leuchteten: Sie glaubte sich zu erinnern, dass Platanen den Platz um den flachen rechteckigen Brunnen beschattet hatten, an dem sie sich zum ersten Mal alleine getroffen hatten, der Franzose und die Österreicherin. L’autrichienne. L’autre chienne, die andere Hündin, hatte er gesagt und gelacht, du kennst die Geschichte? Der Baumschatten hatte wenig geholfen; die Luft hatte gekocht in diesem Juli, Semesterende, Sibylle hatte an einer traditionsschwangeren deutschen Universität ein Gastsemester absolviert, die Getränke auf den Wirtshaustischen erwärmten sich rasch. Ist nicht gut ausgegangen, sagte Yves. Sie schluckte hastig und erwiderte brav: Marie-Antoinette, sie fuhr mit dem Daumen an der durchaus scharfen Schneide des für die Flammkuchenzerteilung bereitgelegten Messers entlang, hob den Blick und traf den seinen. Er sei ein bretonischer Bauernsohn, hatte er behauptet.

Daira, die Dänin, sagte etwas zu ihr, sie musste nachfragen. An der anderen Tischhälfte ging es mittlerweile um die Saatgutverordnung, und Sibylle gab Daira in allen Punkten recht. Als sie sich auf den Heimweg machten, war der Himmel schon dunkel, aus dem geöffneten Taxifenster sah Sibylle die Stadt leuchten, ihre angeblich sieben Hügel, die angestrahlten Türme der Burg, Art-Deko-Fassaden in den Prachtstraßen und freute sich über die rauschende warme Luft, die sich in großen Zügen trinken ließ.

In einem anderen Leben war sie auf Beinen, die unter ihr nachgeben wollten, durch kleine elsässische Grenzorte gewandert: Ein Fest auf einem Hochhausdach, bei dem der Soziologiestudent Yves Sibylle links liegen ließ, nachdem er sie in der Nacht zuvor auf einer Brücke hochgehoben hatte, um sie so innig zu küssen, dass der Bach unter ihnen aufrauschte. Zurück im Hotelzimmer überprüfte sie seine diversen Profile.

Am Frühstücksbuffet hielt sie eine Espressotasse unter den Schokoladenbrunnen, der eigentlich zum Überziehen der daneben in Schüsseln sorgfältig angerichteten Obststückchen (Ananas, Pfirsiche, Erdbeeren, Melonen: gelbe und rote Fruchttrapeze) gedacht war; sie ging zurück zum Tisch und tunkte die Löffelspitze in die zähflüssige Masse, die so süß war, dass es schmerzte. Vor den raumhohen Scheiben ein schmaler Streifen Tümpelpflanzenarrangement, dahinter eine kachelgeschmückte Wand, die das Sichtfenster zum jetzt am Morgen noch leicht diesigen Himmel auf einen Spalt begrenzte. Sibylle war froh, dass weit und breit kein bekanntes Gesicht zu sehen gewesen war, als sie den Frühstücksraum betreten hatte. Jetzt war es Zeit, sagte sie sich, allerhöchste Zeit für die Klärung folgender Fragen: Spinnst du komplett? Was tust du da? Wie kannst du auch nur an eine solche Möglichkeit denken? Ganz abgesehen davon, dass du ja wohl nicht vorhast, dir zweimal von ein- und demselben Mann Schmerzen zufügen zu lassen, und das wird er tun. Muster wiederholen sich, und die menschliche Lernfähigkeit tendiert gegen Null, schau dich an. Nur ein kleiner Teil von ihr dachte an Maximilian, das musste leider festgestellt werden. Maximilian. Selber schuld, wenn er kaum je einen Finger rührt, dachte sie trotzig und wusste im selben Moment, wie wenig ihm das gerecht wurde.

Und doch war sie es gewesen, die sich am Nachmittag von der Konferenz davongestohlen, eine halbe schwebende Stunde aus dem Fenster der unterkühlten Straßenbahn gesehen hatte, die sie zurück ins Zentrum Lissabons brachte, wo sie mit einem heiteren Stich in der Brust durch die Gassen gewandert, auf den Burgberg gestiegen war, gelächelt hatte und sich gefreut, als ihr ein Mann, der ihr Sohn hätte sein können, etwas in international verständlicher Straßenmanier nachrief. Idiotisch. Andrerseits hatte Yves ihr seine Karte gegeben, nach dem überraschten Innehalten, dem Suchen, dem Wetterleuchten seines Gesichts, als sie sich nach dem Ende der Podiumsdiskussion vor ihm aufgebaut hatte, ganz ohne Vorwarnung ihm oder sich selbst gegenüber, und nichts weiter gesagt hatte als: Hey. Salut wäre angebrachter gewesen und nicht dieses doofe Hey, aber es rutschte so aus ihr heraus und war so hingehaucht, dass es peinlich war und sie an seinen Blick denken ließ, den ersten direkten unverblümten Blick über der Messerschneide. Die Mundschleimhäute trockneten schlagartig im eingesaugten Lufthauch, während sie das Gefühl hatte, dass ihr Gesicht offen stand, völlig durchlässig und frei zugänglich, und dass er das sehen musste. Er lächelte warm: die Österreicherin. Wie schön dich zu sehen, sagte er dann mit sanft über den Tönen schwebendem Akzent, der ihm bei aller Perfektion in diversen Fremdsprachen immer geblieben war. Bist du länger da? Das Gesicht ein wenig furchiger, die Haut ledrig anstelle der Ausdünnung und des damit einhergehenden Gefältels, zu dem Sibylle neigte. Sie waren dem Strom der anderen gefolgt, kleine Blicke zur Seite, kleines Austesten, Abstimmen von Erinnerung und Gegenwart, reality check. Sie hatten sich beim Kaffee angestellt, und Sibylle hatte sich über die familiäre Situation reden hören, über zwanzig Beziehungsjahre, zwei Kinder, ich auch, hatte er zugestimmt, allerdings drei. Wieder ein Blick hinauf, in sein Gesicht: gleich die Claims abgesteckt.

Sie wich einem Mann aus, im Umdrehen streifte sie eine Ahnung von Yves’ Körpergeruch. Der reine Unsinn, sagte er gerade, ich schicke dir einen Artikel zu dem Thema, wenn du willst. Ja, gut, dass du mich erinnerst, dachte Sibylle. Sie lachte ihn ein wenig heiser an: dir ist schon klar, dass wir auf recht unterschiedlichen Positionen stehen? Das würde ich nicht so sehen, sagte er. Ich glaube, das Bild, das von unserer Rolle bei der Krisenbewältigung gezeichnet wird, ist doch stark verzerrt. Ja, dass ihr alle Sorten von Vereinnahmungsrhetorik drauf habt, kann man sich denken, entgegnete sie. Reden wir Klartext, sagte er.

Sie rief die Kinder an; Isabelle erzählte vom neuen Treppenlift der Großeltern und dass sie damit habe fahren dürfen, Claire war ausgesprochen einsilbig. Dann telefonierte sie noch mit Maximilian, der sich auf einem Arbeitsbesuch in einer Forschungseinrichtung im nördlichen Finnland aufhielt, seine Stimme warm und herzlich wie immer, und wie immer wunderte sie sich darüber, dass die bloße Distanz die Anteilnahme am eben geschehenden Alltag des jeweils anderen so sehr verstärkte. Sie erzählte lange vom Burgberg, den steilen Wänden und schmalen Gängen auf den Mauerkronen, die durch seitliche Mäuerchen von symbolischem Wert begrenzt wurden.

Später saß sie im Auditorium und bereitete die letzten Details ihres Vortrags (Aspekte der restriktiven EU-Einwanderungspolitik und ihre Auswirkungen auf die Preisgestaltung der Agrarindustrie unter besonderer Berücksichtigung der flächenspezifischen Ertragsdichte) vor und ärgerte sich, dass sie vergessen hatte, eine bestimmte Grafik zur Entwicklung der Zahl der in Spanien aufgegriffenen illegalen Arbeitsmigranten einzubinden. Beim letzten Coffeebreak stand Yves auf einmal in der Vorhalle im Gespräch mit einer wunderschönen Frau in Bankerinnenoutfit, Kostüm und Schühchen mit kleinen Absätzen, und Sibylle war erschüttert zu bemerken, dass sie enttäuscht war. Sie verließ das Gebäude, schnappte nach Luft, als ihr die Hitze entgegen schlug, und wanderte durch den angrenzenden Park; Horden von Touristen quollen trotz fortgeschrittener Tageszeit aus Bussen in Richtung Uferpromenade, wo sie sich gegenseitig beim Fotografieren ablichteten und unter dem Seefahrerdenkmal eine vollelektrisierte Kapelle in Indioumhängen „Don’t cry for me, Argentina“ intonierte. Sibylle drehte sich um und suchte eine halbwegs beschattete Bank, sie fand keine, so nahm sie die nächstbeste, auf der niemand saß, und spürte, wie der Schweiß aus den Achseln kroch und die Haare an die Stirn klebte. Sie spielte mit ihrer Konferenzchipkarte herum, die sie an einem Band um den Hals hängen hatte, und sah Yves auf sich zukommen. Schön ist er nicht, dachte sie, war er nie. War auch ganz egal, hat nie eine Rolle gespielt. Er strahlte sie an, sie strahlte zurück, so einfach ging das.

Ob sie nach dem letzten Block schon was vorhabe, oder ob sie Lust habe, die Gelegenheit beim Schopf zu fassen und möglicherweise mit ihm essen zu gehen? Diese ganze Zeit in Freiburg sei völlig versunken gewesen, sagte er, bis gestern, und es wäre doch nett, sich ein wenig zu erinnern. Nett, dachte Sibylle, du spinnst wohl. Das war nicht nett, das war heftig und traurig und ein glatter Herzbruch, so ist das. Die Wortfolge wollte ihr nicht aus dem Kopf: sonst doch nicht so melodramatisch. Ja, antwortete sie, das wäre nett.

Die Abendsession rauschte spurlos an ihr vorbei. Damals unter den Platanen hatte es ihr nicht schnell genug gehen können, das war vielleicht ein Fehler gewesen. Er hatte sofort wissen müssen, wie es um sie stand, und das hatte ihm von Anfang an Oberwasser verliehen. Sie erhob sich und spürte die vertraute Weichheit in den Knien. Nein, dachte sie, nein, auf keinen Fall.

Diesmal ein anderer Hügel: Es war seltsam, neben Yves zu gehen, sie erinnerte sich daran, dass das Nebeneinandergehen schon damals einen nicht geringen Teil ihrer gemeinsamen Zeit beansprucht hatte; er ging gerne, und sie betrachtete ihn von der Seite. Nein, schön war er nicht, aber etwas an ihm fand sie liebenswert.

Schließlich betraten sie ein Restaurant, das sich zu einem terrassierten Gastgarten hin öffnete, sie bekamen sofort einen Platz. Sie lächelte, schwieg, lassen wir ihm die Freude. Die letzten zwanzig Jahre: ein ergiebiges Feld, sie sprachen über Kinder, Schulen, Urlaube und Auslandsaufenthalte, streiften kurz das Thema Ehepartner, um zu signalisieren, dass alles ganz harmlos wäre, sie starrte seine Lippen an, noch immer weich und voll, und beobachtete ihre Bewegungen. Dass sie seine Stimme vergessen haben konnte, erschien ihr auf einmal ganz unverständlich.

Ob die Familie hier an der portugiesischen Küste sei? Er zog die Stirn kraus, musterte sie: ja, ein wenig außerhalb von Lissabon. Gut, dass du das sagst. Nicht dass nicht ohnehin jeder Gedanke an irgendetwas anderes als eine Rekapitulation – wovon eigentlich? – idiotisch wäre. Ein Tänzeln, ein Schritt vor, zwei zurück, bis jetzt Ouverture: das Leben dazwischen. Und dabei ging es doch genau um dieses Leben dazwischen, sie fragte ihn nach seiner Rolle, seiner Karriere, seiner Einschätzung zur Frage der Niedrigzinspolitik, das erste, was ihr einfiel, auch idiotisch, und befestigte die inneren Grenzpositionen. Man habe Fehler gemacht, sagte er. Und gleichzeitig flirrte es im Magen, brannte etwas in Sonnengeflechthöhe, alles einwandfreie Anzeichen dafür, dass ihr Körper ihn wieder erkannte, ganz biblisch. Was willst du mit dem? Alles ganz verboten, alles ganz verkehrt, alles ein Verrat an den Grundsätzen des eigenen Lebens.

Wieder Gebratenes, sie zerlegte eine Dorade. In der ersten Nacht waren sie übereinander hergefallen in seinem leeren Zimmer, bloß eine Matratze war vorhanden gewesen, ein Waschbecken und eine Kaffeemaschine, Bücherfußreihen entlang der Wände, Klo am Gang, sie erinnerte sich an seine Lippen und Bisse, die auf ihrer Körperoberfläche Wurzeln schlugen. Der Blick die Schwachstelle, das Einfallstor für Unabsehbarkeiten aller Art.

Oh mein Gott, sagte sie, als sie ihm endlich direkt ins Gesicht sah, und diese ganz und gar unstatthafte Anrufung ließ Lachen hervorquellen. Was bin ich froh, dass ich mittlerweile gelernt habe, Fische zu zerteilen. Damals, erinnerst du dich? – Sie hatte nicht einmal gewusst, wie man ein Steak auf einem heißen Stein richtig essen sollte, sie hatte es in kleine Teile zersäbelt. Leisten hatte sie sich das Steak auch nicht können, er hatte ihr Geld leihen müssen. Und da dieses: Weißt du noch, erklär mir, Liebe, sich endlich seinen Weg gebahnt hatte, gab es kein Halten mehr: Du hast mir das Herz gebrochen, sagte sie. Ziemlich sauber. Ich habe es nie verstanden. Das erinnere er anders, entgegnete er nach einer Pause, in der er den Kopf zurücklegte, die Augen schloss. Das sei eben so passiert, sie zurück nach Österreich, er nach Frankreich, keine böse Absicht. Ein Auto röhrte den Hügel hinauf, sie lachte und griff nach dem Wein. Er sah sie an, zu lange. Den Kindern geht’s gut? fragte sie. – Wie bitte? – Ach, vergiss es.

Er stieg mit ihr aus dem Taxi, er brachte sie zum Hotelfoyer, alles ganz klassisch. Sie verabschiedeten sich, er griff nach ihrer Schulter, Wange rechts, Wange links, so war das wohl geplant, und vielleicht war es ein klassischer Fall von Völkernichtverständigung, dass sie beide dieselbe Seite wählten und plötzlich Mund an Mund aneinander vorbeirutschten. Die Lippenhaut eine hauchdünne Grenzschicht, und der Kuss, der folgte, war ein durchschlagender Erfolg. Der Boden wankte. Sie ging auf Abstand, sah ihn an, dann näherte sie noch einmal ihr Gesicht: das ist vollkommen wahnsinnig, absolument, sagte er, sie küssten sich wieder, tiefer, anhaltender, zärtlicher. Ihr Körper machte sich selbstständig, ihr Körper glühte. Wieder löste sie sich: du hast monatelang nichts von dir hören lassen, stellte sie fest und drehte sich um, betrat das Foyer, wo der Türöffner, hier gab es sowas noch, oder wieder, die Krise, wer weiß, wo also der Türöffner so tat, als bemerke er sie eben erst. Sie ging zum Empfangstresen und verlangte den Schlüssel: Yves stand draußen und sah sie immer noch an. Ja, sagte sie leise, du weißt, wie man’s macht.

Sie war froh und ein bisschen stolz auf sich, entkommen zu sein. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? Was ging ihr ab? Der wunderbare, geduldige, verlässliche Mann, für den sie sich entschieden hatte, gerade weil sie gelernt hatte, am Wert der Leidenschaft zu zweifeln, war das Beste, was ihr passieren hatte können, das wusste Sibylle wohl. Also was war es, das sie suchte? Der innerste Wunsch, die Überbrückung zwischen zwei Körpern solle dauerhaft sein, der aufgrund seiner Unerfüllbarkeit in ein heftiges Verlangen nach Wiederholung des Ewiggleichen mündete, war schließlich benennbar und damit einzuordnen und sauber zu verräumen.

Maximilian erzählte vom Licht der Sommernächte, von Bier und Mücken, und sie war froh, dass er so voller Eindrücke war, dass er gar nicht auf die Idee kam, nach ihrem gestrigen Abend zu fragen. Schon beim Betreten des Kongresszentrums war sie nervös, doch andererseits: ein wenig Nervosität schadete auch nicht, ein wenig Lampenfieber steigert durchaus die Performance, allerdings musste es nicht gar so viel sein. Sie war als dritte an der Reihe und hatte Yves nicht im Raum entdecken können, es dauerte, bis die Routine das Ruder übernehmen konnte. Dann sah sie ihn aufstehen, und sie beschloss, dass er einfach ein Mann aus dem Publikum wäre, einfach ein interessierter Unbekannter: Er stellte eine Frage, die nicht dumm war, natürlich nicht.

Sie setzten sich wieder in den Park, diesmal mit Blick auf ein imposantes weißes Kloster. Bereust du’s? fragte er. – Was? Die Zeit ein bisschen dehnen, sie sah ihn an, ihn kommen lassen. – Er beherrschte das Spiel: Du weißt. – Nein, auf keinen Fall. War doch nur ein Kuss. Nur ein Kuss, die Einordnung so richtig und doch so kurz gegriffen. Aber dabei belassen wir es. – Ja, sagte er, dabei belassen wir es. Geht auch gar nicht anders. Meine Frau kommt heute Abend. Sibylle spürte den Schlag in die Magengrube. Sie begann in ihrer Tasche zu kramen. Er berührte ihren Handrücken, und im Aufsehen durchfuhr sie wieder der Zündfunke eines Blitzschlags: Gibst du mir deine Nummer, für alle Fälle? – Nein, sagte sie hastig, ruf mich nicht an. Besser nicht. Für alle Fälle hab ich ja deine. Sie lachte und hielt dem Blick stand, während ihr Körper ungehindert seine Endorphinausschüttung vorantrieb.

Sie schlug vor, das Kloster zu besichtigen. Er war einverstanden, und sie reihten sich in die Schlange der besuchswilligen Touristen. Damals hatten sie sich ständig irgendwas angesehen, es hatte Yves nicht zu Hause gehalten. Eigentlich warst du hyperaktiv, sagte sie, er lachte. Sie wanderten durch einen Kreuzgang in ziseliertem manuelinischen Stil, und stellten fest, dass die Lufttemperatur hier drinnen durchaus angenehm war. Ich habe drüber nachgedacht, sagte er. Ich glaube, mir war das alles zu viel. Zu intensiv. Ja, dachte sie, mag sein, vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht die lahmste Ausrede seit der Erfindung des Briefromans. Du hast gespürt, dass das nicht funktionieren würde. Instinktiv, mit dem Instinkt des Machtmenschen. Vielleicht hattest du sogar ein bisschen Angst vor mir. Wie auch immer. Irrelevant, heute.

Glaube nicht, dass ich nicht wüsste, wie problematisch wir mitunter agieren, sagte er vor dem Bild eines portugiesischen Königs. Manchmal denke ich darüber nach, den Job aufzugeben. Doch, ehrlich. Ja, dachte Sibylle, ganz bestimmt. Aber Macht hat dich schon interessiert? fragte sie und dachte daran, dass sie begonnen hatte Machiavelli zu lesen, nachdem ihr klar geworden war, dass die Sache mit Yves ein für alle Mal vorbei war. Ein für alle Mal. Das war nach der Phase gewesen, in der sie Rache wollte und vor derjenigen, in der sie ihren Frieden mit dem Umstand gemacht hatte, dass sie verlassen worden war, aus dem einzigen Grund, weil sie froh war über diese Erfahrung, froh trotz der Schmerzen, trotz des Gefühls, verraten worden zu sein, und froh darüber, dass sie bei allem Risiko, verletzt zu werden, dieses ungeheure Liebesempfinden zugelassen hatte. Die Konsequenzen dieses Risikos (der Risikoaufschlag) hatten sie dann ja auch mit voller Wucht getroffen, dennoch, sie war sogar ein bisschen stolz auf sich gewesen. Jetzt dagegen musste sie sich fragen, ob sie tatsächlich so dumm war, wie es den Anschein hatte.

Erinnerst du dich an den protestantischen Protesttrupp mit seinen Comics? fragte sie. Ja, sagte er, irgendetwas mit dem Teufel, dann stutzte er, holte sein iDings aus der Tasche und wischte drauf herum. Entschuldige, sagte er, griff nach ihrer Schulter, küsste sie auf die Wange, diesmal richtig, ich hab was vergessen. Kommst du zum Conference Dinner? Ein Blickstreifzug über sein Gesicht, das in leicht gehetzter Freundlichkeit vor ihr stand: Nein, wie kam sie dazu.

Sibylle sank in eine Nische des Kreuzgangs, über den weißen Mauern ein strahlendblauer Himmel, und dieser Kontrast hatte eine solche Postkarten-sommeridyllqualität, dass es kaum zum Aushalten war. Nicht zu fassen, sagte sie. Sie erinnerte sich an Regen, eiskaltes Wasser, das mitten in einer Hitzeperiode mit abrupter Heftigkeit vom Himmel gefallen war, und Sibylle viel zu dünn bekleidet und schon durchnässt, bevor Yves und sie unter einem Vordach Schutz fanden; Yves war einfach da gestanden und hatte eine Viertelstunde lang unverwandt in den Regen gestarrt. Platanen, ihre fleckige Haut, die sich ablösenden Rindenlinsen, das matte Silbergrün der Blätter, hatte sie stets mit französischen Plätzen verbunden.

Die Tage der Unschuld des Performativen, dachte Sibylle, wiederentdeckt. Nicht nur die Luft hatte gekocht in diesem Juli, auch die Proteste der protestantischen Sektierer, die ein aktionistisches Festival verhindern hatten wollen, seinerseits wiederum so berechenbar, dass es unangenehm berühren konnte (Blut und Widderschädel, Gedärm und Höllenlärmmaschinen, die das Publikum in einer leergeräumten Fabrikhalle vor sich her scheuchten: Grillparty), auch wenn die Tricks wirkten und die Menschen zu Massebestandteilen einschmolzen, die leicht zu steuern waren. Mittendrin hielt sich eine kleine junge Frau an einem großen Mann fest, einem sehr großen Franzosen genau genommen, der seiner Natur gemäß den Überblick bewahren konnte und lachte.

Am ersten Abend hatte sie ihm ihre Hand angeboten, zitternd, er hatte sie genommen, um sie so schnell nicht mehr loszulassen.

Yves hatte gerne gelacht. Er fühlte sich sichtlich wohl in seiner Haut, er lag nackt in der Sonne an einem Schotterteich und breitete sich aus. Manchmal lachte sie mit, gerade weil sie sich schämte, für alles, für ihren Körper, ihre Schwäche, die Trägheit, die sie daran hinderte zu erfassen, was sie eigentlich anfangen wollte mit sich und ihrer Zeit, die Unentschlossenheit, ihre sexuellen Vorlieben, sie lachte, um die Scham zu besiegen. Er küsste sie oft. Yves blieb stehen, griff nach ihrer Schulter, beugte sich zu ihr herunter und küsste Sibylle genau so, wie sie es mochte, ein wenig fordernd, nicht zu nass, voller Zartheit und Begehren. Eigentlich musste ihr damals schon klar gewesen sein, dass sie den Kürzeren ziehen würde, zu gut spielte er auf ihr. Ihre Gefühle schäumten auf, genauso absehbar wie die Fluchtbewegungen der Massenschwerpunkte in der dunklen Wellblechhalle.

Es war eine gar nicht zaghafte Annäherung an die Leidenschaft gewesen, und es stimmte, er hatte sie leiden lassen. Sie hatte mit weichem Knie das Gaspedal seines Wagens gedrückt, sie schwebte ganz alleine auf wackeligen Beinen durch wehrhafte menschenleere elsässische Orte und dachte an die sanft kreisenden Bewegungen der Finger, die ihren Darmausgang öffneten, während dieses Verschlingungsorgan in ihrer Mitte mehr forderte, mehr von allem, und vor allem mehr von ihm.

Erst später fragte sie sich, woher sie eigentlich käme, diese platonische Sucht nach einem anderen, einem zweiten Körper, als könnte der einem etwas zurückgeben, was man einmal gehabt haben muss vor dem Einsetzen der Erinnerung. Dabei wusste sie es im Grunde besser, in jedem dieser Augenblicke schon, dennoch: ihr Körper, ihr Verstand waren sich einig darin, dass sie wollten, mehr jedenfalls, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Kontrolle, ohne Innehalten, denn der Hunger bleibt ungestillt. Das Wesen der Leidenschaft: ihre Unstillbarkeit. Fast jeden Morgen, jede Nacht bekam sie es, das Mehr, und manchmal schenkte es Frieden, sie lag friedlich in seinen weichen Körper gehüllt, sein Arm um ihre Schultern und ihrer auf seinem Brustkorb, ein Bein auf seinem Oberschenkel, und beide schliefen ein.

Am Abend ein Glas auf der Dachterrasse mit der kurdischen Dänin. Sibylle hatte nur kurz mit sich gerungen, was das Dinner betraf, sie hatte nicht die geringste Lust verspürt, Yves nebst Gattin beiläufig die Hand zu schütteln, ihm von ferne verstohlen zuzusehen, seiner Interaktion mit ihr, die Vertrautheit zu beobachten, die Paare umgab wie ein Schutzmantel.

Später glitten Vögel über einen wolkenlosen Himmel, die kreisförmigen grünen Felder, die das ansonsten staubtrockene Land eigenwillig sprenkelten und eine deutliche Sprache von Wasserknappheit sprachen, waren ihr beim Landeanflug aufgefallen; Sibylle behielt die Terrassentür im Auge, während sie mit Daira Lebensgeschichten austauschte. Yves zeigte sich nicht, kein Wunder, er war ja auch in einem anderen Hotel abgestiegen. Im Zimmer fand sie eine Mail vor: Schade, dass sie nicht mehr gekommen sei, und schön, dass sie einander wieder begegnet wären, und er hoffe, sie könnten in Kontakt bleiben – sie rief Maximilian an, der schlaftrunken und leicht ungehalten ob der nächtlichen Ruhestörung abhob, und sagte ihm, wie sehr sie sich darauf freue, ihn wiederzusehen, dann starrte sie noch ein wenig auf Yves’ Worte.

Die Route des Crêtes hatten sie gemeinsam besucht, er war zu schnell gefahren und hatte die Kurven geschnitten, wo sie sich boten, was hatte sie erwartet, und das Bild dieser Versorgungsstraße für die Verteidigungslinie der französischen Armee im ersten Weltkrieg, immer ein wenig unterhalb des Hügelkamms auf der sicheren Seite, samt der Vorstellung von eingegrabenen Soldaten, ihren Unterständen und zerbombten Stellungen, mitten in lieblichster Landschaft, hatte sie verstört. Yves hatte sich in einen Bunker gesetzt, den Rücken gegen die Wand gelehnt, deren Außenkanten vor sich hin bröselten – aufrecht stehen hatte er nicht können – und sie sich auf ihn drauf; der kleine, verstohlene Akt, der dann im Schutz ihrer Regenbekleidung folgte, könne dem Ort nur Gutes tun, hatte er gemeint, und außerdem sei sie ihm das irgendwie schuldig als Deutsche. Der Akt der Versöhnung am banal stinkenden Ort der Vernichtung: allerdings geschah die pazifistische Großtat aus Verhütungsgründen auf die anale Art – kein Kondom dabei. Er sah ihr verzerrtes Gesicht, stockte, tu ich dir weh? Sie wusste es nicht. Schmerz- und Lustlaute sind leicht zu verwechseln, sogar von innen.

Ich bin keine Deutsche. Nein, ich weiß, Hündin, hatte er gesagt und ihr das Gesicht abgeleckt. Aber die Idee ist doch schön. Und er glitt unversehens und glatt tiefer in sie hinein, in diese Untertunnelung des Rückgrats, und unter der Kammlinie auf der sicheren Seite war kein Schmerz mehr. Viel zu spät fiel ihr ein zu sagen: Überhaupt schulde sie ihm gar nichts. Während der gesamten Rückfahrt wartete sie darauf, dass ein Brei aus ihr liefe, die Hose durchweichte, in den Autositz suppte. Doch nichts geschah, ihre Darmwände schienen alles Verdaubare zu absorbieren. Sie war stumm geblieben an einem rotweiß karierten Tischtuch, sie hatte ihn bestellen lassen, rede, hatte er gesagt, du redest doch sonst so gern. Sie hatte immer noch gespürt, dass und wo er in ihr gewesen war, sie hatte den Abdruck seines Körpers in sich getragen wie eine Merkhilfe. Yves hatte mit dem Kellner gescherzt, der ihnen irgendeinen billigen Wein kredenzte.

In diesem Leben setzte Sibylle eine Antwort an den Franzosen auf und fragte sich, ob die Falschheit von nun an Teil davon sein würde; doch sie fühlte sich nicht falsch. Sie fühlte sich so, als ob einfach zwei Flüsse in ihr flössen, jeder für sich mit einem ganz eigenen Ziel, schwarzes Meer, Nordsee, ohne dass der eine dem anderen je in die Quere kommen könnte. Sie fragte sich, ob es möglich wäre, Leidenschaft in eine durchaus nicht unglückliche Langzeitbeziehung zu integrieren. Punktuell, allerhöchstens, schloss Sibylle, denn Leidenschaft ist nicht nur unersättlich, sie verlangt auch nur nach dem, was fremd und noch nicht einschätzbar aus einer Ferne lockt, die gerade eben nah genug ist, um überbrückt werden zu können, zumindest manchmal, anfallsartig wie im Ladungsdurchbruch marodierender Gewitterwolken.