Georg Petz, GRAZ (A)

Geboren 1977 in Wien, lebt in Graz. Aufgewachsen in der Oststeiermark, Studium der Anglistik und Germanistik, Dissertation in Anglistischer Literaturwissenschaft. Er liest auf Einladung von Hildegard E. Keller.

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Millefleurs

Dieser Moment bleibt vorm Ertrinken:
Der Wind, der in die Wasseroberfläche fährt und sie schlägt mit Flügeln wie der Himmel überkopf, ein Vogelschwarm, zieht mich in Leserichtung seines Fluges mit nach unten.
Die Vogelperspektive wird den Untergang so in die Karten schreiben: zwei Schwimmer, schwer den Baggersee geschultert.
Dann nur noch einer.
Welle, Licht, Interferenz in der Schwarmerinnerung wie der Mohn im Kalk der Ufer.
Darüber Wiesen, ein paar Bauernhäuser, Apfelbäume und die Abtei von Jumiège, ihr Gerippe leergeräumt, nicht länger das Gewicht von Dachbalken und Schindeln als Joch auf den Gewölben.
Retour, wird Joseph fragen, über die rechte Schulter zu mir zurück, die Arme wie zwei Wasserschlangen links und rechts um seinen Torso.
Zurück, das sage ich mir selbst.
Du musst das nicht: Joseph wird niemals umkehren.
Erst mit dem andern Ufer unter seinen Füßen wird Joseph anhalten, in seine Kielspur sehen, Erster...! und das Wasser darin stumm, und keine Karte, die mich mehr verzeichnet, und Cecile am andern Rand des Sees, ihr nackter Rücken in der Ferne, demselben Sand wie vorhin eingeschrieben.
Sieht sie zu uns her? und es gibt niemals ein Zurück: Wo ich herkomme, wo ich Cecile auf der Willkommensfeier der Austauschstudierenden zum ersten Mal begegne, wo sie sich sechs Monate danach in der Abflughalle des Flughafens mit mir verlobt, hat man den Untergang schon immer der Umkehr vorgezogen.

Du wirst ihn mögen, hat Cecile gesagt. Er ist wie du.
Rouen, Kalkskelett, Gewölle, von der Seine an ihre letzte Windung vor dem Seegang hingespiehen. Taubenflug über die Kathedrale, wir treffen ihn am Markt neben der Eglise Jeanne d'Arc.
Die Menge mäandriert zwischen den Ständen, schwemmt Becken, Buchten darin aus, staut sich um Fisch und Käse. Dann trägt sie ein Gesicht nach oben und löst Cecile aus meinen Händen, nur ein Wort wie zur Erklärung: Joseph!
Cecile, die fremde Sprache läuft hier schneller als die Schulweisheit, als die man sie gelernt hat, wie ein Wasser in der Sonne, Lichter darin, Spitzen, Tiefen, dann fällt mein Name, schon so viel erzählt und eine Geste wie ein Flügelschlag öffnet das Gedränge.
Bonjour Joseph, ich möchte etwas sagen, aber die Sprache trägt mich nicht.
Höfliches Lächeln: Er spricht an mir vorbei und lässt mich stumm an ihrer Seite.

Das Innre der Eglise Jeanne d'Arc steht stiller.
Der Boden bricht nach unten weg ins Knie, fast wie im Hörsaal, doch die Decke steigt, spannt Segel, Flügel, breite Rippen, die sie tragen, moderne Phantasie der Schiffe, kielgeholt, mit denen Rollo einst hierherkam und sich Karl III. unterwarf.
Joseph sitzt links neben Cecile, ich bin die andre Seite. Seine Sätze zeichnen mit und weißt du noch... die Küsten einer zweiten Welt, die mich nicht kennt, Pizza Hawaii in der Taormina... der Ausflug in der letzten Klasse und der Abend in der Rue Cauchoise... Cecile ist Lachen und ein Händedruck, wenn ich sie ansehe.
Versteht er eigentlich...? – Ja, ich verstehe: dritte Person und ja, gibt ihm Cecile zur Antwort, er kennt sich sogar ganz hervorragend in französischer Geschichte aus, das habt ihr zwei gemeinsam.
Wie lange wir noch bleiben, fragt Joseph.
Wir fahren Sonntagabend, sagt Cecile.
Die letzten Tage hätten wir bei ihren Eltern in Montville verbracht, am Wochenende frei.
Wir könnten etwas unternehmen.

Der Vogelschwarm zieht jeden Morgen flussabwärts an die Küste, die langen Schleifen der Seine hinab, darin verfangen die Buchenwälder bleicher Könige. Im Wind der Salzgeruch der Muscheln und des Treibguts, das sich als Trauerrand grün an die Strände legt. Hier steigt das Meer an Land, und weiter noch, bis in den Himmel; man bändigt es mit Schlingen und mit Kreuzen... St-Martin-de-Boscherville, Duclair, Pont-de-Brotonne und Jumièges.
Mit nassen Segeln liegt der Pont du Normandie über der Mündung: Honfleur und die Touristenbusse wie an Land geschwemmte Wale: Stahlblau und reglos auf dem Rücken, den Blick nach vor, zurück zum Meer.
Und was im Meer geht, geht mit ihm an Land: Gischt und Pontoons, Treibmienen, shells: lose Austernkörbe, Miesmuscheln in Sturmbannführerschwarz, der Donner von den Dreadnoughts, rostrote Korallen schreien Stahl zehntausend Schritte gehen in den Sand und stehen nicht mehr daraus auf, die Flut geht hoch und rot hier im Kanal, der nimmt für jeden Tag des Monats noch dieselbe Zahl, dann erst die Ebbe, schimmert Fisch in bunten Sträußen von der Kimme, aus der See gepflückt und hingelegt wie zum Gedenken an etwas, das die Tide wieder fortnimmt, gnädiges Mutterwort der Zeit: Die löscht erst die Geschichte, ihre Kreideschrift, aus allen Landschaften, dass man einst wieder aber jetzt! und heute sagen darf: Heute kommen die Deutschen wieder.
Vor allem Deutsche: Das interessiert sonst keinen mehr.

Vor Caen gehn wir hinunter an den Strand, das Monument der Landung hinter uns.
Die hohe Küste, Blaskapellen. An der Straße steht das vorige Jahrhundert erneut mit seinen Panzern zur Parade, zum Gedenken: Jubiläumsfeier, Veteranen mit Schleifen an den Armen wie Grabgebinde, eng an ihre Brust geschmiegt, um Maß daran zu nehmen.
Ein Blütenteppich auf dem Sand, Millefleurs: Helldunkellila Astern und der Salzrand, den das Meer bei Ebbe hinter sich zurücklässt.
Cecile ist eine Hand mit mir, als wir darübersteigen, beim Eintritt in das Stundenland des Watts, den halben Tag lang Meeresgrund, halb Menschengrund.
Der Vogelschwarm wie ein Geschwaderschatten überkopf, ihre Worte Hand in Hand mit seinen Worten, wiedervereint in den Geschichten, die immer gleich beginnen: weißt du noch, beim Schulausflug... hinter den Panzersperren aus der Sicht gefallen wie die Kanadier, die erste Gauloise, von den Lehrern unbemerkt zwischen dem Seegras und dem schwarzem Schorf, dem oxidierten Stahl...
Und weißt du noch, wo jetzt gerade der Leclerc steht, hat Maude sich vor den Professoren in den Sand... so übel war ihr noch vom Vortag...
Die Astern jetzt wie Seesterne, dem Meer verloren und sonderbar bedeutungslos hier in der Bucht. Die steigt ein wenig höher, nimmt den Pfad auf ihre Schultern, trägt ihn an einer Installation vorbei, 280.000 Flaschen, ein lokales Künstlerkollektiv, Flaschenpost an meinen Großvater, dahinter sammeln sich die Leute, Familien, wie Treibgut rund um den Leclerc.
Wir warten, bis der Platz unter dem Rohr des Panzers frei ist.
Vor uns eine Frau mit Kinderwagen wie ein weißes Fleisch, darin ein Gleiches, ihr wie abgeschnitten, das Babymützchen und der Vogelschwarm als Schatten im Gesicht, Schlafaugen, viens! das Brüderchen an der MG, ein stolzer Vater legt ihm den Abzug in die Hand und so, so musst du zielen, siehst du, über Korn und Kimme. Nur die Visiere hat man abmontiert.
Ceciles Fotoapparat und Männer... sagt die Frau und gerne, wir lächeln, dann ein Klicken wie der Abzug, der Auslöser der Kamera und danke, oder nein, nur die MG.
...der stärkste Kampfpanzer der Welt, einhundertzwanzig Millimeter, 12 Schuss in der Minute, Sprachstakkato, Stichwortsalven der Werbebanner, wieder Banner, Bannerträger auch im Sturm und komm schon, sagt Cecile, wie lange wollen wir noch bleiben?
Warte, sagt Joseph, ein Bild noch, nur Cecile und er.
Die Kamera und eine Armbewegung, die mich nach hinten schickt, während das Brüderchen hoch im Gefechtsstand auf etwas Unsichtbares, auf sein Schwesterchen im Kinderwagen schießt, wie davon hochgeschreckt der Wind vom Strand.
Joseph, wie er Cecile so dirigiert, dass sie die Köpfe ganz eng beisammen durch die Tricolore stecken, durch die Banderole, die vom Panzerrohr herabhängt. So passt man besser auf das Bild. Mein Finger löst ihr Lächeln aus, es bleibt zu lange stehen.
Das macht die Ränder unscharf, sagt er, geh'n wir? sagt Cecile und zieht Joseph am Arm hinter sich her, der Vogelschwarm schreibt ihren Weg zurück an Land, zurück zum Monument der Landung. Windpockenweiß die Fahne vor dem Eingang, flattert als Zunge, stimmlos: sprachlos einem tauben Himmel immer dasselbe deklamierend, 1944-2014.
Heuer sind es weniger, sagt Joseph mit Blick zurück zum Strand, die Astern dort wie Sterne in ein totes Firmament gebettet.
Europas Kriege hätten Konjunktur: sie zelebrierten ihre Jubiläen, dasselbe Wetteifern darin wie vor Jahrzehnten, wer findet mehr Gefallen, mehr Gefallene: Caen oder Verdun....?
Wie furchtbar, sage ich.
Was weißt du schon, flüstert Joseph.
Das hier ist unsere Erinnerung und muss doch eure Sprache sprechen.
Unser Land, und ihr habt eure Namen jedem Hügel eingeschrieben, und Kreuze für die Namenlosen.

Bevor ich untergehe, halten wir einen Augenblick lang an, wo der Grund sich plötzlich nach der Wasseroberfläche streckt, dass selbst Joseph nicht mehr über der Sandbank schwimmen kann. Ich höre, wie er flucht, er steht, die Knie sind offen.
Ich wische mir das Wasser aus den Augen, die Beine wie die Schlinggewächse in der Tiefe, ihr weites Spiel zwischen dem Auftrieb und der Schwere.
Ich lasse mich ins flache Wasser fallen, setze mich, der Atem kehrt nur widerwillig wieder. Wasserwesen sind wir, nur der Blick lebt über Land: Cecile am Rand des Baggersees auf dem helldunkellila Handtuch, die Hand über den Augen, die Sonne hell, das Wasser klafft mit tausend Mäulern, macht alle Menschen klein und die Geräusche groß, die nicht von ihnen sind: die Radiomusik von der Kaffeeterrasse, Wind und Vogelschwarm als Rauschen in den Kronen des Eichenwäldchens vor dem Parkplatz, der Walgesang der Straße: Motorräder, der Rettungsschwimmerturm pfeift uns vom Strand aufdringlich hinterher, wir sehen ihm nicht nach. Die hohlen Augen der Abtei von Jumiège am Horizont, und lassen wir das, will ich sagen.
Du kennst sie überhaupt nicht, sagt Joseph.
Du weißt nicht, wie sie ist, und wie ein Vogelschwarm geht es in solcher Weise über seine Züge wie schon vor Caen am Strand, in Blauweißrot gerahmt, dahinter der Leclerc, stählerne Miene.
Du bist zu schwach für sie, sagt er.

Lass' dich von ihm nicht einschüchtern, flüstert Cecile, bevor wir in das Wasser gehen.
Joseph ist so... er ist so... lächelt sie, schüttelt den Kopf, je ne sais pas und hat ihn vor den Augen, am Strand beim Schulausflug vor sieben Jahren, im Wasser vor mir, Wasser überall an seinen Beinen, kein Zittern, nicht einmal die Lippen helldunkellila von der Kälte und plötzlich das Gefühl, wie leicht es für ihn wäre, mich abzuhängen und den See zu überqueren.
Auf dem Rücken könnte er mich tragen, mir beim Ertrinken zusehen, noch ein Weile über mir mit schräggestelltem Ruder kreisen und zu Cecile zurückkehren: Der da habe es nicht geschafft.
So sei nun einmal die Natur: Sie komme, wenn sie einem komme, hart und kalt.
Und sie kommt einem rascher mit Ceciles Küssen auf den Schultern und am Schlüsselbein, ihr Rücken plötzlich wie die Wellen hohl, fällt sanft nach hinten, ihre Finger hinterher und wie mit einem Flügelschlagen löst sie ihr Bikinioberteil, viens, sagt sie.
Sagt es in seiner Sprache, dann drückt sie sich an mich.
Die Wand der Umkleidekabine hinter mir ist nur ein hohler Ton, sie kichert, was denn, sagt sie, geht es nicht?
Nicht hier, die Wände zwischen den Kabinen bis zu den Knöcheln hochgezogen, draußen Kinderstimmen, Spinnennetze unterm Dach, ausgestorben und wie grauer Rauch, selbst hier noch Wasser, das mit Pfützenaugen im Waschbeton zum Himmel starrt.
Cecile zieht ein Gesicht.
Joseph wartet, sage ich
Ich sage es zu laut und wie ein Vogelschwarm flieht es durch die Kabinen, zieht eine weite Lichtung um das Badhaus, um die Sanitäranlagen, zieht fort über den grünen See: die Bagger und die Schotterrutschen am andern Ende und die kleine Sandbank wie ein Boot in seiner Mitte.

Joseph erreicht das Fort als erster.
Joseph, der vor der Flagge der Normandie posiert, die Tricolore weht hier nur als eine unter vielen vor dem Eingang.
Joseph, der sagt, wie langweilig und nach Ceciles Blicken horcht, sie kichert Zustimmung und blickt zu ihm zurück. Die Stille zwischen diesen beiden Gesten sagt lass ihn, er kennt das alles nicht.
Ich finde es auch langweilig, sagt sie.
Gehen wir zurück hinunter in die Stadt, und ihre Hand geht schon den Weg voraus aus meiner, vorbei an dem in Grund und Boden gesunkenen Donjon Guilleme le Conquerants zurück zur Porte des Champs. Die Festung selbst ein weites Feld: Spiegelbild derselben Festung an der Themse, White Tower, Bastard, einer Vaterschaft entsprungen, und doch vom Wasser in zwei Reichshälften geteilt, und alles geht von hier aufs Meer und alles, was das Meer trägt, landet hier: Tabak, Vanille, Schokolade und Kaffee, einmal Café au Lait, zweimal Espresso. Die Karte sagt Caen, Boulevard Marèchal Leclerc, Boulevard des Alliés und zeichnet uns exakt an ihrem Schnittpunkt mit der Avenue des 6. Juni ein.
Joseph, der eine Zigarette raucht, Cecile plötzlich an seiner Schulter, und ja, sie darf, er öffnet ihr das Päckchen, und seit wann...? will ich nicht fragen, ziehe die Fototasche näher an den Tisch heran, dass sie nicht fortschwimmt mit den Strömen der Touristen, die um diese Zeit zurück zur Orne, zur Küste fluten, zum Kanal. Süchtige eines unsichtbaren Mondes.
English spoken. Man spricht Deutsch, sie tragen ihre Reiseführer wie Visiere vor den Augen, sagt Joseph, dass man nicht sieht, wohin sie gehen.
Und wie sie alles das berühren müssten: den Stahl, die Einschusslöcher, den Beton, weil Macht am Ende etwas Körperliches sei.
Weil Macht immer Gewalt über den Körper haben müsse; der Körper sehne sich nach der Verbindung mit der Macht, und umso mehr, je größer und je schrecklicher sie sei – der Schrecken ihre Sprache, seine Befehle gingen stumm.
Dann schauderten sie kurz zusammen mit der Hand am Rohr einer der Kanonen in den Bunkern, die Finger lesen blind in Höhen und Vertiefungen, wonach sie suchen, Eigentum der Deutschen Wehrmacht, Swastika, die eigne Sprache dem andern in den Sand, unter die Haut geschrieben, abgrundtief hinein in die Geschichte.
Wenn man sie dabei ertappe, hielten sie die Büchlein in die Höhe und gingen rasch in Deckung hinter der Geschichte; ihr Interesse sei nichts anderes als Camouflage, Legitimation des eignen Lustempfindens an der Macht.
Joseph, der nach dem letzten Wort einen Zug von seiner Zigarette nimmt und sie im Aschenbecher vor uns ausdämpft: die Geste schließt den Raum zum Widerspruch darunter.
Joseph, der ins Metallgeflecht der Rückenlehne, in den Kaffeehausstuhl zurücksinkt und Cecile stellt von der Seite her ein Lächeln zwischen uns, zur einen Hälfte mir, zur anderen ihm zugedacht, vereint und trennt zugleich wie der Kanal, zwei Reiche, und sie liebt es, sagt sie, wenn wir Männer um das Lächeln einer Frau die Welt erklären wollen...

Und deshalb der Leclerc und die Paraden und die Blumenteppiche am Strand von Arromanche, Gold, Sword, Juno, Utah, Omaha: Millefleurs und nein, ich glaube nicht an dieses ewige Mann gegen Mann mit dem Trommelfeuer der eignen Fäuste auf der Brust.
Joseph, der mit den Schultern zuckt: Ich müsse das so sehen.
Das sei die einzig mögliche Sicht der Dinge, die den Unterlegnen bleibe und in sein Schulterzucken sage ich, ich weiß nicht, ob der schmale graue Nachbar des Heimathofes meiner Mutter jemals eine solche Brust getragen habe.
Ob sie ihm auch gepasst hätte, und ob sie ihm nicht augenblicklich wieder von den Schultern gefallen wäre, und wenn doch: Was hätte sie ihm seit der Zeit, als die Front ihn hier vorübergehend an der Küste abgelagert hatte, so eng gemacht neben dem Schnaps und seinen Zigaretten, noch viele Jahre später, dass er sie endlich eines Abends hinters Haus ins Beet getragen habe und sich den Jagdstutzen an ebendiese Brust gesetzt und sie sich zwischen Rosenkohl und Astern vom Leib geschossen habe?
Noch nicht einmal ein Wort habe er seiner Frau gesagt: Er habe überhaupt nicht viel gesprochen, habe die eigne Sprache dort gelassen, hieß es, in Frankreich, wo man ihn mit sechzehn Jahren als katholischen Gymnasiasten für diesen einen Schuss bestimmte: und viel zu lange ein verfehltes Leben.
Was sollte das denn, sagt Cecile während Joseph zum Zahlen nach drinnen ins Kaffeehaus geht, ihr Zigarettenstummel eng an seinen gerollt am Grund des Aschenbechers. Diese Geschichte erzählten sie in allen Variationen auf den Tafeln im Museum.
Sie selbst habe sie dort gelesen.

Der Rückflug führt über den Baggersee.
Das sind die letzten Dinge vorm Ertrinken: Wir parken unsern Wagen am Rand des Eichenwalds, darin wie ausgerupfte Federn ein paar Zypressen, Laub und Nadeln über bleichem Kalk, ein dünner grüner Schorf von Gras dazwischen, dann ein sanfter Abhang, Tickets im Café bei den Toiletten und Kabinen.
In einem Winkel schwimmen Kinderrutschen, Bojen zur Absperrung des Nichtschwimmerbereiches in Rotweißrot, die Wasserfläche und ein Vogelschwarm, der still und schwarz über der Blendung aufsteigt, Gegenlicht, das andre Ufer, die Skelette und die Krakenarme der Baumaschinen wie aus einer anderen Zeit.
Wir breiten unsre Handtücher wie unsre Flaggen aus und nehmen darauf Platz, Cecile in unsrer Mitte.
Gehen wir schwimmen, fragt Joseph in ihre Richtung.
Geht ihr zuerst, sagt sie, sie bleibt der Sonne.
Wir gehen langsam los, dann schneller. Obwohl das Wasser kalt ist, bleibe ich nicht stehen.
Joseph ist einen Schritt vor mir: keine Geschichten jetzt, die Sonne auf den Schultern. Dann lässt er sich ins Wasser gleiten und ich tue es ihm nach.
Die Kälte drückt mir auf die Glieder und etwas wirbelt in mir auf wie eine Übelkeit, aber Joseph hat schon die ersten Züge gemacht und ist nichts als ein wenig Gischt und Vogelflug am Weg zur Absperrung.
Er muss es nicht erst sagen.
Ich weiß auch so, wohin es geht, wie eingeboren und Gesetz: das andre Ufer.
Joseph schwimmt schnell, das sehe ich bereits nach ein paar Metern.
Ich schlage mit den Beinen und fahre mit den Zehen in den Grund, das Wasser ist hier noch zu seicht, das ist ein Schmerz und etwas, das sich anfühlt wie ein offenes Stück Fleisch, aber ich habe keine Zeit dafür, dann wird das Wasser tiefer.
Geht in mich: geht mir in Augen, Ohren, Mund und Atem, geht mir durch und durch wie Stahl, wenn man es schluckt.
Dann geht es über meine linke Hand nach unten: Der Verlobungsring wiegt plötzlich glatt und schwer, ich muss die Finger zur Faust zusammenballen, um ihn nicht zu verlieren.
Und sonderbar, wie wenig er hier zählt. Er macht mich nur noch langsamer.
Wie wenig, was das Land verbindet, am Wasser noch bedeutet, wo es nur Joseph gibt und das andre Ufer, mich und Cecile in unserm Rücken. Ich weiß nicht einmal, ob sie zusieht.
Mein Herzschlag trommelt mir mit wilden Fäusten an die Brust, zu eng, sie wird und wird nicht breiter, dann erreiche ich die Absperrung, die Bojen wie Pontoons über den Wellen, und überrascht, wie groß sie aus der Nähe sind.
Wie klein der Pfiff vom Turm der Rettungsschwimmer geworden ist, und ich versuche, mich an der Absperrung emporzuziehen und hinweg, aber mir fehlt die Kraft. Ich tauche unterhalb hindurch, das ist die Tiefe an den Füßen, ein stummer Abgrund, frisst an mir, und das ist erst der Anfang.
Ein kalter harter Wind wirft Wellen in die Wasseroberfläche, wie tausend helle Blüten bricht das Licht darin, schlägt mir in mein Gesicht, ich kann den Arm kaum heben, um das Wasser und die Haare aus meiner Stirn zu wischen, und ich schwimme weiter.

Erst bei der Sandbank hole ich ihn wieder ein.
Er läuft als erster darauf auf, ein lauter Schrei, ein Fluch, immer noch Pfiffe hinter uns und plötzlich steht Joseph im Wasser.
Eigene Beine wiegen schwer, ziehen nach unten, doch ich bin gewarnt, suche den Boden nur auf Zehenspitzen, finde ihn endlich, warm und weich.
Bist du verletzt?
Ich frage nur, um ihn zurückzuhalten.
Kopfschütteln, willst du aufgeben, fragt er.
Nein, sage ich auf Deutsch. Niemals, zur Hüfte hoch im Wasser, jetzt trägt es mich, ich kann nicht länger stehen.
Bon, sagt er, schwimmen wir, besiegelt meinen Untergang.

Ich werde nicht ertrinken.
Ich werde mich nach jedem Armzug flach aufs Wasser legen, hoffen, dass die Wellen und der Wind mich weitertreiben.
Der Schatten eines Vogelschwarms wird über meinen Kopf hinweg über den See gehen, als liege ich bereits an seinem Grund, den Schmerz noch in den Gliedern, aber schlafen, endlich schlafen, die Türme der Abtei von Jumiège in all ihrer verfallnen Pracht, hoch aufragend, die Schulterblätter ihrer Giebel spitz über ihren ausgefressenen Chören, die hohe weiße Mauer, die sie fasst, dass keiner ihrer Steine je verloren gehe.
Ich werde daran denken, wie alles mit dem Wasser kommt und geht: Normannen, Engländer, Salz, Austern, Spanier, Gewürze, Deutsche und Amerikaner, Flut, Ebbe, Zeit und selbst das Land: Austern wieder, Muscheln, Krebse, Leben, Sterben, weißer Kalk, die Eiszeit und die Trockenheit, die Gletscher und die weiten grünen Weiden, darauf die Rinder und der Regen.
Ich werde Wasser schlucken und selbst Wasser werden und womöglich eben dadurch andernorts erneut daraus hervorgehen.
Joseph liegt knapp vor mir, das Ufer nahe, und womöglich ist da etwas, das ich sage oder es sind immer noch die Pfiffe aus der alten Welt weit hinter uns.
Und ihre Ordnungswut nur Echo, ohne Widerhall.
Joseph hält an und dreht sich zu mir um.
Alles in Ordnung, fragt er, schaffst du es?
Ich nicke, unsichtbar im Wasser, schwimme weiter.
Schwimme auf ihn zu und plötzlich ist er nur noch einen Atemzug, nur eine Armeslänge vor mir. Ich kann den Rückstoß spüren, den er mit den Beinen neben mir ins Wasser schreibt, ein Druck und tausend silberweiße Perlen wie Blüten auf dem Wasser, dann die Haut an seiner Ferse, rau und weich zugleich, ich schlage meine Fingernägel tief hinein, dass er sich nicht mehr lösen kann.
Sein Tritt geht leer und ich bekomme noch mehr von seinem Bein zu fassen. Halte ihn fest, ziehe nach unten, höre nicht, was er noch über Wasser nach mir schreit: Ich bin der Stein, der Stahl, der Abgrund, der ihm an den Fersen hängt, lasse mich fallen, falle und er fällt mit mir.
Joseph schluckt Wasser, schlägt nach mir, ich bin tief unter ihm. Ich stoße ihn zur Seite und es liegt auf einmal rot wie Rauch im See.
Joseph hält sich die Nase, lässt mich los, die Augen wie die hohlen Blicke der Abtei.
Ich trete zu und spüre seine Schultern an den Füßen und stoße mich mit aller Kraft von ihnen ab.
Dann geht endlich wieder Luft in meine Lunge, der warme weiche Wind der Eichenwälder, und etwas drückt mir schwer und müde in die Knie, Land unter, und das andre Ufer.

Erst nach einer Weile wird Joseph an derselben Stelle aus dem Wasser steigen. Er setzt sich neben mir ins Gras. Ich sehe zu, wie sich das Blut um seine Nase dünn mit Wasser mischt und dann versiegt und endlich dick und schwarz gerinnt wie der Rost an den Barrieren von Arromanche. Ich höre, wie er neben mir nach Atem ringt.
Kannst du nicht einfach abhauen, sagt er.
Cecile, sag ich, der Ring an meinem Finger.
Die Handtücher am andern Ufer sind inzwischen wie tausend Blumen aufgeblüht, hell, dunkel, lila, blau, weiß, rot, mauve, beige, Cecile auf einem davon, winkt, ein weißer Seestern in der Ferne.
Wir sollten ihr nichts sagen, sage ich.
Du weißt doch gar nichts, sagt Joseph, doch es klingt anders als zuvor: Joseph, der sich die Hand über die Augen legt, um nichts zu sehen.
Joseph mit meinen Nagelspuren überall am Leib wie die Nesselzeichnung der Korallen, auf Grund gelaufen, rot und reglos, und wie klein.
Joseph zwischen dem Sand und Gras und den Maschinentieren der Schottergrube hinterrücks, und nein, möchte ich sagen, nein, ich habe meine Lektion gelernt: Ich weiß.