Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Dorothea Dieckmann (Bild: ORF - Johannes Puch)
Dorothea Dieckmann
Guantánamo – Roman

(ca. 160 S., erscheint im Herbst 2004 im Klett-Cotta-Verlag) Auszug aus Kapitel 4 (von 6), Anfang
      Er kniet an der hinteren Käfigwand. In den Käfigen ringsum turnen sie wieder auf ihren Handtüchern. Seit dem dinner hat Rashid auf der Matratze gelegen und überlegt, ob er aufstehen soll. Es fällt ihm schwer, denn er hat ein unsichtbares Loch in seinem Innern, und nur das Essen kann es für kurze Zeit stopfen: Reis, rote Bohnen, Kohl, eine Banane. Doch sobald er sich aufrichtet, spürt er den Hohlraum zwischen Becken und Hals, der immer größer wird. Trotzdem funktioniert alles normal, nur seine Knie schmerzen auf dem harten Beton. Er arbeitet langsam und genau, zu jeder Bewegung muß er sich entschließen. Mit der Handfläche reibt er die bröckelnden Spuren vom Boden, wischt die Mischung aus Dreck und Kreide am orangeroten Hosenstoff ab und öffnet die Tube mit der Aufschrift Government Item Mint Toothpaste.

      Wenn Zahnpasta in der Sonne trocknet, wird sie brüchig. Sie erstarrt, bekommt Risse, schrumpft. Zugleich bleicht sie aus. Das Hellgrün, das aus der Tube quillt, wird gipsweiß. Dann pulverisiert der Belag, bis man ihn wegpusten kann. Ein Boot, ein Galgen, Kreise, Wellen, Zahlen, alles verschwindet als weißer Staub, in Tagen, Wochen. Deshalb geht Rashid sparsam mit der Paste um, wenn er seine Käfigverzierung erneuert. Pro Buchstabe reicht ein kleiner zäher Tropfen auf dem Zeigefinger, für das I ein halber. Jede Linie zieht er fett an der Kante der Fingerspitze entlang, dann streicht er mit der Kuppe noch einmal darüber, so daß neue, fingerbreite Farbstreifen auf der Betonfläche entstehen, längs, schräg, quer und einer rund: K-I-R-A-T. Bisher hat keiner der MP’s seine Zeichnungen entdeckt. Gegen Buchstaben sind sie mißtrauisch; sie würden einen Sinn darin finden. Überall stecken I und A, Rashid, Tarik, Kirat, Islam, Buchstaben im Würfelbecher, geheime Verbindungen. Tarik und Islam, der chaplain Muham¬mad Halabi-Islam, sind weg. Übrig sind Rashid und Kirat, die Eidechse.

      Als er sie zum ersten Mal sah, klebte sie wie ein großer grüner Neonbuchstabe am Fuß der Bretterwand, kopfunter, leuchtend, starr. Augenblicklich erstarrte auch er. Sie war sehr schön, und sie kam aus einer anderen Welt. Sie gehörte nicht ins Lager. Er fixierte sie, als könnte er sie mit dem Blick festhalten, und blieb in der Stellung, in der er sie entdeckt hatte, mit angezogenen Knien auf der Matratze sitzend und den Kopf halb über die Schulter gewandt. Er meinte zu sehen, wie sich eins ihrer Augen bewegte, eine mechanisch rotierende Kugel in einem toten Relief. Nichts deutete darauf hin, daß in dieser Figur ein Herz klopfte oder Lungen atmeten, und trotzdem war es ein vollkommener Körper, selbständig und unantastbar. Die Gestalt, die halslos in den spitz zulaufenden Kopf überging, zeigte wie ein Pfeil senkrecht zum Boden hin und verjüngte sich oberhalb der abgespreizten Beinchen in den langgestreckten Schwanz, länger als Kopf und Rumpf zusammen. Der komische Schmuck wirkte überflüssig und zerbrechlich, er machte aus dem Kriechtier ein eigensinniges, unverwechselbares Lebewesen. Eine Eidechse eben, eine Elle lang, von einer kühl glühenden Farbe, wie sich Rashid das Meer in der Nähe vorstellte, am Ufer, wo der gelbe Sand das blaue Wasser färbt, und hellgelbe Flecken wuchsen auf dem Türkis, hellgelbe Streifen zogen von den Schultern unter den Augen bis zum Maulspalt.

      Nach einer Weile entdeckte Rashid, daß tatsächlich Wellen an der Oberfläche zuckten. Kleine schillernde Schatten wischten die Flecken weg und ließen sie wieder erscheinen, ein Lichtspiel, dessen Quelle in dem Tier selbst liegen mußte. Er starrte, er vergaß sich selbst. Der Wechsel der Zeichnung auf der grünen Haut sah aus wie ein Selbstgespräch. Er wollte es verstehen. Irgendeine Bedeutung bewegte den unbewegten Körper, irgendein Versprechen. Zuerst schienen sich die wandernden Flecken zu vermehren, sie fanden zu einer Bewegung zusammen, und mit einem Mal pflanzte sich eine große Welle aus der Mitte bis zu den Körperenden fort und wusch das Grün aus, es wurde blasser, wärmer, das ganze Tier schien zu erlöschen und gleichzeitig neu zu entstehen. Vor Rashids Augen wurde aus dem Meergrün ein helles Holzbraun. Die Eidechse verschmolz mit der Bretterwand. Sie rührte sich nicht. Es war ein Zauber, und er galt ihm. Die gelben Flecken waren geblieben, sie zitterten weiter. Rashid beugte sich vor, bis er die Maschen nicht mehr sah, und als er fast den Draht berührte, peitschte der Schwanz lautlos zur Seite, bildete einen Kringel, und der Pfeil schnellte los. Kurz über dem Boden erstarrte die Eidechse noch einmal mit erhobenem Kopf, dann fiel sie ins Gras. Hellbraun stob sie durch die Halme und verschwand. Ras¬hids Herz hämmerte, es zappelte in der Brust wie ein Vogel in der Faust.

      Seither besucht sie ihn, sie kommt, wann immer er will. Zuerst hat er stundenlang die Bretterwand angeschaut. Nur er konnte den Pfeil mit der stumpfen und der langen Spitze sehen, der unbewegt zwischen den vorrückenden Schattenbildern stand. Er sprach heimlich zu ihr, und das Stimmengewirr in seinem Kopf wurde leiser. Dann hat er das Zeichen in den Käfig geholt. Die blasse Minzfarbe der Zahnpasta, in der das Meergrün der Eidechsenhaut steckt, verlor sich allmählich, bis nur noch eine weiße Kreidelinie auf dem Fußboden übrig war. Nachts leuchtete sie in dem kalten Ton, den alles Weiße unter den Scheinwerfern annimmt. Einzig die gebogene Form erinnerte an Kirats Leib. Rashid hat ihr den Namen gegeben. Sie erfährt von ihm, was im Lager passiert. Sie weiß, daß ein Soldat MP heißt und ein Gefangener Orang und daß Tarik den Namen wegen der Anzüge erfunden hat. Was er ihr aufzählt und erklärt, rückt von ihm weg. Es ist eine stille, schwere Arbeit mit vielen Pausen. Er erzählt, wie die Dusche aussieht und wie lange der Strahl hält, bevor man wieder auf den Knopf drücken muß; daß ihn der Usbeke an einen Hund erinnert, daß er die Schwarzen haßt und sie anbellt; daß er sich beim Schneuzen ein Nasenloch zuhält und aus dem andern pustet und der Rotz im Draht hängenbleibt. Er erzählt, wie er die daunenartigen Fusseln, die aus den hohen Gräsern kommen, auf dem Boden zu einem Häufchen zusammengekehrt und gezählt hat, und von dem wattigen Gefühl, wenn man sie durch die Hände rieseln läßt. Er erzählt ihr nicht, daß er an die weißen Federchen dachte, als er unter der Dusche stand und ein Gesicht suchte und feststellte, daß es weg war und daß sich sein Schwanz nicht regte. Auch nicht von den Verhören, die im Käfig weitergehen, den Verhandlungen. Sie versteht nichts davon. Sie ist nur eine Eidechse. Es reicht, daß er von einfachen Dingen redet, die zu jemand anderem gehören, nicht zu ihm und nicht zu ihr. Es gibt ihm fast das Gefühl, von Wirklichkeit umgeben zu sein. Ab und zu liest er ihr aus dem Koran vor.

      Er betrachtet den trocknenden Schriftzug, der sich rückwärts TARIK liest. Der Name ist komisch und beliebig, genau wie sein eigener. Manchmal weiß er für Sekunden, wie es war, Rashid zu sein. Dann empfindet er das Gewicht, das ihn in der Welt hielt, selbst wenn er sich oder die Welt nicht leiden mochte. Ein rundes, pulsierendes Gefühl meldet sich zurück, dünn und und fern, wie jemand, der winkt, nachdem er sich längst verabschiedet hat. Die Erinnerung wird seltener und schwächer, und das ist gut so, denn es tut weh, dies schöne dumme Einverständnis verloren zu haben. Rashid hat seinen Namen lange nicht mehr gehört. Für die interrogators in der Verhörbaracke ist er Mr. Bakhrani, für die MP’s sand nigger oder raghead oder fucking terrorist. Draußen, bei der Eskorte, nennen sie ihn guy oder man oder two-o-four. 204 steht auch auf dem Armband aus hellblauem Synthetikstoff, das um sein Handgelenk geschweißt wurde, 204 ist die Nummer, die er auf die postkartengroßen, linierten Formulare schreiben muß, die er nach Hause schickt, DETAINEE JJJ A 204, 160 Camp X-Ray, Washington, DC 20353, USA. Von dem Usbeken nebenan kommt nur ein Raunzen, wenn er Rashid ansprechen will, es klingt wie hoj, oder er ruft Schörrmen, German, um ihn in irgendeinen Ärger hineinzuziehen, über das Futter oder den Lärm oder über einen schwarzen MP. Meistens sitzt er mit dem Rücken zu Rashids Käfig auf dem nackten Boden, den Kopf zwischen den aufgestellten Knien, und murmelt vor sich hin. Die Fäuste rechts und links trommeln schwach auf den Beton, in einem stockenden, von Pausen durchsetzten Rhythmus. Zwischendurch springt er manchmal auf und rennt stumm mit dem Kopf gegen die Wand, einmal, zweimal, dreimal, der Draht scheppert, und der Usbeke verharrt zuckend und keuchend, mit hängenden Armen, bevor er sich auf die Matratze wirft, als hätte er nach schwerer Arbeit seinen Feierabend verdient. Es dauert nicht lange, bis das Murmeln wieder einsetzt. Nachts schreckt Rashid davon aus dem Dämmer, den wirren Begegnungen, und er fängt selbst an zu sprechen, flüsternd, mit Kirat. Jetzt spinnt er wieder. Alle sind verrückt. Ich bin verrückt. Vielleicht kannst du mir erklären, wo das hinführen soll. Schließlich bist du hier zu Hause. Treibst dich wieder rum. Die Zahnpasta leuchtet. Kirat hört ihn von draußen. Zwischen ihm und ihr ist nur Luft.

      Die Eimer sind ausgewechselt, das Schattenspiel auf der Bretterwand ist erloschen, der Anbruch des künstlichen Tags steht bevor. Noch hat der Weg eine müde Erdfarbe. Er ist leer wie immer während des Gebets. Irgendwann haben sich die MP’s zurückgezogen; die Wut von Allahs Orangs hat sie vertrieben. Suleiman hat einen angebrüllt, der beim Mittagsgebet mit großem Gerassel ein paar Fußketten auf dem Boden hinter sich herschleifte. Die Patrouille schlug ihn in seinem Käfig zusammen, bis er nicht mehr aufstand; am Abend war er weg, sie hatten ihm einen Arm gebrochen. Das ist lange her. Es ist stiller geworden im Lager. Selbst wenn sich wieder jemand aufgehängt hat, gibt es kaum Aufruhr. Diese Männer verschwinden. Warum, weiß man erst, wenn sie wieder auftauchen, denn alle tauchen wieder auf, anders als Tarik, anders als Suleiman, sie kehren in ihre alten Käfige zurück, auch sie stiller als vorher. All die Verrückten zappeln, doch sie zappeln in einem trägen Element, das ihre Bewegungen verlangsamt und vervielfacht, auch der Usbeke, sein bulliger Kopf kracht gegen den Draht, er tobt und spuckt durch die Maschen, andere toben und spucken durch die Maschen, das gehört dazu, sie werden bestraft, sie werden runter- und wieder hochgestuft, eine Dusche pro Woche, zwei Duschen pro Woche, sie essen und schlafen und werden abgeholt und wiedergebracht, weiter nichts. Alles in Ordnung da draußen.

      Nur drinnen Gedränge, ein unsichtbares, nervöses Gedränge. Der Chor stört ihn, das Gemurmel und Gehampel. Er hockt sich aufs Kopfende, lehnt vorsichtig die Stirn an die Drahtwand, betrachtet seine Arbeit. Er will Ruhe. Sie sind bei Ibrahim und nochmal Ibrahim, inneke hamîdum mecîd, gleich ist Schluß. Aber er weiß, es hört nicht auf, das Beten, so wenig wie das Schimpfen und Tigern und Rütteln, alles drängt herein, sein Käfig ist zu eng dafür. Sie husten und schneuzen und schnarchen, sie scheißen, pinkeln und wichsen in die Abfalleimer. Sie kauern, glotzen, schweigen. Auch das Schweigen dringt durch die Drahtwände, wie die MP’s, wenn sie die Kette kreischend durch die Maschen ziehen und hereintrampeln, sie stampfen auf, treten auf seine Handtücher, lassen die Eimer überschwappen, werfen die Tür ins Schloß, daß die grelle, empfindliche Leere im Körper widerhallt. Das Geräusch und Geflacker, immer ist es da, immer kommt es plötzlich, läßt ihn blinzeln, hochfahren, zusammenzucken, nicht anders als die Mücken, die am Körper kleben und in den Ohren summen, und kein Entkommen. Esselâmu aleykum. Sie stehen auf und rollen die Handtücher ein, die heiße Luft vibriert mit dem Scharren, Rascheln. Der Lautsprecher knackt. Wieder einmal hat sich die Sonne um den Käfig gedreht. Jeder Tag umwickelt das Gehäuse mit einem neuen Draht. Jedesmal, wenn die Lampen angehen, ist der Käfig kleiner geworden. Die Lampen gehen an.

      Die Farben verblassen wie in Bleichmittel getaucht, am Boden erscheinen die Drahtmaschen. Das Wabenmuster ist undeutlich, ein verwaschener Schattentep¬pich. Erst wenn das Zwielicht vergeht, liegen bis zum Morgengebet schwarze verzerrte Rauten auf dem bläulich widerscheinenden Beton, ein engmaschiges Ra¬ster aus schräg übereinandergelegten Gittern. KIRAT, die Schrift zwischen dem Kopfende und dem Abfalleimer, ist stumpf geworden, nur im Bogen des R glänzt das Grün noch. Rashid vermißt die Figur. Der ganze Käfig ist verändert. In den Buchstaben ist die Eidechse kaum mehr zu erkennen. Statt dessen erscheint TARIK. Auch Tarik schrieb seinen Namen verkehrt herum. Einmal hat er ihn auf arabisch in die Luft gezeichnet, und so blätterte er im Koran, von rechts nach links. Rashid hat sein Aussehen vergessen, nur die Erinnerung an das zerknautsch¬te Gesicht an der Käfigwand deutet darauf hin, daß es ihn gegeben hat. Als er weg war, hat er eine Zeitlang mit ihm geredet, doch die Stimme, in der Tarik nach langen Pausen antwortete, in seinem gebrochenen Englisch, ohne Ankündigung, war ihm unheimlich. Manchmal meldet er sich noch. Andere kamen dazu, je weniger Rashid sprach, desto mehr. Sie kommen von draußen und versammeln sich unter der Haut, if we get your help, we’ll help you, das Höllenfeuer sei nun euere Wohnung, und ewig bleibt darin, eschhedu enne Muhammeden‘abduhû ve rasûluh, ask your interrogators, antworten Sie, oder Sie werden Ihre Eltern nie wiedersehen, head down, er ist der Allweise und Allwissende, ask your interrogators, viel zu nah, viel zu laut. Seitdem redet er, um sie zu übertönen. Kirat ist immer da, und sie ist stumm. Er streckt die Hand aus, streicht über das feuchte R und leckt den Finger ab. Ein krummes Rau¬tengitter fällt auf seinen Arm, die Lücken strahlen violett. Draußen wächst seine Silhouette aus dem Gras die Bretterwand hoch. Die Wand ist leer.

      Die Schritte auf dem Weg sind fest und schnell, sie gehören dem Doktor. Rashid schluckt den Kaugummigeschmack. Ein Walkie-Talkie fiept, two-two-six, es rauscht, yes, sagt die Stimme des Doktors in seinem Rücken, I’m just coming, die Schritte schließen auf, hämmern an Rashids Trommelfelle, verklingen wie ein Echo. Dreck krümelt auf Rashids Zunge. Zum ersten Scheinwerferlicht gehört der schleichende Gang des Islam-MP, des chaplain Muhammad. Die heisere arabische Melodie an Tariks Käfig und das langsame Englisch, be as patient as possible, read, read every day, it will help you, dieselbe Stimme und das hohle dunkle Gesicht hinter den Maschen. Das Buch liegt im Schatten des Abfalleimers, dies ist der ruhmreiche Koran, aufgeschrieben auf der im Himmel aufbewahrten Tafel, grünweiß wie die Duschzelle, die Zahnpasta. Read the last Sures, they are short, they are right for prayer. Rashid ist zu schwer, um aufzustehen, er scheut die Mühe, immer wieder schlagen dieselben Seiten von alleine auf, dabei unterscheiden sie sich nicht, auf jeder werden die Bösen bestraft und die Guten belohnt, denn Allah ist allmächtig und allweise, die Sätze sind lang, die Geschichten führen im Kreis, zäh und fade, vom Paradies zur Hölle und wieder zurück, voll toter Wörter, rechtschaffen und frevlerisch und ruchlos und demütig. Allah will, daß die Füße der Opferkamele richtig stehen und den Bösen der linke Fuß und die rechte Hand oder die linke Hand und der rechte Fuß abgehackt werden. Es ist ein Märchenbuch für Kinder und Alte und Dumme, es gehört nicht ins Lager, es gehört nicht zu den Plastiktellern und Toilettenhäusern, Lautsprechern und Scheinwerfern. Nur zu den Gefangenen paßt es, es wimmelt von Buchstaben und Namen und Völkern und Städten und Kriegen, eine riesige Versammlung unter freiem Himmel, und am Ende kann Allah immer zwischen Gläubigen und Ungläubigen unterscheiden, und die Gläubigen lachen die Ungläubigen aus. Rashid weiß, er ist böse, er ist ein Ungläubiger. Nur wenn er im Buch liest, kommt er sich gläubig vor, denn es redet zu ihm wie ein Brief, aber er kann nicht lesen, er kann nicht aufstehen, er will nichts tun, nur still sein und reden, mit dem chaplain, mit den interrogators, mit Kirat.

      Kräftige Schattenlinien streichen die Zahnpastabuchstaben durch, genau wie die schwarzen Balken die deutschen Wörter in Papas Brief, cleared by U.S. Forces. Rashid macht die Augen zu, das Nachbild vertauscht die hellen und die dunklen Striche, bis sie verschwimmen. Also, sagt Rashid zu Kirat, der Doktor ist da. Er stockt, er wartet. Leise und unregelmäßig, wie tastende Schritte, trommeln hinter ihm, auf dem Boden des Nebenkäfigs, die Fäuste des Usbeken. Gegenüber jault ein Orang, ein gepreßter, langgezogener Laut, bricht ab, hebt wieder an und geht in einen schleifenden Singsang über. In dem dünnen, kurvigen Auf und Ab erscheint Kirats Schlangenkörper. Rashid öffnet die Augen. Kirats Name starrt ihn an. Er nimmt seine Kraft zusammen und atmet tief ein; der Brustkorb hebt sich, darunter ist es leer. Er zwingt sich zu sprechen. Der Neue gegenüber ist schon wieder weg, sagt er. Nur die Lippen bewegen sich. Er wollte nicht laufen, obwohl er laufen kann, sie haben ihn mit der Trage weggeschafft, und der Islam ist wieder nicht gekommen.

      Er rührt sich nicht, er sitzt, Hände rücklings auf die Matratze gestützt, und widersteht dem Drang, die Knie anzuziehen und die Arme darum zu schlingen; wenn er sich selbst berührt, sich festhält, das weiß er, wächst die Leere zwischen Bauch und Brust, dehnt sich bis tief in die Lenden und hinauf in die Kehle. Seit sie angefangen hat, sich in ihn hineinzufressen, ist es, als sei er leichter geworden, obwohl er fett und formlos ist, aufgeweicht durch das Futter, das in seinem wartenden Körper ansetzt. Er muß Schwere vortäuschen, indem er sich träge und aufmerksam bewegt. Im Laufgatter, zur recreation time, läßt er den Ball liegen. Schritt für Schritt umrundet er den kleinen Betonplatz, am Zaun entlang, denn der freie Platz bedrängt ihn; auf fünfhundert Schritte kommt er in den zehn Minuten, die ihm nach dem Duschen zur Verfügung stehen. Er trägt das Nichts im Innern vorsichtig herum, jede unbedachte Erschütterung rüttelt es wach. Nur im Verhör fühlt er sich vollständig. Die Fragen und die Angst vor Schlägen durchdringen seinen Körper und stampfen die losen Fasern zu einer dichten Einheit zusammen, in der alle Kraft und alle Zeit geballt ist. Jeder Zufall, jede Beliebigkeit weicht, wenn sie aus ihm herauspressen, wer er ist und wer er war, jede Antwort zählt und wird heimgezahlt. Tourist oder Terrorist, richtig oder falsch, heiß oder kalt, das Nichts hat keine Chance. Er hat sein Gewicht wieder. Nur danach, wenn sie ihn im Käfig loslassen, ist da niemand mehr, der Ich sagen kann, ich, Rashid, ein haltloses Bündel aus Nerven und Buchstaben.

      Und der Islam ist wieder nicht gekommen. Der Islam ist wieder nicht gekommen. Der Satz zieht Schleifen unter Rashids Schädeldecke. Unter seinen Augen flimmert die Zahnpastaschrift. Seine Hände kribbeln, die Schultern spannen, aber er muß stillhalten, er darf nicht die Geduld verlieren. Kirat ist scheu. Vielleicht stört sie das Gemurmel. Vielleicht ist sie noch nicht ganz an ihren Namen gewöhnt. Der chaplain trug einen anderen Namen, bevor er chaplain wurde, einen amerikanischen, dann wurde er ein Moslem und hieß Muhammad Halabi-Islam. Er hat ihm von dem Imam in Damaskus erzählt, der ihm den Namen gegeben hat. Damaskus ist riesig, es ist die älteste Stadt der Welt, dort wendet man sich zum Gebet nach Süden, und der Imam ist ein moslemischer Pastor, der einem den rechten Weg erklärt. Allah hat viele Namen. Muhammad hat Rashid die Sure gezeigt. Allah ist Allah, außer ihm gibt es keinen Gott, er, der König, der Heilige, der Friedensstifter, der Spender der Sicherheit, der Beschützer, der Mächtige, der Starke, der Hocherhabene. Allah ist der Schöpfer, der Gestaltende, der Bildner. Ihn verherrlichen die schönsten Namen. Es sind genau neunundneunzig, sagt Muhammad. Aber man darf sich auch selbst einen ausdenken. Es ist nicht anders als bei der Eidechse. Hauptsache, man denkt dabei an Allah. Es fällt Rashid schwer, an Allah zu denken. Er hat eine Lautsprecherstimme, aber kein Aussehen. Die Eidechse hat nicht einmal eine Stimme. Sie ist genauso weit weg wie Allah. Das ganze Lager ist voller Gestalten, die es nicht gibt. Im Käfig nur Gemurmel. Es kommt von allen Seiten, wie das Licht, das in schiefen Karos auf dem Boden liegt und Rashids Anzug violett leuchten läßt. Der Islam ist wieder nicht gekommen. Rashid setzt sich auf. Er kniet noch einmal auf den Boden und beugt sich tief wie ein betender Orang über die Schrift, sein Rücken tut weh, sein Schatten radiert die dunklen Schattenbalken weg. Cleared by U.S. Forces. Übrig bleibt KIRAT, hellgraues kreidiges Gekritzel, eine leere Botschaft. Niemand da. Kirat gibt es nicht. Er reibt mit beiden Handflächen über die Zahnpasta, bis die Buchstaben nicht mehr zu sehen sind.

      Klebriger Staub bedeckt seine Handflächen. Er legt sie sorgsam rechts und links neben die verwischte Spur, dann beugt er sich tief vornüber. Hier, auf dem Boden, ist sein Platz. Sie werden ihn nicht loslassen. Die Stimmen sind wieder in der Nähe, und es gibt nur die Nähe. Seine Wange berührt den verschmierten Beton. Zähe Flüssigkeit sammelt sich in der Nase, er schluckt, und das Zeug rutscht durch die Kehle ins Nichts, ins ausgehöhlte Innere. Er schließt die Augen, hört sie murmeln und lachen. Sie sind hinter ihm, über ihm. Er will sie nicht sehen, er weiß, sie verhandeln über ihn, auch wenn sie ein Geheimnis daraus machen und in einer verschlüsselten Sprache sprechen. Die hohen, kindlichen Stimmen sind künstlich gedämpft, zwischendurch werden sie so leise, daß der Klang ganz daraus verschwindet und ein nur ein papiertrockenes Wispern übrigbleibt, wissend und gehässig. Schulkinder, gesund und fröhlich und auf der richtigen Seite, in der Ecke aneinandergelehnt, Blicke über die Schulter. Sie wissen, er ist den falschen Weg gegangen. Dies ist der Lohn der Übeltäter. Die Hölle ist ihre Lagerstätte, über ihnen lodert das Feuer zur Decke. Dann wieder löst sich helles Lachen aus dem Geflüster. Reingefallen. Kreidestriche auf dem umzäunten Asphalt, Himmel und Hölle. Oh, gießt doch etwas Wasser auf uns, gebt von den sonstigen Labsalen, mit welchen euch Allah versehen hat. Lachen über den Ungläubigen auf dem Boden, Hintern in die Höhe gestreckt, Kopf zwischen den Armen. Dies hat Allah für die Ungläubigen verboten.

      Lagerstätte. Er ist kein Übeltäter. Trotzdem, dies ist eine Lagerstätte, ohne Feuer, aber er brennt. Wasser hilft nicht. Er betet. Hol mich hier raus. Seine Knie schmerzen. Neun¬undneunzig Namen, und keiner stimmt. Papa. Hol mich ab. Der Zaun ist zu hoch. Das Kreidequadrat ist zu klein. Nur die Füße passen rein, wenn sie richtig stehen. Eng beieinander. Laßt mich in Ruhe. Sie sehen die nackten Fußsohlen unter seinem Hintern hervorschauen. Sollen sie flüstern, er rührt sich nicht, er bleibt am Boden. Er betet. Hinter seinem Rücken Gewusel. Das Gebet ist umsonst. Schon ist der Kampflärm nähergerückt. Rashid blinzelt, die Helligkeit sticht in seine Augen, der Feind ist da mit schweren Stiefeln, scheppernden Waffen, sein Schatten fällt in den Lichtstreif, er schreit: shut up! Auf dem Boden grüngraues Geschmier.

      Der Usbeke hämmert gegen die Drahtwand. C’me on, man, ein junger blonder MP steht breitbeinig im Flutlicht vor dem Nachbarkäfig, ein Neuer. Er reckt das Kinn, die Angst vor dem großen tobenden Tier in seinem Verschlag ist ihm anzusehen. Hinter ihm der hoch aufgeschossene Bebrillte schaut mit verschränkten Armen über die Schulter weg, locker, gelangweilt, nur das Ohr der Szene zugewandt, er schaut dem Doktor entgegen, der klein und dunkel auf dem bleichen Weg zurückkommt. No toilet after sunset, der Junge tritt einen Schritt auf den Eingesperrten zu, endlich fährt der Lange herum. Rashid sieht die entblößten Zähne und hört die sanfte Stimme, if you don’t stop, und dann das Gebrüll: NOW, I’ll fix you on these chain links for the whole fucking night. Und mit einer dritten Stimme, heiter und kumpelhaft, look, these beasts just know this kind of English. Über Rashids Kopf, mitten im Käfig, schnarrt ein kehliges Geräusch, er schaut hinter seinem Ärmel auf, ohne den Kopf zu heben, ts-ts-ts zischt der Doktor, er steht wartend an seiner, Rashids Tür und schaut zum Nebenkäfig. Es ist still. Please, flüstert Rashid, oder er denkt es, ein dünnes fremdartiges Pfeifen. Der Doktor wirkt traurig und gebeugt, das Licht schneidet tiefe Falten in sein teigiges Gesicht. Er reagiert nicht, nicht einmal seine Augen bewegen sich. Hinter ihm schieben sich die Gestalten der beiden Soldaten langsam in Rashids Blickfeld. Die lange Gestalt des Brillen-MP löst sich vom nahen Umriß des Doktors, zwei drei Schritte, und verschwindet. Rashid hebt den Kopf, setzt sich aufrecht. Der Schatten des Doktors fällt über das strahlendweiße Laken und berührt seinen rechten Schenkel, die Stelle, die den Druckschmerz der Einstiche bewahrt und die kühle Berührung dieser dicken, zarten Hände. Außer Sichtweite rauscht und redet das Walkie-talkie wie ein Notruf im Sturm. I want to know, sagt Rashid schnell, seine Stimme klingt merkwürdig alt und hohl, es klopft rasend in seinem Hals. Please. When do you think I can go home?

      Durch den Körper des Doktors geht ein plötzlicher, straffender Ruck, als habe ihn Rashid aus niederdrückenden, aber angenehm tiefen Gedanken aufgeschreckt. Laut atmet er aus, ein ungeduldiger Seufzer, der in ein Wort übergeht: Home. Er schweigt, Rashid schweigt, alle Stimmen sind aufgewacht, sie skandieren: Ask your interrogators, ein gehässiger Chor, ask your interrogators, ask your interrogators, er hat Angst, daß sie die Antwort überschreien. Home, wiederholt der Doktor, all of us wanna go home. Er tritt einen Schritt zurück und wendet Rashid seine Vorderseite zu, klein, massig, lichtüberflutet. Okay, sagt er, listen, wieder knackt und rauscht das Walkie-talkie, doch der Doktor spricht langsam, ganz langsam, und betont jedes Wort: I don’t talk about when you’re going home, just because you’re here doesn’t mean it will be soon. Rashids Herz tickt und zählt die Sekunden, in denen die Wörter in ihn einsickern, ruhige, beruhigende Wörter, eins türmt sich aufs andere bis zum letzten, soon, eine Welle staut sich in seiner Brust, hoch oben, und wartet darauf, in sich zusammenzufallen, noch hält sie die Spannung, das Gesicht des Doktors leuchtet wie der Mond überm Meer, rund und kalt, ein Zittern geht über die Oberfläche, und im selben Moment entdeckt Rashid den jungen blonden Soldaten, der ein paar Schritte entfernt auf den Doktor wartet. Ask your interrogators, sagt der Doktor und wendet sich ab. Seine Schritte knirschen auf dem Geröll, er dreht sich nicht um, nur der MP schaut zurück und zeigt Rashid sein weißes, vertrautes Kindergesicht.

      Dann ist die Sicht leer. Frei. Und alles geht sehr schnell, unaufhaltsam und gewalttätig. Eine lautlose Sprengung. Home. Der Hohlraum im Innern zieht sich zusammen. Rashid hebt die Schultern, krümmt den Rücken und hält ganz still. Hose und Hemd am Leib. Der Stoff leuchtet lila, grau in den knitt¬rigen Faltenwürfen. Klar und scharf liegen die Schatten der Maschenquadrate auf dem Boden, dem matt widerscheinenden Beton. Kriechen über die Fußrücken. Zwei Füße nebeneinander auf dem Betonboden. Die Welle braust in Rashids Ohren, Phantomwelle, Druckwelle. Der Abfalleimer, frisch desinfiziert und leer, grellweiß, dahinter das Häufchen in der Ecke, Waschzeug, Koran, Feldflasche, Zahnpasta, alles da auf einen Blick, unverändert. Das große Handtuch ein langer Lumpen an der gegen¬überliegenden Käfigwand. Das kleine zusammengeknüllt auf der Matratze, da liegt es, im Licht. Die Drahtwand am Weg und die Türeinfassung, nah und deutlich. Immer näher, immer lauter. Gitter und Stahlleisten glänzen, und jenseits des Weges glänzen die Gitter der andern Käfigreihe, leuchten lila die Anzüge. Die Handtücher weiß, die Eimer. Die Wirklichkeit rast von allen Seiten auf ihn zu, gleich wird sie über ihm zusammenschlagen. Kein Ausweg. Der volle Wassereimer, kühles Wasser, kühl noch morgen früh, morgen früh der Muezzin, das Frühstück, das Wasser warm, morgen nachmittag Dusche und Hofgang, morgen. Morgen, und alles löst sich. Der Krach ist unerträglich. Rashid bleibt taub und unbewegt wie alles um ihn herum, er hält still, als gäbe es ihn nicht, ihn nicht und nicht diese stürzenden Massen, die brüllend auf ihn einprasseln. Sein Blut pocht in lauten Schlägen dagegen an. Sein Atem geht langsam und flach. Herz und Lungen ruhig in der Mitte, während es drumherum bröckelt und rieselt. Er schaut sich um und sieht seinen geduckten Schatten, der flach an der Bretterwand klebt. Wie jede Nacht. Wie damals die Eidechse.