Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Simona Sabato (Bild: ORF - Johannes Puch)
Simona Sabato
Beginn eines Romans

„Was ist eine Duschtasse?" fragt meine Schwester bei Frau Ehlert. Die Duschtasse ist Mietereigentum und muß entfernt werden, es sei denn: Wir übernehmen sie. Ich helfe meiner Schwester mit: „Das, wo du drin stehst."
Ich stehe in unterschenkelhohem Wasser.
Das ist ganz normal, denke ich, es ist kurz vor Jahresende, und alle sind ein bißchen in Gedanken. Das ist ganz normal, selbst die, die sonst arbeiten, arbeiten jetzt nicht. Das ist ganz normal, und während ich mir sage, daß es ganz normal ist, jetzt nichts zu tun, zum Jahresende es etwas ruhiger angehen zu lassen, habe ich geputzt. Fast ohne es zu merken, jedenfalls ohne es zu beschließen, habe ich die Küche und das Bad geputzt. Ich bin ein bißchen stolz, strecke die Arme in die Höhe, lege den Kopf gegen die Schranktür und sehe mein Zimmer im dunklen Spiegel. Ich weiß nicht, wie das passiert ist, ich klingle alle Nachbarn raus und spontan feiern wir im Hof eines unserer schönen Hausfeste.
Raus aus der Schrankecke. Judith kommt heute zurück. Ich habe ein Brot mit Butter in der Hand, beiße dreimal ab und lege es wieder hin, ich habe anderes zu tun, ich habe eine ganze Menge zu tun. Ich muß mal so leise in mich hineinkichern, ich bin ein bißchen unruhig, sage ich mir, das kann man nicht übersehen, das ist ja wohl nur zu deutlich, ich rede ein bißchen mehr als sonst, bin nicht angezogen und muß los. Ich sollte ein bißchen ruhiger werden, bevor ich unter Leute gehe und versuche es mit einem kleinen Tritt in die Unterschränke. Das beruhigt, denke ich mir.

Stehe ich also in der Kälte, sage ich mir und gehe auf und ab. Der Zug endet hier und alle warten ohne Gepäck. Wir sehen schon einmal in die gleiche Richtung, es sei denn, ich bin auf dem Rückweg, dann sehe ich den andern ins Gesicht. Ich wärme mit beiden Händen meine Nase. Diesmal drehe ich nicht so schnell um. Ich gehe weiter bis der Bahnsteig nicht mehr überdacht ist. Ich bin auf einen Gepäckwagen gesprungen unter freiem Himmel, unter Sternen und rufe den anderen zu, kommt mal her, der Bahnsteig ist leer, wenn sie ankommen, wir drängen uns hier hinten, halten die Abholblumen raus und warten, wer sich als erstes zu uns traut. Dann öffnen wir den Kreis der Abholer für einen Moment. Ich sehe, daß eine ältere Frau weint und glaube, ich sollte sie besser einzeln ansprechen. Ich sollte einfach zurückgehen, wenn der Zug kommt und Judith umarmen. Als er an mir vorbeifährt, sehe ich sie schon an der Tür stehen. Ich renne neben dem Zug her, sehe sie aussteigen und auf mich zulaufen. Während der letzten Meter wackelt sie mit dem Kopf und hat das erste Wort: „Na.“ „Na“, wiederhole ich und küsse sie noch einmal. Sie sieht blaß aus. „Ich bin froh, daß du aus diesem Zug gestiegen bist.“ „Wieso, gabs Auswahl?“ „Eigentlich nicht“, sage ich und denke, wie meint sie das. Ach nein, wie meinte ich das. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ fragt sie, „du wirkst abwesend.“ „Bin ich nicht“, sage ich, „nur, ich habe mich so beeilt, war dann doch zu früh, habe ewig gewartet und es wäre schön, wenn wir schon im Warmen wären, ist so kalt, findest du nicht.“ „Doch es ist sehr kalt“, sagt sie, „gehen wir zu dir.“
„Ich bin morgen in Halle“, sagt sie nachts, „soll ich danach zu dir kommen?“
„Ich bin erst bei meiner Mutter“, sage ich, „aber dann sollst du zu mir kommen.“

Minus zwölf Grad am Morgen und es wird kälter im Laufe des Tages. Minus sechzehn Grad, als ich losgehe, mir eine minimal zu kleine Daunenweste kaufe und fast pünktlich bei meiner Mutter und ihrem Freund ankomme. Sie hat Nudeln mit Bohnen gekocht und scharfer Wurst. Nach dem Essen setzen sich meine Mutter und meine Schwester zu dem Hund meiner Schwester auf das Sofa. Sie untersuchen seine Fußsohlen, die unter dem Streusalz leiden. Sie spreizen seine Pfoten und die Zwischenräume leuchten rot. Ich sehe solange aus dem Fenster und mir fällt nichts ein, was man dagegen tun kann. „Die salzen wie die Irren“, sage ich.
Meine Mutter und ihr Freund warten im Flur, bis wir uns angegezogen haben.
Über die neue Daunenweste ziehe ich meine Sommerjacke. „Hast du keine Winterjacke?“ will meine Mutter sich Sorgen machen. Ich verweise auf meine jüngere Schwester. „Denk nur daran, wieviel sie raucht.“ Da darf meine Mutter gar nicht dran denken. Die Jacke ist nicht zuzukriegen und ich muß meine Schwester bitten, sich auf mich zu setzen. Meine Mutter zerrt am Reißverschluß, ich bin gepackt und ihr Freund hält uns die Tür auf, damit wir ins Treppenhaus gehen können.
In einer Stunde will Judith bei mir sein. Sie klingt fröhlich, sie hat in Halle einen Blumenstrauß bekommen, der genau so ist, wie man ihn nicht kaufen würde. Ich stelle ihn mir klein und rund vor, mit einem weißen Papier unter dem Blütenkreis. „Es gab nur noch einen guten Entwurf: Komplette Rückverwilderung.“ „Klingt gut“, sage ich leise.
Sie zieht sich aus und rennt nackt zwischen Bad und Bett hin und her. „Es tut mir leid, daß ich so eine Fahne habe.“ „Es tut mir auch leid, daß ich in so einem desolaten Zustand bin“, sage ich. Sie legt sich neben mich. In meinen Ohren marschiert der Puls. Judith schläft. Ich höre in meinen Ohren, wie jemand die Treppe hochkommt. Ich sollte nicht hier bleiben. Ich marschiere jetzt mit, beschließe ich. Ich friere immer noch, bin aber heiß. Judith ist aufgewacht, weil ich ihr sage, daß ich jetzt mitgehe. Sie will sich an mir wärmen, aber das geht nicht. „Das tut doch weh.“ Dann will sie jetzt wieder schlafen. „Wie ein Anfall.“ Ich trage noch die Daunenweste und die Cordjacke unter zwei Decken und gebe zu: „Wie ein Anfall.“ „Ja", sagt sie, „ich bin hundemüde." Und schläft wieder ein. Sie riecht nach Schnapspralinen, vielleicht welche, in denen Obst ist, vom Vorjahr etwas.

„Das Gute ist, es geht schnell vorbei. Eine Nacht und der Anfall ist vorbei.“
Mit gekämmten Haaren komme ich zurück ins Zimmer. Judith sitzt an einem kleinen Tisch in der Küchenzeile. „Hier sitzt du also." „Ja, meistens." Sie testet Sitzplätze in meiner Wohnung. „Hier ist auch schön mit dem Fenster." „Ja" sage ich „guckt man halt furchtbar viel zur Allianz." „Du solltest mal hier sitzen, daß du in die andere Richtung guckst." Judiths Augen sind groß, braun und ihre Stimme klingt nasal. „ Stimmt“, ich stehe in Zimmerrichtung Fernsehturm. Es ist bewölkt, wärmer und trübe. „Balkon wäre gut", sage ich, „da freu ich mich schon drauf, Balkon, mit Straße und anderen Balkons." „Sieht toll aus“, sage ich, weil sie ihre Hose wieder auszieht. „Ich habe das T-Shirt angelassen", sagt sie später. „Wegen der Arme." „Ja." „Ich habe das T-Shirt wegen der Arme angelassen." „Ja, Liebling." „Hat es dich gestört?" „Gar nicht. Ich habe mich noch ein bißchen nackter gefühlt, weil du das T-Shirt anhattest." „Soll ich nächstes Mal angezogen bleiben, damit du dich noch nackter fühlst?" „Nein das nicht."

„Das begeistert dich, nicht?" „Absolut. Jetzt habe ich es gefunden.“ Ich lehne im Türrahmen. „Das ist doch phantastisch: Ich suche die Requisiten für meine Rolle.“ Ich mache eine kleine Pause und sehe mich im Bad um. „Und dabei räume ich auf. Ich wußte nicht, daß ich eine fanatische Hausfrau bin. Ich wußte das nicht.“ Judith sieht sich auch im Bad um, unsere Blicke treffen sich auf dem Badboden zwischen Handtüchern.
„Egal, was die anderen mir erzählen. Ich muß erst aufräumen..“ Ich gehe durch meine Wohnung und begutachte Requisiten. „ Ich fand das erst doof“, rufe ich ins Bad, „überhaupt, daß Susan eine Weihnachtsfeier machen will, dann diese grauenhafte Idee, jeder spielt seine Rolle und dann wechselt man und muß vor anderen Requisiten weiter seine Rolle sagen. Ich fand das bekloppt.“ Zwei leere Kaffeedosen sind genug. „Jetzt finde ich das so gut, guck mal.“ Ich bin wieder im Türrahmen. „Als es hier unordentlich war ..." Judith wäscht sich am Waschbecken. „Ist", sagt sie. „Versuch nicht, das bis Freitag aufrechtzuerhalten. Bis dahin versinkst du im Chaos.“ „Nein, nein“, sage ich, „nein, nein, hier versinkt man nicht, nein, nein, nein.“
Ich habe drei Klopapier-Innenrollen entdeckt. An einigen hängt noch etwas weißes Blatt. Ich gehe eine zweite Runde, Nudeltüten, Brottüten, Zeitungen, braune Blätter. Ich habe mir eine gute Mülltüte zusammengepackt. Ich bekomme einen Schreck. Die Tüte ist offen oben. Die Klopapier-Innenrollen gucken raus. Ich fahre also am Freitag in der U-Bahn mit meiner Mülltüte. Ich frage mich, wen ich treffen werde. Aber das hat Zeit, denke ich, das frage ich mich noch mal ganz in Ruhe, da frage ich mal nach, wenn ich alleine bin.
„Ich bin ein bißchen glücklich mit den schönen Requisiten“, rufe ich Judith zu, mit meiner Mülltüte auf dem Arm, und gehe durch die Küchenzeile.
„Du findest doch bestimmt noch einmal Mandarinenschalen." Judith hat eine hellgraue Unterhose an und hält ihren BH in der Hand. „Ich bin nicht sicher, ob ich noch mal so vertrocknete Mandarinenschalen habe bis Freitag.“ „Ich denke, du hast nur so wenig Platz.“ Sie zieht sich weiter an. „Ich denke, jeder hat nur einen Quadratmeter", sagt sie. „Das stimmt und deshalb schütte ich das einfach dahin. Dafür brauch ich ein bißchen, sonst ist es nicht geschüttet." „Ich gehe jetzt." „Gut." Ich stelle meine Tüte ab, ohne daß sie umfällt. Mit Schuhen ist Judith größer als ich, ich lege ihr die Arme um den Hals. „Wie fandest du den kleinen Fick?" „Du willst mich herausfordern." „Ja." „Gut. Fand ich gut.“ Ich überlege, sie ‚kleiner Fick‘ zu nennen, lasse es aber und schiebe sie in den Flur.

„Dein Chaos nervt!" hat sie nach dem Aufstehen gesagt. Ich weiß natürlich, welche Milch die gute ist. Ich habe mir das gemerkt, aber sie kann es nicht wissen. „Judith", sage ich, „stell sie schnell zurück in den Kühlschrank. Der ist verschließbar, das stinkt doch." „Nein.“ Sie kippt etwas Grauenhaftes ins Klo und sagt: „Es ging ganz schnell." Sie faltet die Milchtüten zusammen und packt sie in den Müll. „Nicht in meinen guten Müll. Ich will nicht mit Gestank ankommen. Das muß nicht sein. Es ist nicht einfach mit einer Ordnungsfanatikerin, was Judith." Ich soll zuerst duschen. „Nein du." „Wenn du heute abend nicht geduscht bist." „Was? Findest du, ich dusche nicht mehr genug?"
Ich sehe sie an und warte auf eine Antwort. Sie läßt sich einen Moment Zeit, sieht mich auch an und sagt „Es ist nicht mehr so wichtig."
Ich komme im Bademantel aus dem Bad und bin allein.
Wieviele Nachbarn habe ich? Ich bin leise und höre ihnen zu. Sie laufen gleich leise, sie haben die gleichen Gummisohlen, holen ihren Schlüssel zwei Meter vor der Tür aus der Jackentasche, rasseln ihn zurecht, öffnen die Tür und ziehen sie leise zu. Sie schlurfen heran, holen ihren Schlüssel raus, klappern ihn nach vorne und ziehen leise die Tür zu. Jetzt haben wir es wieder hinter uns, denke ich, jetzt kann ich auch die Wohnung verlassen. Ich ziehe meine Schuhe an und gehe zum Bus.

Der Hund traut sich nicht auf die Rolltreppe und wir laufen gemeinsam die Treppe hoch. Mein Vater hüstelt mehrmals. Ich frage mich, ob ich schon einmal einen Hund auf einer Rolltreppe gesehen habe und ob ich schon einmal mit meinem Vater in der U-Bahn gefahren bin.
Ganz einfach, denke ich. Meine Mutter bleibt am Strand und wir kaufen ihr eine Uhr zum Geburtstag. Ich bin sieben und wir sind an der Adriaküste.
Ganz einfach. Ich gebe ihm die Mietkaution und er nimmt weiter Medikamente gegen seine Albanerangst. Er sieht eigentlich wieder gesund aus, denke ich, als wir oben ankommen. Ohne sein Übergewicht hätte er nicht überlebt, seine Organe wären geplatzt. Er trug die Haare noch kürzer und Hemden, von denen ich nicht weiß, wo sie jetzt sind. Nur die Schuhe sind die gleichen und er selbst natürlich. Nur, daß er nicht mehr im Dunkeln rausgehen und nicht mehr arbeiten kann.
„Bei welcher Bank bist du?" „Sparkasse." Ich überlege, wieviel ich abheben soll. Mehr als die Kaution? Er will nur eine Rate, die Degewo will nur eine Rate. Ich hebe nicht mehr ab als die Kaution, ich runde lediglich minimal auf. Es ist mir anständiger. Die letzten Tage im alten Jahr, denke ich, und wieviel er früher gearbeitet hat. Seine weißen Haare lassen seine Haut brauner erscheinen. Er spielt mit dem Hund meiner Schwester auf dem Hermannplatz, während ich zur Bank gehe. Ich gehe schnell über die Ampel. Ich wundere mich über sein Lächeln. Das ist neu. Ich winke dem Hund und dann ihm. Er trägt seinen grauen Trenchcoat. Ich möchte ihm nichts zustecken. Ich gebe ihm das Geld in die Hand. „Das ist doch viel zu viel." Ich sage nichts. Er verabschiedet sich von mir. Ich gehe zurück zur Bushaltestelle. Ich möchte ihn anrufen. „Das ist nicht zuviel", möchte ich ihm sagen. „ Nichts ausgeben, sonst reicht es nicht für die Kaution.“
Der Hund ist nicht mit ihm aufs Eis gegangen am Wochenende, hat er in der U- Bahn erzählt. Alle anderen Hunde sind auf dem Eis. Er stand ganz allein mit dem Hund am Ufer. Er sagt:„Es war eine Pleite." Er kennt den Hund, mit Gewalt, das hilft nichts. Er lacht dabei, so sehr mag er den Hund meiner Schwester. Wir gehen von seiner neuen Wohnung zur U-Bahn, wir gehen ein paar Schritte geradeaus, dann macht der Hund etwas mit seiner Leine, daß mein Vater und ich die Plätze tauschen müssen, in höfischen Tänzen zur Parchimer Allee. Ich sage „Menuett" und wir sehen uns am heiligen Abend. Außer, er muß schon zur Kur.

„Kann das sein?" „Das kann sein." „Dann müßt ihr ihn da besuchen", sagt meine Mutter. „Bitte nicht", rufe ich über den Potsdamer Platz. Vormittags kaufe ich Papa die Kaution, nachmittags kauft Mama mir eine Jacke. „Hat er immer noch solche Angst?“ fragt sie. „Hat er“, sage ich. „Diese Leute, sagt er immer. Die haben ihn ja auch fast tot geschlagen“, sage ich noch für meine Mutter, die ihn einige Jahre nicht gesehen hat. Wir gehen, Tochter und Mutter, zu Benetton, zu Mexx, zu H&M.
„Das ist ja furchtbar", findet meine Mutter, auf dem Kabinenboden liegen Kleidungsstücke. Sie will nicht hinein und schnaubt am Wassergraben. „Da ist doch jemand." „Das ist hier so“, sage ich, „das haben die liegengelassen." Schließlich läßt sie sich von mir in die Kabine führen. „Du siehst gelb aus.“ „Nicht gelb.“ Meine Mutter sagt: „Deine Augen sind nicht besonders gelb." „Was heißt nicht besonders, sie sind doch gar nicht gelb.“ Wir lassen auch alles liegen und finden es furchtbar. Ich habe Angst, Kleidungsstücke, die ich mitgebracht habe, bei
H&M zu vergessen. Vielleicht habe ich irgendeine Krankheit, jedenfalls bin ich sehr müde. Meinetwegen auch gelb. Meine Mutter trinkt einen Kirschnektar und ich ein Wasser.

Frau Ehlert ist neunzehn Jahre alt und sieht auch sehr müde aus. Ich möchte sie fragen, wo ihre Eltern sind, zügle mich aber, es reicht, daß ich vorschlage, daß heute Freitag ist. Ich sehe meine Schwester an, weil Montag ist, und die anderen das wissen. Ich stelle mich neben sie. Die Geschwister in einer Reihe. Mein Vater vor uns. Der Hauswart hat große Bedenken. Frau Ehlert verschränkt die Arme, sie trägt Loden. Ich lobe sie für die schöne Renovierung. „Ich finde, das haben Sie ganz toll gemacht." Meine Schwester und Frau Ehlert rauchen abwechselnd auf dem Balkon, während der Hauswart die Wohnung untersucht. Wenn meine Schwester raucht, stelle ich mich daneben. Als sie arbeiten geht, raucht nur noch Frau Ehlert. Ich würde auch gern Loden tragen und auf dem Balkon rauchen. Drinnen wird verhandelt, hier draußen raucht man eine, kann ein paar Bemerkungen loswerden und zieht dann endlich hier weg, in eine neue Wohnung.

„Ein nebliger Tag, die Allianz ist nicht zu sehen. Ich muß ohne meinen Fixpunkt sein“, sagt Judith. „Genau“, sage ich zu ihr und bleibe allein, bis das Telefon klingelt.„Vierzehn Uhr elf. Ich bin überrascht." „Wieso, was hast du erwartet?" „Nichts", sage ich und zwei Stunden später rutsche ich neben Kathrin durch den Park. Ich bin langsamer als sie. Sie rät mir, Wollsocken über die Turnschuhe zu ziehen, das hilft gegen Rutschen. Vor uns fällt jemand mit dem Fahrrad hin. Es ist dunkel im Park und als er wieder steht, sieht man die Speichen gegen das Licht der Straße. Schon wieder dunkel, denke ich, aber das sieht sie ja auch.

„Die letzten Tage im alten Jahr“, sagt Judith. „Erst kommt noch Weihnachten“, gebe ich zu bedenken. „Da bin ich ja weg.“ „Ich weiß“, sage ich, „deshalb habe ich das gesagt.“
Ich bin mein Vater und wir sind auf einer italienischen Hochzeit. „Mir zuliebe hättest du die langen Haare doch lassen können." Ich sage eine Minute nichts, dann sehe ich sie wieder an. „Wie konntest du zum Friseur gehen. Wie kannst du jetzt so aussehen, ausgerechnet, am Freitag ist der Theaterabend, du kommst als meine Freundin und siehst so aus. Du siehst aus wie eine kleine Kanalratte, du siehst noch viel jünger aus, machst du dir keine Vorstellungen, wie peinlich das alles für mich ist.“ Sie hat Tränen in den Augen. „Dir gefällt mein Haarschnitt nicht?" „Wirklich nicht, und das Geheule nützt jetzt auch nichts. Du mußt ja damit rumlaufen und ausgerechnet neben mir herlaufen. Du sahst so gut aus, ich war richtig stolz auf dich.“ „Sie hat ungefähr 50 Schnitte gemacht, " sagt Judith. „Ist das viel oder wenig?" „Wenig." „Aha. Vorne ist so kurz", ich habe zwei Steilfalten auf der Stirn. Ich bin um das Erbe besorgt, streiche an ihren Haaren herum und schüttle dabei den Kopf. „Du magst meinen Haarschnitt nicht." Es ist ja nicht zu ändern. Ich bin resigniert. Und sehr verärgert. „Ich habe gesagt, vorne habe ich es meistens kurz." „Hast du sie angefaucht?" zische ich. Judith faucht eigentlich nicht, sie spricht schneller zum Satzende. Es ist zum Verzweifeln. Freitag ist Theater, jetzt ist sie jung und nicht mehr schön. Sie ist schön, aber mäusemäßig. „Das ist doch total löchrig", sage ich, „Hast du gesagt, daß du es löchrig willst?"
Ich zähle die fünfzig Schnitte in ihren Haaren, mache daraus einen großen und sage: „Schluß. Ich freue mich auf Freitag.“ Ich werde gutes Bühnenschwarz tragen. In der U-Bahn sehe ich schon einen bekannten Regisseur. Er setzt sich neben mich. „Gut, siehst du aus", sagt er. „Danke." Ich frage ihn, was er in Berlin macht. Er bereitet an einem Theater etwas vor und macht ja gerade den. Es kommt ein Vorname. Ich sage „ aha“ und „interessant.“ Jetzt hat er sich in meiner Tüte fest geguckt. Die leeren Kaffeedosen, eine kaputte Schachtel Salz, die mal naß war und deshalb eine bühnentaugliche Welle hat. Er kann die Überschriften der Zeitungen nicht vollständig lesen, aber das alte Datum erkennen. Er guckt von den Mandarinenschalen auf. „Hast du deine Mülltüte dabei?“ Ich lächle: „Wir machen da sowas Kleines. Das sind meine Requisiten." Er muß aussteigen „Kann man das mal sehen?" „Nein, es ist nur einmal.“ Er steht schon in der Tür. „Wer macht es?“ „Weißt du, man spielt sich selbst, naja sowas, ich kämpfe mit dem Haushalt." Es ist dunkel. Ich atme und konzentriere mich. Mein Herzschlag wird ruhiger, ich trete an den Bühnenrand. „Ich muß erst eine Wäsche machen. --- Weiß oder bunt?" Ich sinke in mich und sage leise, bühnenleise und gut vernehmbar: „Ich mache keine Wäsche."
Als ich aussteige, legt jemand eine goldene Hanutaverpackung in meine Plastiktüte. Ich bedanke mich artig. „Danke schön. Das ist nett.“ Ich habe ein bißchen Angst, als die U-Bahn davonfährt. Ich sitze so ein bißchen auf dem Boden rum, als Judith anruft. „Bald fahr ich schon.“ „Ja leider, was machst du heute abend?“ Sie will gerade auflegen, als mir noch etwas einfällt. „Was ich noch sagen wollte, Kathrin kommt extra nicht am Sonntag aus ihrem Weihnachtsurlaub zurück, weil dann jemand für sie einkaufen müßte und das macht Arbeit. Wie findest du das?“
„Habt ihr euch getroffen?“ „Ja“, sage ich, „es gibt doch Tankstellen.“ „Stimmt, die gibt es. Versteht ihr euch nicht mehr.“ „Geht so“, sage ich, „hör mal, sie hat für mich ja schon mal an einem Donnerstag eingekauft, als ich weg war, überleg mal. Und sie kommt jetzt extra Montag früh zurück. Damit nicht extra jemand für sie einkaufen muß.“ Aus Gründen, die noch bei Kathrin sind, schreie ich ins Telefon: „Verstehst du, was das heißt?" „Ich will niemandem zur Last fallen?" versucht Judith es, die noch mal ins Büro muß am Nachmittag. „Nein", sage ich, „falsch“ und rufe: „Ich hasse das! Du hast mir auch eine Butterdose geschenkt. Ich benutze die nicht. Ich esse einen Beutel Kartoffeln, ich esse gerne Butter dazu. Ich schlage mich mit Butterpaketen durchs Jahr, ich kann nicht immer meine Butterdose waschen.“ Ich rolle mich in die Zimmermitte und lache mich einmal kaputt. Judith wollte sich nur gemeldet haben und das hat sie jetzt. „Ich wollte mich nur mal gemeldet haben.“

Ich lege den Hörer auf, es klingelt und ich nehme wieder ab.
„Ich freue mich, daß du dich noch mal meldest“. Ich spreche leise: „Ich habe es dreimal probiert, nach jedem halben Pfund Butter muß sie gewaschen werden, um wieder neue Butter hineinzutun. Ich habe dann Butter an den Fingern oder sie verkantet sich, wenn sie aus dem Papier stürzt. Diese Arbeit ist doch überflüssig“, sage ich, „Ich freue mich aber wegen heute abend und ich habe mich auch über die Butterdose gefreut.“ Judith unterbricht mich: „Du kannst das machen, wie du willst.“ Sie fährt jetzt noch mal kurz ins Büro und kommt dann vorbei.

Ich liege hinter ihr im Bett und kann nicht schlafen. Ich bin beschäftigt, mit dem vergangenen Abend. Ich lege ihr meine Hand zwischen die Beine. Sie stöhnt leise, dann nimmt sie meine Hand in ihre, und zieht sie höher. Ich nehme mir eine zweite Decke und schlafe für zwei Stunden, bis ich sie zum Bahnhof bringe.
Wir stehen voreinander, sie im Zug, ich vor dem Zug. Sie hält sich an einer Stange fest. Ich halte mich jetzt auch an einer Stange fest. Ich vergesse sie, als eine Frau in einem Rollstuhl herangefahren wird. Ein Bahner schiebt eine Plattform, auf der der Rollstuhl steht. Ich frage mich, ob sie nicht allein schneller rollen würde. Er fährt das Gestell, als wollte er die Decke streichen. Sie stört beim Deckestreichen und wird in den Zug gerollt. Mir fällt ein, daß der Abschied noch nicht erfolgt ist. Ich glaube, daß Judith schon zu ihrem Sitzplatz gegangen bist, und suche die Reihen ab. Als ich zur Tür zurückgehe, steht sie da, wo sie die ganze Zeit stand. Die Frau ist verladen, ich winke Judith und sie werden davongefahren.

Am Abend zuvor bin ich mit meiner Mülltüte unterwegs, meiner Sorgfaltsmülltüte. Die Feier beginnt um sieben, es ist sechs. An der Tankstelle kommt Silke mir entgegen. „Ich schlage die Zeit tot.", rufe ich ihr zu. Sie hat dunkel geschminkte Augen und schön gekämmte Haare. „Du hast dich schön gemacht", sage ich. „Geschminkt", sagt sie. Ich sage zweimal und dann noch zweimal, zweimal: „Ich muß mir noch die Haare kämmen.“
Wir sitzen in einem kroatischen Holzdrechselabteil. Silke weiß noch nicht genau, wie ihre Rolle sein wird. „Jetzt noch nicht?“ Ich bin sehr froh, meine Rolle zu kennen. „Ich mußte meinen Müll auf dem Weg noch mal aussortieren. Er schien mir plötzlich zu viel, zu ehrgeizig.“ „Was hast du aussortiert?" fragt Silke. Der Cappuccino schmilzt einen Kekstannenbaum, den ich mir dann an die Hände schmiere. „Eine Espressodose und eine kleine Packung Waschmittel. Die hätte die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen." Silke will noch einen Kaffee trinken, aber ich bin dagegen. „Ich finde, wir gehen jetzt mal rüber.“

Als erstes sehe ich Jenny in einem Maxistrickkostüm, dann Karen in einem Bordauxtop mit passender Hose. Ihr Mann trägt hellgelb.
„Wir müssen das doch mal besprechen“, sage ich zu Susan, „wer, wann auftritt.“ „Mach das mal." Ich gehe durch die Räume und sage jedem aus der Gruppe: „demnächst mal am DJ-Pult zum Besprechen. wer, wann auftritt und so."
Ich sage: „Jetzt oder später am DJ-Pult zum Besprechen."

Ich sitze in der Mitte. Ich habe meine Tüte schon ausgekippt, vor mir liegt mein Müll. Ich sollte nicht gleich als erste. Schneller Aufbruch, denke ich. Mit einem langen Arm schiebe ich den Müll zurück in die Tüte. Mein Herz beruhigt sich, als ich wieder am Rand sitze. Dana sitzt neben mir. „Du wolltest doch in die erste Runde.“ Ich rufe in die Mitte: „Dana will in die erste Runde."
Judith hat sich schon einen Platz gesucht, ich begrüße sie kurz und stelle sie ihrer Sitznachbarin Angelika vor. Karen, Dirk und Dana beginnen. Dana putzt. „Ich putze doch auch.“ „Macht nichts", sagt Silke. „Scheiße“, sage ich. Alle lachen: eine Putzfanatikerin, ein Fotograf, und eine Schaffnerin. Susan sagt: „Es geht hier oft ernst zu, aber heute amüsieren wir uns.“ Die Putzfanatikerin wedelt die Kunstbücher des Fotografen ab. „Was für ein Unsinn!“ denke ich, um mich herum lachen fünfzig Leute. Die Putzfanatikerin feudelt das Objektiv ab. Es gibt Szenenapplaus. Ich presse die Lippen aufeinander und gucke, ob Judith lacht. Sie lächelt entspannt. Sie trägt eine graue Hose und ein dunkles Oberteil mit einem kleinen Kragen. Ich denke, ich sollte lachen. Michael hat seinen Trommellehrer mitgebracht. „Der Mann ist eine ganz liebe Seele“, sagt Jenny. Ich schlage ihr keine rein, sondern beiße ihr einmal kurz in den Strickrock. Ich hasse Synthetik im Mund und gehe wieder an meinen Platz. Zweite Runde, Silke tritt auf, sie ruft: „Schwanger, immer wieder schwanger." Es hat etwas mit eine Mutter erzieht ihre Tochter zu tun. Sie ruft weiter: „Schwanger, schwanger und immer so bunt.“ Dazu freut sie sich. Karen ist als Frau Kennedy mit auf der Bühne und bietet Spielraum für Silke, Silke wickelt Frau Kennedy. Es gibt wieder Szenenapplaus. Judith sieht fröhlich aus. Sie teilt sich mit Angelika ein Glas Sekt. Ich hätte mir auch etwas zu trinken holen sollen. Susan und ihre Schwester können nicht mehr, sie haben Bauchschmerzen vor Lachen. Ich bin dran. Ich schütte meinen Müll aus. Die anderen beginnen, während ich noch die Mandarinenschalen plaziere. Evi schreit mit Stirnband und kurzen Hosen: „Bin ich schon schlanker geworden?" Ich trage mich leise mit Gedanken um eine Weißwäsche. Ich habe nicht erwartet, daß es so laut ist. „Ich mache eine Weißwäsche." Evi ist so laut. Ich gehe zu Jenny, die Augendiagnose anbietet. Jetzt denke ich, in dem Moment, als sie in meine Augen gesehen hat, hätte ich ganz wundervoll sagen können „weiß oder bunt?" Ich stelle mich zu ihr und sage: „Ich habe keine Unterhose mehr." Später überlege ich laut, ob ich zur Buntwäsche nicht ein paar Unterhosen dazulegen kann.
Judith hält sich zurück mit Kommentaren. Es scheint ihr nicht so gut gefallen zu haben. Später am Abend sagen mir Frauen, die Stefanie oder Martina heißen, sie wollen mir eine Unterhose waschen. Ich bin irritiert. Ich denke, ich habe die Weihnachtsfeier insgesamt falsch verstanden. Susan spricht mich an: „Ich brauche eine Unterhose, warum denn?“ Ich sage brav: „Ich glaube, ich habe gesagt: Ich habe keine Unterhose mehr." „Stimmt“ sagt sie, „genau das Gegenteil, warum habe ich das vorhin nicht gemerkt." „Weiß ich nicht“, sage ich.