Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Ronald Reng (Foto: Bettina Fürst-Fastré)
Ronald Reng
Prolog eines neuen Romans
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Prolog eines neuen Romans

Sie zog die Tür hinter sich zu wie jemand, der nicht vor hat, sie wieder zu öffnen. Das Schloß war bereits eingerastet, sie hatte es klicken gehört, kurz und bestimmt, doch sie umklammerte noch immer die Türklinke. Sie drehte den Schlüssel zweimal um, bis sie den Widerstand des Schlosses in ihrer Hand spürte. Sie schloß die Augen und massierte mit dem Daumen sowie dem Zeigefinger ihre Schläfen.

„Kommst du?“

Es gab kein Treppengeländer, an dem sie sich hätte festhalten können.

Sie dachte, ich komme ja schon. Sie trug ihre bequemen gelben Sandalen, ein wenig abgewetzt das Leder, aber immer noch elegant, immer noch komfortabel, ideal für einen kleinen, angenehmen Marsch. Aber ihre Füße reagierten nicht.

Sie öffnete die Augen und sah, ein Stockwerk tiefer, auf dem Treppenabsatz, Sascha. Er trug die neue Badehose, das Geburtstagsgeschenk, sein Bauch stand hervor, aufgeblasen vom aufgeregten Atem eines Kindes. Sie hatte ein T-Shirt für ihn eingepackt, im Wald war es schattig.

„Was machst du denn?“

Es war seine Stimme, leise, angstvoll, die sie blinzeln ließ, und es waren die Augen, viele dachten, blaue Augen, wegen seines Vaters, im Sonnenlicht allerdings sah man, dass sie graugrün waren, aufgerissene, flehentliche Augen, die sie dazu brachten, ihre Augen wieder zu schließen.

„Nichts, Sascha. Ich komme ja schon.“

„Ja, aber dann sag es doch nicht nur. Komm doch auch.“

Wenn es ein Geländer gegeben hätte, hätte sie es vielleicht geschafft.

„Sascha, lauf doch schon einmal runter, ich komme gleich nach, ich habe nur etwas vergessen.“

„Was denn?“

„Dein T-Shirt.“

„Ich brauche doch kein T-Shirt. Alle warten auf dich.“

„Ich weiß. Ich komme ja schon.“

Sie war geübt darin, sich nichts anmerken zu lassen. Dafür wenigstens war das Hotel gut, man lernte schnell, man lernte automatisch, den Gästen immerzu gut gelaunt gegenüber zu treten, das Leben war ein Kinderspiel und schön, dass Sie da sind. Oft genug hatte man nicht nur die Gäste, sondern sich selbst überzeugt, dass man bester Laune war. Wenn Sascha mit seinen Augen, mit seiner Stimme, verschwand, würde sie es schaffen, würde sie sich zusammenreißen.

Sie hatten bis zur Geburt nicht gewusst, dass es ein Junge werden würde. Der Arzt hatte gesagt, er sei sich nicht hundertprozentig sicher, das Kind lag schief in der Gebärmutter, und wenn er nicht ganz sicher war, wollten Lothar und sie es auch nicht wissen. Als Sascha dann auf die Welt kam, an diesem Tag vor acht Jahren, 28. Juli, und man ihr sagte, ein Junge, hatte sie sich in ihren ersten mütterlichen Sorgen, Ängsten, immer davor gefürchtet, was, wenn er ein Tyrann wird, wenn er andere Kinder quält? Sie war froh, dass er ein schwacher Junge geworden war. Sie hatte nie daran gedacht, dass sie einmal nicht mehr stark genug sein könnte, ihn zu beschützen.

Sie begegnete niemandem, als sie mit energischen Schritten von ihrer Wohnung im Dachgeschoss durch das Hotel hinunterstieg. Es war Sonntag, nach 13 Uhr, die Hitze hatte sich zumindest der Räume auf der Vorderseite bemächtigt. Kein plausibler Grund, noch nicht einmal Abscheu vor jeglicher Bewegung sprach dafür, als Gast jetzt im Hotel zu verweilen. Sie hatten 22 Zimmer für die Gäste und drei Räume für sich.

Das Licht, gebrochen vom Apfelbaum im Vorgarten, überflutete die Eingangshalle. Die Stille schluckte die Schönheit. Weil nichts zu hören war, schien alles sichtbar, die Stumpfheit des Parkettbodens, das Poröse des Teppichs vor der Rezeption, die Kopfhaut von Frau Lorenz unter dem spröde gewordenen Haar.

Sie glaubte, die Atemnot komme wieder über sie, und beschleunigte, Frau Lorenz an der Rezeption bedachte sie nur mit einem Nicken, Lothar hatte die Hausdame über den Ausflug ins Bild gesetzt.

Ihr Mann und die Kinder warteten auf dem Hinterhof, vor dem Auto. Sie hatte angenommen, sie wären schon eingestiegen. Sie müsste sich nur noch dazu setzen, auf den Beifahrersitz, die Rückenlehne zwischen sich und den Blicken der Kinder.

„Was hast du so lange gemacht, Mama?“

„Sie hat mein T-Shirt geholt. Dabei brauche ich gar kein T-Shirt.“

Sie lächelte, den Blick auf den aufgesprungenen, unebenen Asphalt gerichtet. Sie hörte, wie Lothar nichts sagte.

Sie hatte auf solche Ausflüge bestanden, all die Jahre hindurch, auf die Gefahr hin, dass Lothar sie für hysterisch hielt. Dem Hotel den Rücken zukehren, und wenn es nur für einen Nachmittag war, versicherte ihr, dass dies immer noch möglich war: das Hotel zu verlassen. Vermutlich war das in jedem Beruf so: Man machte sich ihn schlimmer als er war, man betrachtete sein Büro, seine Baustelle oder Fabrik als Gefängnis, damit der Ausbruch am Wochenende auch ganz sicher umso schöner war. Wenn sie erst einmal über dem Main waren, spätestens in den Schwanheimer Dünen, würde das alte Gefühl, die große Freiheit, sich schon einstellen.

Sie bogen aus der Leverkuser in die Bolongarostraße ein, sie mussten fast bis zum Bolongaropalast fahren, ehe sie mit dem Auto hinunter zum Main abbiegen konnten, zu Fuß wären sie schneller gewesen. Aber wenn sie schon einen Ausflug machten, dann richtig. Die Mainfähre fuhr nur für sie. Es war weder die Zeit, Ausflüge zu beginnen, noch sie zu beenden, Mittagsessenszeit.

Tue ihm leid, sagte Lothar zu dem Fährmann, der missmutig sein angebissenes Wurstbrot wieder in das Frischhaltepapier wickelte, die Limonadenflasche mit zu großer Geste zuschraubte und den Generator anwarf. Sie ärgerte sich, dass sich ihr Mann entschuldigte, und dann darüber, dass sie sich wegen so etwas ärgerte.

Ein Seil zog die Fähre über den Fluß, es waren nur sechzig, vielleicht siebzig Meter. Mehr als zwei Autos hätten nicht hinauf gepasst. Aber die Kinder waren ausgestiegen und hingen an der Reeling. Sie erwarteten, dass der Wind mit ihren Haaren spielte, dass Wellen über Bord schwappten. Sie hatte ihnen früher oft vom Meer erzählt.

„Steigst du nicht aus, Lisa?“

-

„Alles in Ordnung, Lisa?“

Sie tat, als hätte sie Lothar nicht gehört, und stieg aus. Sie blickte zurück, nicht nach vorne, damit der träge, heiße Wind ihr ins Gesicht blies und nicht von hinten in die Frisur fuhr, obwohl sie die immer noch schulterlangen Haare mit ein, zwei Handgriffen blind hätte richten können. Links hinter ihnen lag der Frachthafen der Farbwerke, der Kran stach heraus. Daneben kannten die Schornsteine der Werke keinen Sonntag. Milchig stieg ihr Rauch auf, eine weiße Versicherung am ansonsten unbefleckt blauen Himmel. Es ging voran.

Katja hatte die Hände in das weiße Gitter an der Reeling gekrallt, so dass die Knöchel der Finger beinahe die Farbe des Gitters annahmen. Halb stand Sascha hinter seiner Schwester, halb hing er auf ihrem Rücken. Wenn sie es richtig interpretierte, versuchte er, sie über Bord zu werfen.

Sie fühlte nicht die Kraft in ihr, den drohenden Geschwisterstreit zu ersticken, aber sie musste wohl. Sie rückte ihre Sonnenbrille zurecht.

„Schluß jetzt!“ Mehr als die Kinder erschreckte der Aufschrei sie. Ihre Stimme. Sie hatte heute zu wenig gesprochen. Die Stimme war noch nicht aufgewacht.

„Soll ich euch ein Geheimnis verraten? Letztens sind aus der Produktion der Farbwerke 1000 Liter Shampoo ausgelaufen, danach sah der Main aus wie unsere Badewanne beim Schaumbad.“

„Wirklich?“ Sascha ließ das Gummiband seiner Badehose schnalzen und sah seine Schwester mit dem Gesicht eines Jungen an, der sich daran gewöhnt hatte, immer der kleine Bruder zu sein. Katja verzog die Nase.

„Stimmt das, was Papa sagt, Mama? Und hatten dann die Fische Shampoo auf dem Kopf?“ Sascha rannte zu ihr, umklammerte ihre Hüfte und presste seinen heißen Kopf an ihren Bauch, so dass sie an ihre eigene Weichheit erinnert wurde.

Seine ausgelassenen Erzählungen hatten ihr an ihrem Mann immer gefallen, sein Enthusiasmus, wenn er etwas erzählt hatte und am meisten von allen am Tisch daran glaubte, dass es lustig war. Das Niveau seiner Anekdoten war gesunken, seit die Kinder auf der Welt waren, nichts logischer als das, Eltern passten sich dem Verständnis und dem Humor der Kinder an, und übersahen es, wenn die Kinder älter wurden, wenn die Geschichten wieder an Geisteskraft und Witz hätten gewinnen müssen. Zwölf war Katja. Ödeten sie die Kindergeschichten ihres Vaters schon an oder war ihr Schmollgesicht nur eine Maske, um die Zweifel zu verbergen, ob die Shampoogeschichte vielleicht nicht doch stimmte?

„Ich weiß nicht, Sascha.“

Sie hatte Kopfschmerzen, aber ohne die Schmerzen: Da war einfach nichts in ihrem Kopf, das hinderte sie daran, einen klaren Gedanken zu fassen.

Sie ließen das Auto am Werkstor K801 stehen. Links, hinter Mauern nur zu erahnen, breiteten sich die Farbwerke aus, rechts, nur von dem asphaltierten Feldweg getrennt, begann unmittelbar die Natur, zunächst domestiziert, Felder und Schrebergärten mit italienischer Fahne, dann gepflegt wild der Wald um die Schwanheimer Dünen. Das klang nie an, wenn in Zeitungsartikeln vom Weltunternehmen Farbwerke geschrieben wurde. In welch dörflicher Welt sich das Unternehmen befand.

Ihr Mann sagte etwas zu ihr. Sie registrierte es, zu spät, um die Worte aufzunehmen, und nickte kaum erkennbar. Sie dachte, wie es werden würde, wenn sie Medikamente nehmen musste, sicherlich musste sie Medikamente nehmen. Es versuchen, bis zum Ende.

„Wo willst du hin?“

Sie erkannte, dass ihr Mann und die Kinder stehen geblieben waren und die schottisch gemusterte Picknickdecke im Dünensand ausbreiteten. Die Kinder wussten gar nicht, wie besonders es war, hier, mitten in Frankfurt, genauer gesagt am Stadtrand von Frankfurt, Dünen zu finden. Sie kannten keine anderen Dünen; das Meer. Nur aus ihren Erzählungen.

Ein Hotel machte nie Ferien. Und er hatte auch noch gelacht, wenn er das sagte, sie schloß nicht aus, dass er es wirklich witzig fand, wie er sich ausdrückte. Ein Hotel macht nie Ferien.

Wenn ihre Eltern nicht so früh gestorben wären, hätte sie ein Argument gehabt, hätte sie sich Lothar widersetzen können: Ich fahre mit den Kindern zu meinen Eltern an den Timmendorfer Strand. Nach Hause. Aber so. Hätte er immer entgegnen können: Nach Hause? Zu Hause ist hier, Lisa.

„Bekomme ich gleich ein Stück Kuchen?“

„Nach dem Essen, Sascha. Gibst du mir bitte die Tasche mit dem Essen, Lisa?“

Sie spürte nicht die Blicke, sondern nur die plötzliche, erwartungsvolle Stille, die sich auf sie richtete.

„Was?“ Innerlich schüttelte sie sich wach. „Was hast du gesagt, Lothar?“ Ihre Stimme lief noch immer losgerissen über die Dünen. Dünn und brüchig. Er lächelte.

„Die Essenstasche.“

Er hatte den Kopf schon wieder gesenkt, um die Plastikteller und Trinkbecher auf der Decke aufzustellen, zwei auf der einen, zwei auf der anderen Seite, symetrisch angeordnet.

„Ich glaube, ich habe die Tasche vergessen.“

Die Mittagsonne brach durch die vereinzelt stehenden Pinienbäume. Es war heißer als sie gedacht hatte. Hinter den Bäumen hörte man einen Mann mit tiefer, selbstbewusster Stimme nach einer Sabine rufen. Sie konnte nicht sagen, ob ein Kind oder ein Hund gemeint war.

Katja und Sascha - dunkle Augen, vor Glanz rot schimmernde braune Haare die eine; breite Wangenknochen, strohig blond der andere - sahen endlich einmal wie Geschwister aus, die Münder synchron schief, zur rechten Wange hin mehr als zur linken aufgerissen.

„Lisa.“

„Ich habe sie tatsächlich vergessen.“

„Meinen Geburtstagskuchen?“

Sie fühlte nicht, was sie fühlen wollte, keine Scham, nicht einmal Ärger.

„Lisa, wie kannst du die Geburtstagstorte vergessen? Wir reden nicht von einem Kaugummi, den man übersieht, an den man einen Moment nicht denkt. Sondern von einer Geburtstagstorte - an seinem Geburtstag!“

„Ich weiß.“

„Du weißt.“

„Dir ist es ja auch nicht aufgefallen, als ich aus dem Hotel kam, als ich ins Auto einstieg.“

„Weil ich andere Sachen zu tun hatte!“

Er hatte immer andere Sachen zu tun. Kellner wurden in letzter Minute krank und mussten ersetzt werden, Toilettenspülungen verstopften, wenn die Familie beim Mittagessen saß, Gäste klingelten um zwei Uhr nachts, weil sie nicht daran dachten, dass der Schlüssel zur Eingangstür in ihrer Hosentasche steckte.

Eine Ehefrau, die auch noch auf Ausflügen bestand.

Er hatte ihr nie gesagt, wie sehr ihn ihre Wünsche unter Druck setzten. Er hatte es nicht sagen müssen.

„Und mein T-Shirt hast du auch nicht dabei?“

„Nein, Sascha, dein T-Shirt habe ich auch nicht dabei. Ich habe alles vergessen.“

Die Tränen hatten sich schon in seinen Augen gestaut. Als Kind glaubte man immer verschämt, man weine viel mehr als die anderen Kinder. Aber Sascha, ihr Sohn, weinte wirklich leicht, auch wenn sie keinen Vergleich hatte, außer mit Katja.

„Aber mir ist kalt! Ich friere in der Badehose!“

Sie stand noch immer drei Meter abseits, genau dort, wo sie verspätet stehengeblieben war, als sie merkte, die anderen breiteten die Picknickdecke aus.

„Papa, ich will mein T-Shirt.“

„Und ich habe Hunger.“

„Okay, Kinder, keine Aufregung. Ist alles kein Problem. Wir fahren in die Eisdiele und essen dort ein Geburtstagseis. Was haltet ihr davon?“

„Ich will aber meinen Schokoladenkuchen!“ Die Worte wurden von Tränen verschluckt.

Wenn Sascha zu ihr gelaufen wäre, wenn er nicht darauf gewartet hätte, dass sie zu ihm käme, hätte sie ihn sicher in die Arme geschlossen, seine Haare gestreichelt und geflüstert, ist ja gut, ist ja gut.

„Ein Schokoladeneis mit Sahne ist praktisch dasselbe. Nur besser.“

Nach all den Jahren stand er noch immer auf ihrer Seite. Wenn es losging, Kinder gegen Mutter, war er bei ihr. Dabei war es offenkundig ihre Schuld: den Geburtstagskuchen vergessen. Es gab keine Entschuldigung. Er sollte so verärgert wie Sascha und Katja sein, vielleicht war er es auch, vermutlich war er es. Aber er nahm sie in Schutz. Ist alles kein Problem. Warum? Weil er sich immer auf die Seite der Schwächeren schlug, hätte sie gesagt.

Hinter den Ohren wurde er grau. Wie lange konnte ein Mensch blond sein? Bis 45? 50? Dann hatte er noch sieben Jahren. Er hatte sein hellblaues Hemd für den Ausflug nicht gewechselt, nur die Ärmel sauber aufgerollt, zum Zeichen, dass er die Arbeit unterbrach.

Einige Tage, nachdem sie geheiratet hatten, im Standesamt an der Seilerbahn, hatte sie eine Tabelle angefertigt, 23/29, 32/38, 39/45, 52/58, 58/64, 79/85, sie hatte die Zahlen betrachtet, sich nur darauf konzentriert, wie sie aussahen und wie sie wirkten, und war zu der Meinung gelangt, wenn sie 32 und 38 wären, würde der Altersunterschied zwischen ihnen am größten ausfallen. Die 2 und die 8 hinter der 3 sahen so fremd, so unterschiedlich aus. 37/43 hatte sie damals nicht aufgeschrieben. Sonst wäre sie vielleicht zu einem anderen Ergebnis gelangt.

Sie sollten aber erst einmal noch eine Weile spielen, bevor es in die Eisdiele ging. Es war der desperate Versuch ihres Mannes, zu retten, was nicht mehr zu retten war. Die Schultern hochgezogen, stampfend, Sascha mit einem dicken Ast auf Baumstämme schlagend, traten die Kinder den Rückzug in den Wald an.

„Lisa.“

-

„Setz dich doch wenigstens hin.“

Sie blieb stehen. Er stand auf.

Er versuchte, sie auf den Mund zu küssen. Seine Nase stieß an ihre Sonnenbrille. Er schlang seinen Arm um sie, doch er fand keinen Halt auf ihrem Rücken.

„Seit du am Freitag beim Arzt warst, bist du so abwesend.“

„Ich habe Kopfschmerzen.“

„Bist du sicher, dass der Arzt mit seiner Diagnose recht hatte, dass dir nichts fehlt? Vielleicht solltest du noch einen anderen Doktor konsultieren.“

Sein Arm gab auf. Er steckte die Hände in die Hosentasche.

„Bist du sicher, dass der Arzt gesagt hat, dass dir nichts fehlt?“

Sie beugte sich vor, er war so überrascht, dass er zurückschrak, ihr Mund erreichte den seinen trotzdem. Fest umschlossen ihn ihre Lippen.

„Es ist nichts, Lothar.“

„Sicher?“

„Ganz sicher.“

Sie ging einfach los, ohne sich umzudrehen, rief sie: „Komm, hol die Kinder und lass uns ein Eis essen gehen.“

Im Auto schwieg Katja vor Hunger. Sascha hörte nicht auf zu reden vor Hunger, Lothar bekam schlechte Laune vor Hunger. Sie spürte keinen Hunger und tat, als nehme sie nichts wahr. Aber das war es, was der Körper aus Menschen machte: Menschen schrien sich an, weil einer Hunger hatte, Menschen missachteten sich schweigend, weil einer einen vollen Bauch hatte, Menschen begannen sich zu hassen, weil einer Kopfschmerzen hatte. Die überwiegende Mehrheit von Konflikten, sie würde sagen: 62 Prozent, hatte nichts mit den Gefühlen oder Nichtgefühlen füreinander zu tun, sondern mit dem körperlichen Zustand einer der beiden Konfliktparteien. Aber was, wenn der eigene Körper sich unter einem einfach auflöste, schon nicht mehr spürbar war, Asche zu Asche, Staub zu Staub? Näherte sie sich dann auch dem Zustand absoluter Konfliktlosigkeit an?

„Mama“, Saschas Hände griffen von hinten um ihren Rücksitz, auf ihre Schultern, tolpatschig, unpräzise, voller Wärme. „Warum bist du so traurig?“

Warum tust du mir das an, beklagte sie sich bei dem Gott, an den sie nicht glaubte.

„Ich bin nicht traurig, Sascha.“

„Deine Mutter ist nur etwas müde.“

„Willst du lieber schlafen, als ein Eis zu essen?“

Sie schüttelte den Kopf und wusste nicht, ob man es sah.

Sie rollten langsam durch die Königsteiner Straße und kamen fast zum Stehen, als sie in die Dalbergstraße einbogen, obwohl kein anderer Wagen zu sehen war. Kannst du nicht schneller fahren, hätte sie normalerweise gesagt. Obwohl sie wusste, wie ungern er Auto fuhr, obwohl sie es nicht eilig hatten.

„Können wir nicht schnell bei Sergio vorbeifahren und fragen, ob er mitkommt?“

„Du weißt doch, Wochenende ist Familienzeit, Sascha. Da stört man nicht. Wir können die Garcías nicht einfach überfallen und ihnen ihren Sohn stehlen. Sie haben sicher andere Pläne.“

„Haben sie nicht.“

„Ich habe nein gesagt“, Zorn des Hungers.

Der Widerspruch in seinen Worten fiel ihrem Mann nicht auf, fiel niemandem außer ihr auf. Man denkt nicht an sich selbst, wenn man über andere Leute spricht. Wochenende ist Familienzeit.

Sie war darauf vorbereitet gewesen, als sie Lothar heiratete. Sie wusste, dass sie in ein Hotel zog, wie es sein würde. Sieben-Tage-Woche, immer lächeln. Damals hatte sie jedenfalls noch daran geglaubt, dass man auf etwas vorbereitet sei, wenn man gesagt bekam, was einen erwartete.

Sie hielten direkt vor der italienischen Eisdiele gegenüber dem Bahnhof. Dreiviertel aller Parkplätze waren ungenutzt. Die Eingangstür der Eisdiele stand himmelweit offen, drinnen war es dämmerdunkel und, wie auf der Straße, fast menschenleer. Es war zu heiß, um das Haus oder das Silobad zu verlassen, selbst wenn es für ein Eis wäre.

Ein Mann im weißen Poloshirt, sie meinte, ihn von irgendwoher zu kennen, saß mit dem Rücken zu ihnen auf einem Barhocker vor dem Spielautomaten.

Das grüne Kunstleder der Sitzbank zischte träge, als Sascha seinen nackten, heißen Rücken dagegen lehnte und sofort wieder davon löste, um die Eiskarte vom Tisch zu nehmen. Sie saß neben ihrem Sohn auf der Bank, nur zur Hälfte am Tisch.

Der Kellner kam. „Was wollt ihr?“, fragte ihr Mann. Katja bestellte eine Waffel mit je einem Bällchen Zitronen- und Erdbeereis. Sascha nahm Schokolade und Vanille, und der Kellner sagte, da müsste er ihm aber einen Becher geben. Sechs Bällchen passten nicht in eine Waffel. „Dann geben sie ihm nur drei“, sagte ihr Mann. Sascha protestierte, aber ausschließlich, weil er fühlte, dass es von ihm erwartet wurde.

„Sechs Bällchen – du bist ja wahnsinnig.“ Lothar sagte es, als spreche er ein Kompliment aus, mit seiner Kindergeschichtenstimme. Und Sascha lachte, als hätte ihm jemand ein Kompliment gemacht. Und Katja lachte, als sei sie stolz auf ihren Bruder. Eine fröhliche Familie. Eine glückliche Familie. Sie hätte das Foto machen können. Wenn nicht auch der Fotoapparat in der vergessenen Tasche gesteckt hätte.

Der Mann grüßte vom Spielautomaten herüber und erhob sich. Er war weder jung noch alt, noch erinnerte irgendetwas an ihm daran, dass er einmal jung gewesen war. Sie hatte ihn noch nie gesehen.

„Heute mal das Hotel zugemacht? So ist’s recht.“

„Die Hausdame schiebt Wache. Sonntagnachmittag ist sowieso tote Hose im Hotel.“

Sie war daran gewöhnt, dass ihr Mann in Höchst immer von jemandem angesprochen wurde. Wie ein schwarzer Fahrstreifen trennte der Gürtel des Mannes das weiße Poloshirt von der blauen Hose. Die Hose war zu kurz. Sie hatte es aufgegeben, sich über die Kleidung von Männern zu entsetzen.

Der Mann hatte einen Schnauzer und hervorstehende Augen, die ihn nicht bedrohlich, aber auch nicht gerade intelligent aussehen ließen. Sicher hatte er schon seit Jahrzehnten kein Eis mehr gegessen. Er rauchte eine Zigarette.

„Und läuft das Geschäft?“

„Muss ja, muss ja“, sagte ihr Mann. Sie hatte es noch nie gemocht, wie er mit anderen Männern redete. Sie beobachtete Katja, die mechanisch, nach einem Plan, ihr Eis schleckte, mit immer gleichen, rotierenden Bewegungen der Zunge, von unten nach schräg oben. Sie hatte mehr von ihrem Vater als von ihr.

„Wenn die Farbwerke brummen, geht’s uns gut.“

„Solange die Schornsteine rauchen“, sagte ihr Mann.

„Jetzt haben sie sogar eine Pharmafirma in Amerika gekauft. 1983 wird ein Rekordjahr. Sagen alle. Und die Leute haben trotzdem immer was herumzumeckern. Diese Grünen jetzt wieder.“

Ihr Mann nickte, sagte aber nichts. Der Mann nahm es als Aufforderung weiterzureden.

„Umweltschutz. Schön und gut, sage ich, ich habe auch lieber einen sauberen Stadtwald, aber mal ganz ehrlich“, er beugte sich zu ihrem Mann herunter, um ihm ein Geheimnis mitzuteilen. Es war zwanzig nach drei auf der großen Wanduhr neben dem Alkoholflaschenregal, und sie fühlte, die Geburtstagsfeier war zu Ende. Der Mann kam so nah, dass sich Lothar von ihm weglehnte. Aber dann redete er so laut, dass sie alle sein Geheimnis hören konnten. „Ich habe die Fische im Main gesehen, Bauch nach oben, in den sechziger Jahren. ,Da haben die Farbwerke mal wieder was in den Fluß abgeleitet’, habe ich zu meiner Frau gesagt – und: Hat es uns geschadet? Nichts hat es geschadet.“

„So ist es“, sagte ihr Mann.

„Atomkraft nein danke!“, sagte Sascha.

Fast hätte sie gelacht. Als sie das entsetzte Gesicht ihres Mannes sah.

„Es gibt Aufkleber mit einer lachenden Sonne, da steht das drauf“, erklärte Sascha: „Gehört auch zum Umweltschutz.“

„Jedenfalls“, sagte der Mann. Aber sie sahen alle, dass er nichts mehr zu sagen hatte.

„Kann ich noch ein Eis haben?“

„Ist sein Geburtstag heute. Der achte.“ Lothar stubste Sascha auf die Brust.

„Na, dann noch eine schöne Feier, junger Mann.“ Sascha wusste, er sollte lächeln, verzog aber nur kurz den Mund.

Danach saßen sie schweigend da. Das Kunstleder klebte im Rücken. Die Kinder machten die Eiswaffeln klein.

„Ich weiß, dass es nicht leicht für euch ist“, sagte ihr Mann schließlich. Es klang, als rede er eher über sie als zu ihr. Katja blickte auf ihre Waffel, also tat Sascha es ihr gleich. Lothar legte den Arm um Sascha und zog ihn heran. Das letzte Eis tropfte ihrem Sohn auf den Bauch. „Aber als ich so alt war wie ihr, habe ich auch schon im Hotel mitgeholfen. Mit eurem Großvater habe ich die Teppichböden verlegt. Hier“, er schob Sascha zur Seite und zeigte die Innenseite des linken Arms vor, „die Narbe ist von einem Teppichmesser. Ich habe den Schnitt erst einige Minuten später bemerkt. Da war mein Blut schon überall auf den Teppich getropft. Seitdem kommt uns nur noch roter Teppich ins Hotel.“ Er lachte. Sie hatten dunkelgrauen Teppich in den Zimmern. „Wir - wisst ihr was?“

Sie wussten nichts und schüttelten deshalb den Kopf.

„Dieses Jahr werden wir das Glück zur Wende zwingen. Na, was haltet ihr davon?“

Ihr Glas Mineralwasser stand unberührt vor ihr.

Katja spielte mit der Waffel, sie biss die Spitze ab und saugte nun von unten die Eisreste aus. „Und eines Tages wird einer von euch dann ein blühendes Hotel übernehmen.“

Ihr Mann strahlte Sascha an. Sascha suchte den Blick seiner Schwester, aber sie saugte, Kopf in den Nacken gelegt, mit lautem Schlürfen die längst leere Waffel aus und starrte dabei die Decke an.

„Mama“, sagte Sascha, „warum nimmst du nicht die Sonnenbrille ab?“