Auszug aus L Ü C K

Ulrike Draesner

Eigentlich war ich nie allein
Manchmal wurde ich weggesperrt. Doch selbst dann tauchte sie auf.
Und hockte sich vor mich hin. Und schaute mich an. Und grinste dazu.

Wie die Senderwahl
in Mutters altem Küchenradio hakt der Sonnenstrahl über den Fliesenboden des Bads, während sie, die ich bewache, einfach nur vor mir sitzt. Wobei die gelben Fliesen wieder leuchten wie das, was sie produzieren soll - dort, auf der erhöhten Plastikschale in Form einer Mandoline, von derem grünen Rand ihr weißrosa Fleisch mir entgegenquillt.
Tier, sage ich.
Dass es draußen Morgen ist, und das Sonnenlicht schon drei Programme weitergerückt; warum sie noch immer nicht leer wird, sage ich ihr. Die Sonne kriecht. Auf meiner Haut, den nackten Armen, dem Millefleurs-Sommerkleid. Die Blätter der drei großen Bäume vorm Badfenster drehen in der Luft. Dass ich nicht nach draußen sehen soll, antwortet sie, dass ich dableiben muß, solange sie nicht fertig ist.
...muß abgewischt werden, ruft Mutter von unten.

Die Blätter drehen wie Kiesel. Meine Augen drehen mit. Ich blinzele. Wende den Kopf hierhin und dorthin - komme nicht raus - sehe Dinge - ruckartig - unzusammenhängend - ihre nackten Waden, ihre runden, weichen Knie. Sie sind riesig, in diesem Licht, haben Grübchen, Dellen; ein überall fleischfarbenes, mit wachsiger Haut überzogenes Gesicht.
Tier, denke ich.
Da kräht unter dem süßen gelben Wuschelkopf der feuchte Mund: fertig fertig - und ich hebe Anita vom Topf.

Ich weiß, du meinst das nicht so,
sagt Mutter oft. So oft wie: wir vier. Sie schüttelt dazu den Kopf, daß Hennarot in ihren Locken spielt. Weder Farbe noch Locken sind echt, aber das wissen nur wir. Wir sind vier, "wir vier", das reimt sich fast.
- Anita stinkt.
- Ich weiß, du meinst das nicht so.
- Doch.
- Nein, nein, niemals stinkt sie so, du kannst es bloß nicht anders sagen.
- Natürlich kann ich.
- Nein. Wenn sie wirklich so stinken würde, müßtest du das nicht machen, das wäre doch schrecklich.
Das finde ich auch. Irgend etwas ist also falsch: meine Mutter oder meine Nase. Eine lügt. Ich entscheide mich für meine Nase. Also gegen meine Nase. Ich bin verwirrt. Mutter, entscheide ich, lügt mich nicht an. Wir zwei, sagt sie manchmal zu mir. Ich drücke meine Nase dann an Mutters Bauch. Mutter drückt mich dann an sich. Meine Nase und Mutter sind eins. Niemand lügt. Der Dreimaster auf der von mir gemalten Kachel, die Vater über der Wanne zwischen all dem Fliesengelb eingemörtelt hat, fährt durch ein glänzendes schwarzschaumiges Meer. Vor dem Schiff treiben drei kleine Gespenster im Wasser. Sie wedeln mit den Armen. Mein Magen knurrt. Ich will weg. Anita schreit, weil sie doch nicht fertig ist.

Wir leben im Kiesgebiet,
auf rundgeschliffenem, graublauem oder graugrünem Stein. Restmulde aus dem Eem. Vater sagt, alle Menschen leben auf etwas aus der Vergangenheit.

Wer Auslauf braucht, kann in die stillgelegte Kiesgrube auf der anderen Seite des Flusses gehen. In ihn steigt man ohne Problem zweimal hinein, denn er fließt in einer Schleife, um das Sägewerk anzutreiben. Unter jedem Tritt klickern die Kiesel weg. Die ganze Umgebung, das sogenannte Umland, Industriegebiet rundum - flach wie Hähnchenbrust. Zwischen den aufgeschütteten Kiesresten wächst der Sauerampfer, den Jola am liebsten ißt. Außer Jola mag ich noch Hunde. Manchmal schießt einer in der Kiesgrube hinter einem Steinhaufen hervor, weg vom eigenen Gestank. Mit Jola kann ich im Gebüsch sitzen, Schokolade essen, Anita zerstören.
Denn Jola und ich sind schnell. Wie weich biegen unsere Körper sich beim Gummitwist, erregend, wie gleitet die Haut über den Knöcheln, rosabraun, wie blitzt hellster Härchenflaum, ja, unsere Muskeln spannen sich, Federn sind wir - aber aus Draht, unsere Knie immer zerschlagen, wir stoßen ins Leben vor.
Und dann kommt Anita. Hängt sich dran. Will mit. Dabei sitzt sie ewig auf dem Topf, redet noch immer unverständlich, mit 4, wie ein Baby watschelt sie hinter uns her. Jola und ich, ins Gebüsch. Das grünliche Licht dort, der modrige Duft, das Moos, das wir ausgelegt haben, damit es die Geräusche schluckt, die Enge, der kugelige Raum, das alles sagt: hier hört die Unschuld auf. Die dornigen Zweige, die wir an den Eingang halten, sagen es auch. Gestern hatten wir ein Fernglas dabei. _Feldstecher> nennt Vater es. Ich schob die großen schwarzen Augen zwischen den dornigen Zweigen aus der Höhle. Anita lief schreiend davon. Jola nahm das Fernglas, drehte es um, gab es mir. Ich lachte, denn wie klein war Anita, wie torkelte sie doch, wie weit weg stand sie schon, ein schwammiger Fleck: meine Schwester. Ausradiert. Ja, mit solchen Augen, schwarzen, großen, runden, schauen wir manchmal aus der Höhle heraus.
- Seid ihr endlich fertig?, ruft Mutter am Treppenaufgang.

Ich starre auf die Bäume über dem Walmdach, unter dem Jola noch träumt. Scharf und klar treten die Stämme gegen die Morgensonne heraus. Anitas blaue Augen blitzen mich von der Seite an. Der Plastikboden der Mandoline knirscht, rutscht mit knirschendem Schaben über die Fliesen. Ich greife zu, fasse einen Zipfel von Anitas Rock. Fühlt sich an wie mein Rock, weil er mal meiner war. Anita fällt. Bevor sie wieder schreien kann, schiebe ich ihr einen Gummibär in den Mund.
Das machen wir jedesmal. Ich habe das Bärchen die ganze Zeit in der Hand gehabt. Es ist klebrig und warm von mir, doch das stört Anita nicht. Sie kaut, und ich sehe ihr an, dass sie noch eines wollen wird. Das macht sie jedesmal. Ich habe einen geheimen Vorrat. Sie kennt ihn genau.

Seit Anita da ist,
bin ich ihre Bewacherin. Mutter bewacht mein Bewachen Anitas. Damit ist Mutter so beschäftigt, dass Vater sie, Mutter, nicht mehr zu bewachen braucht. Nur früher sind Fehler im Bewachen passiert. Die Sache mit dem Neger - zum Beispiel. "Die Sache". Ich darf das nicht wissen. Aber Erika hat es gestern erzählt.
Erika besucht Mutter jeden Mittwoch. Plausch. Sie fährt mit ihrem roten Fahrrad über den kiesigen Weg, der auch ein holpriger Weg ist, zu uns. Jeden Mittwoch kommt Vater später heim. Später als dienstags oder donnerstags. Mittwoch, ein geschäftiger Tag, sagt Vater. Erika, seine ältere Schwester, ist Lehrerin. Sie hat viele Kinder, sagt sie. Für sie ist Mittwoch ein Tag wie Dienstag oder Donnerstag. Erikas Haare sind grau. Ich habe Angst, so zu werden wie sie.
Mutter und Erika schauen die Schachteln an. Die Schachteln stehen nebeneinander. In einer liegt ein Büschel meiner Haare, als ich 6 Monate war, eines mit 12 Monaten, 18 Monaten, 2 Jahren, zweieinhalb, 3, 4, 6, 8 Jahren und eines, ganz neu. Dazu Milchzähne. In der anderen Schachtel liegen die Haare von Anita. Da hören die Bündel bei Nr. 6 schon auf. Und kein Milchzahn, kein einziger, keiner! Ich bin froh um die Schachteln, denn da gewinne ich.
Ihr liegt dort wie kleine Tote, sagt Erika, Zähne und Haare, die bewahrt man doch nur von Toten auf. Dabei schaut sie Mutter an, die diese Schachteln auf ihrem Schreibtisch aufbewahrt. Erika hat keine solchen Schachteln, sagt Mutter, sie sei nur neidisch, Erika, die wolle ein Kind, sagt Mutter, aber wer weiß, ob sie, Erika, überhaupt eine geeignete Schachtel hat.

Und da hat Erika gestern beim Mustern der Fotoalben, das dem Mustern der Schachteln immer folgt, Mutter nach dem Neger und nach Fotos des Negers mit Mutter gefragt. Diese Sache damals!, hat Erika gesagt. Der Neger war Mutters Freund. Damals, im Dorf. Nach dem Krieg, als auch Tante Erika plötzlich im Dorf wohnte. Mit Vater. Der erst 15 war. Also noch zu jung. Während Mutter schon 20. Also gerade im rechten Negeralter, sagte Erika. Dabei blitzten ihre Augen Mutter an, wie Anita mich eben angeblitzt hat. Mutter wurde rot. Ich sagte nichts. Ein Neger hätte mir gefallen. Ich hatte schon ein paar Neger in der U-Bahn gesehen. Die U-Bahn war ganz neu, und die Neger sahen auch ganz neu aus, so glänzend, so poliert. Ich mochte klare Farben. Schwarz war gut, nur rot noch besser. Die roten Flecken auf Mutters Wangen schaute ich genau an. Sie verschwanden leider sehr schnell. Mutter nämlich fragte Erika zurück: und wie war es bei dir? Biss da jemals jemand an?
Erika wurde blasser. Meist war sie sowieso schon blaß. Das kam vom Puder auf ihrem Gesicht. Zu Begrüßung und Abschied mußte ich den Puder küssen. Erika stieg von ihrem roten Fahrrad, mit dem sie den holprigen Weg fuhr, zog die Plastikklammern aus ihrer Hose. Küssen. Beim Abschied umgekehrt: Küssen. Dann schob Erika die Plastikklammern in die Hosenbeine, stieg aufs Rad und fuhr den holprigen Weg, der auch ein steiniger Weg war, zurück zu ihren Tagen, in denen ein Dienstag wie ein Mittwoch oder Donnerstag aussah und es keine Neger gab.

Anitas Füße schleifen am Boden,
auf der Treppe riecht es nach Kaffee. Die Küchentür schiebt sich in meinen Blick, denn ich habe den Kopf zur Seite gedreht, weg von Anita, die sich an meine Schulter schmiegt und das Gummibärchen kaut. Marmelade gibt es, sagt die Kartenkönigin zu Alice, `jeden anderenA Tag. So wird das Glück verteilt. Marmelade gibt es also nie.

Ich trage Anita die Treppe hinunter, obwohl sie längst laufen kann. Aber wenn sie mich oben am Absatz ansieht, die Arme nach mir ausstreckt und schleckt: wie gut ist doch dein Gummibär, dann schleppe ich sie eben wieder, obwohl Mutter sagt, die ist doch viel zu groß für dich!
Klemme mich zwischen Tischkante und Besenschrank auf einen Stuhl. Der Heizkörper rauscht. Jetzt, Ende September. Die Eiszeit kann so weit entfernt nicht sein. Was Eem wohl heißt? Muß ich Vater fragen, doch er ist mal wieder nicht da.
Sonst sind wir immer zu viele. Immer heißt es dort, wo ich hinkomme: oj, noch eine!A Im Kindergarten fing es schon an. Ich bekam keinen Platz. Bei der Einschulung mußten sie extra Stühle und Tische aus anderen Klassenzimmern holen; wir waren noch mehr als gedacht. Doch hier, in der Küche, sind wir zu viele und zu wenige zugleich. Wir vier. Vater fehlt, und Anita ist ein Kropf.
Mutter schaut in die Zeitung. Ich schlürfe den inzwischen lauwarmen Kakao. Vater bewacht Supermarktbauten, "schaukelt die Chose". Supermarktbauen geht einfach, sagt Mutter, dass das doch jeder. Weder Keller noch Speicher noch Balkon. Wozu man ihn da überhaupt brauche!
Aber Vater zieht die linke Augenbraue hoch - die, die sich gern allein bewegt: dass er seine Pappenheimer kennt! Immer, wenn er die Baustelle betritt, essen die Bauarbeiter oder trinken Bier oder tun beides. Meistens trinken sie ein Bier und einen Schnaps. Vater, als alter Fuchs, schleicht sich zwischen den Betonverschalungen an. Einmal versuchte ein Maurer, der Vater trotz der füchsischen Tarnung kommen sah, sein Bier zu retten - schüttete es in seinen Bauhelm. Vater hat es genau beobachtet, nur gesagt hat er nichts, ein bißchen mit den Arbeitern geredet wie immer, im Harmlosjargon, und dann: so, jetzt aber los! Alle setzten sich den Helm auf, eben der Missetäter auch, was blieb ihm schon übrig.

Das erzählt Vater aber nur, wenn Mutter nicht zuhört. Was bringst du nur die Kinder wieder auf Ideen, würde sie sagen. Dabei hat sie selbst schon die Idee gehabt, mir Bier übers Haar zu kippen, damit es blonder wird. Bei ihr hat man es früher auch so gemacht, zumindest vor dem Krieg, als es Bier noch in rauhen Mengen gab.
Ob der Bauarbeiter blonde Haare hatte, frage ich Vater lieber nicht. Wir verstehen sowieso alle nichts davon, wie schwer es ist, ohne Sprache gerade Wände zu bauen. Denn die Arbeiter reden nur ausländisch, und Vater redet nur, eigens für sie lauter, deutsch. Allerdings ist es ganz ohne Sprache noch immer leichter, gerade Wände zu bauen als mit Sprache, sagt Vater. Er kommt, das ist jetzt ein Vorteil, schon immer mit wenig Sprache aus.
Ich trinke den Rest meines Kakaos. Da Vater nicht da ist, ist Mutters Frühstück von Anfang an ein gemütlicher Teil. Wir-vier. Während ich Anita im Bad bewache, und Vater die Bauarbeiter bewacht, bewacht Mutter mein Bewachen Anitas, die die Gummibärchen bewacht.
Der Neger war ganz jung. Und schön. Vater hatte es dann auch irgendwann mitbekommen. Er sprach nie davon. Die Neger, sagte er immer, wenn er von Negern sprach. Neger kamen nur in der Mehrzahl vor, bei Vater. Bei Mutter in der Einzahl. Nur dieser Neger hatte ihr gefallen, sonst keiner. Die Neger, sagte Vater, wenn er mittwochs nach Hause kam und Erika saß da und schaute unschuldig nach Südafrika, neben Vater, im Fernsehen, die schlagen sich alle nochmal gegenseitig tot. Mutter war schwanger geworden. Hatte eine Abtreibung gehabt. Ich verstand, was Erika erzählte, denn Jola und ich hatten die Bravo und Jola hatte Was Mädchen mit 12 alles wissen wollen. Wir waren 9 und wollten daher noch viel mehr all das wissen, was man auch mit 12 nicht weiß. Mutter hatte ein Kind abgetrieben, das sowohl von dem Neger als auch von Vater hätte sein können. Im Dorf, mit der Stricknadel. Die vorher abgeglüht wurde. Das Kind war noch so klein, dass man die Hautfarbe sowieso nicht gesehen hätte. Auch wenn es mit der Stricknadel aufgespießt wurde. Ob Vater das mit dem Kind wußte, wußte ich nicht. Dass ich es wußte, wußte auch niemand, weil niemand wußte, dass in Wohnzimmerwände Ohren eingebaut werden, die aussehen wie meine Ohren und nicht aus Pappe sind.



Hast du wirklich alles weggeschüttet?
Diese Frage läßt Mutter an keinem Tag aus.
- War es zu weich?
- Hat es fädig ausgesehen?
Mutter schaut mich mit den Zeitungsaugen an, sekundenlang leeren sie die Buchstaben, die sie eben gelesen haben, auf mir aus, dann sehen sie mich und Mutter fällt ein, wozu man mich, außer zum Bewachen, noch gebrauchen kann:
- Nach der Schule gehst du bei Schlinke vorbei und holst die Urlaubsfotos ab.
Anita hat noch etwas von ihrem Kakao. Immer, wenn ich schon fertig bin, schmatzt sie extra laut und schaut mich über ihren Tassenrand hinweg listig an. Darauf könnte ich gut verzichten. Aber sie sitzt mir gegenüber und ist nicht zu übersehen. Schon ihrer Haare wegen nicht. Selbst hier in der Küche, in die das Licht nur gebrochen fällt, weil sie nach Norden schaut, die Küche, wie Mutter sagt, selbst hier leuchten Anitas Haare kräftig blond. Während meine unentschieden aschblond sind, wie Mutter sagt, graublond, schon jetzt, mit 9. Da leuchtet nichts. Und auf den Fotos ist es am schlimmsten.
Immer darf Anita, als die jüngere, vor mir stehen. Immer verdeckt ihr sonniger Körper meinen, denn sie ist kaum kleiner. Und ihr Haarglanz strahlt nicht auf mich ab, sondern über mich hinweg. Solche Pracht reißt Mutter zu Rufen des Entzückens hin. Sie freut sich gleich doppelt, denn Anita ist ihr Produkt, das Foto ist ihr Produkt, und beides ist schön.
Mein Teller ist leer. Lück, sage ich mir, das gefällt uns nicht. Die Blätter der Jolabäume werfen kleine schwarze Schattenflecken auf Anitas jetzt beinahe rötlich glänzendes Haar. Ich greife nach noch einem Toast. Butter. Erdbeermarmelade. Mein dritter Toast. Zwei sind erlaubt. Starre auf meine zerschrammten Knie. Anitas Fell schimmert so schön, würde es gern vor meinem Bett auslegen, drauftreten jeden Tag.
Ein Foto gibt es, auf dem man von mir mehr als von Anita sieht.
Lück, sage ich mir, das gefällt uns gut, da stehe ich vor Anitas Kinderwagen und schaue sie an.

Und sie mich.
Und ich sie.
Diesmal hilft Anita ihr Haar nicht, weil sie eine Mütze trägt. Dabei ist es Sommer. Ich nämlich trage ein helles, kariertes Kleid. Das ganz kurz ist. Man sieht meine nackten Beine. Man sieht meine Unterhose, klein und weiß, unter dem Kleid. Damals war ich 5. Anita und der Kinderwagen nehmen viel mehr Platz ein als ich. Trotzdem sehe ich hübscher aus. Der Rand des Unterhöschens blitzt. Nur den Rand des Fotos hat Mutter nicht hinbekommen. Auf der rechten Seite ist selbst hinter Anitas Wagen noch Platz. Doch bei mir hat Mutter einen Teil des Pos abgeschnitten, über den sich das Kleidchen wölbte und lupfte. Und wie! Lupfte, wölbte. Das konnte ich schon mit 4.
- Jetzt aber los!
Schulen rufen so laut, dass Mütter es durch einen ganzen Ort hindurch hören. In der Tür, den Ranzen an einem seiner roten Lederriemen über der Schulter, drehe ich mich noch einmal um. Der Frühstückstisch biegt sich mir entgegen, der Toast duftet, an meinem Platz steht noch das Marmeladetöpfchen mit den lila Hähnen, das ich so mag, die Butter sieht auf ihrer Schale aus wie ein kleiner Fisch - da gleitet der blaue Fußboden nur so unter mir weg.
- Knall die Tür nicht so zu...,
da knallt es schon; schon bin ich fort.
Scharfe Kanten, knirschendes Laub. Mein Schatten geht lang und wippend neben mir; wie ein Buckel sitzt der Ranzen auf ihm. An der Ecke zur Hauptstraße steht Jola. Jeden Morgen. Hier machen wir unseren Deal.

Silberpapier raschelt,

glatt streicht es sich auf der Schulbank aus. Tausche Großmutters Nimm2 gegen Schokostückchen. Die Nimm2 kommen aus Großmutters Großmuttertasche in meine Hand, wie von selbst. Die Handtasche riecht nach Puder und Staub. Großmutters Gesicht riecht nach Handtasche. Die Bonbons riechen nach dem Gesicht. Ich würde sie nie essen. Doch Jörg ist verrückt nach Nimm2. Jola tauscht eines gegen eine ganze Rippe Noisette. Gibt es Jörg, gegen einen Kuss. Jola ist verrückt auf Jörg. Der Deal klappt. Ich sauge meine Backen über der Schokolade nach innen und stelle mir die Küsse vor.
Außen sehe ich wie eine kleine Weide aus, hat Vater am Sonntag gesagt. Ich stand an seinem Fischbecken und hatte mir das Aschgraublond wie jetzt übers Gesicht gehängt. Hinter meinem Haar, das auf den Schokopapierteich meiner Bank fällt, kaue ich unbemerkt. Hebe ich die Hand, funkelt das Alupapier.
Wir sind viele, ich spüre die anderen, ganz nah. Doch was habe ich mit ihnen zu tun? Schmelze in meinen Silberteich. Schon bin ich fort. So sind wir alle. Ich verstecke mich in der Menge. Denn eine Frage der Lehrerin saust im Klassenzimmer herum, ein heißer Pfeil, er sucht ein Ziel.
Innen bin ich keine Weide, sondern ganz mit Blut gefüllt. Mein Blut ist rot wie Dieters Haar, rot. Manchmal will mein Blut aus mir heraus. Bei den anderen ist es gut versteckt; ich weiß nicht, ob sie wirklich so gefüllt sind wie ich. Nur bei mir weiß ich es sicher, denn mein Blut versteckt sich schlecht. Es sitzt knapp unter der Haut, an den Händen vor allem. Manchmal will es auch zum Hals heraus, besonders wenn ich sprechen muß. Dann flamme ich, wie Dieters Haar.
Ich kann mir Mutter vorstellen, mit dem Küssen beim Neger. Mit dem Küssen bei Vater nicht. Vater ist neidisch auf die Neger. Denn Vater hat eine Glatze, und sie wächst. Als ich am Teich stand, und er vor mir kniete, sah ich sie. Einem Neger mit Glatze bin ich noch nie begegnet. Ich kann mir Küssen vorstellen, mit Dieter.
Das Klassenzimmer dreht sich nur um ihn. Kein Wunder, dass die Frage der Lehrerin es auch schon merkt:
- OMO!

Es ist nicht sicher, ob _Omo> ein richtiges Wort ist. Ich habe Omo geschrien, jetzt bin ich selbst überrascht. Denn Dieter hat keine Antwort gewußt. Da klingelt es. Überlegt bis morgen einen besseren Reim auf Limo, ruft Frau Bartel uns nach. Die Silberkette um ihren Hals funkelt wie das Schokopapier auf meiner Bank. Ich sehe es genau, denn Frau Bartel hält mich fest und erklärt mir, warum man nicht zwischenrufen darf. Ihre Locken erinnern mich an Mutters, dicke Wicklersträhnen ineinandertoupiert.
Ja, sage ich.
Und dass man während des Unterrichts nicht essen darf und ich nicht soviel Werbung schauen soll, wobei ich nicht nur Werbung im Fernsehen sehe, sondern auch den Mond. Der jetzt von Menschen betreten worden ist, amerikanischen Menschen, die uns nah sind, hat Vater gesagt; die Erde ist blau, habe ich gesehen, leuchtend hing sie da, schön-strahlend-schräg im Nichts, und die Omo-Werbung kam danach.
Ja, sage ich, ja, und sause hinaus. Die Sonne macht Lichtflecken auf den Pausenhof. Ich trete hinein, damit mich keiner berührt. Lappige Gemüsealgen, zerflossen, schal, stehen ein paar Lehrer herum, vor Hitze die Augen halb geschlossen. Limo ist ein richtiges Wort und ein reales Getränk, der Pausenhof ist voll davon. Ich bin schnell, bin schon hindurch; vor Limo ekelt mir, schmeckt wie zu warmer Gummibär.
Meine Haut leuchtet, das ist nicht schön. Eine Allergie, geht schon vorbei. Ich habe eine Idee gehabt, nicht nur Omo. Nein, eine Idee für Anita, ganz speziell. Was für ein wunderbarer Tag! Davon leuchte ich, doch leider sieht man in diesem Leuchten auch die roten Punkte auf meiner Haut besonders gut. Ich schleudere den Ranzen in Mutters geputzten Flur, schreie Hallo!, greife mir Teddy und sause in den Keller, wie nichts.
Die Muffigkeit des Vorratskellers rechts, der Zigarettenrauch aus Vaters Büro, ganz hinten, am Ende des Ganges links, durchsetzt mit Waschmaschinendampf. Ich gleite in die Dunkelheit der Waschküche, ein kleiner Kern in der trüben Hohlheit des Hauses. Die Maschine läuft. Das tröstet mich. Denn Dieter hat mir im Pausenhof hinterhergewunken - doch ich bin weitergerannt. Starre auf die nasse, durchwalkte Wäsche, starre auf die Schaumschlieren am Bullaugenglas. Ein großartiger Tag, ein beschissener Tag!

In der Ecke der Waschküche liegt ein riesiger blauer Ball. Jetzt, im Halbdunkel, ist er schwarzgrau. Ich weiß, dass er in Wirklichkeit blau ist. In Wirklichkeit, also im Licht. Ich aber, und auch der Ball, sitzen im Dunkeln. Auf einem der wenigen Fotos, die Mutter vor Anitas Geburt machte, versuche ich, diesen Ball hochzuheben. Er ist nur knapp kleiner als mein Körper. Ein gute Zeit, damals. Hierin bin ich einer Meinung mit Großmutter, die damals immer "die gute Zeit" nennt. Doch obwohl es die gute Zeit war, spielt der Ball auf dem Foto Anita. Er verdeckt mich. Nur der oberste Rand meiner Haare ist zu sehen. Und meine Hände. Sehr klein und sehr weiß greifen sie, wie zwei Gespenster, um das Meer des blauen Balls.
Die Sache mit Dieter war so großartig angelaufen. Aber nun ist Dieter weg. Da ist nur die Idee für Anita: die tunk ich rein! Ich ziehe ein Stück von der Lakritze ab, die Jola eben mit mir tauschte, Sonderdeal. Eine ganze Rolle Lakritz. Lang und schwarz, fast so gut wie Schokolade. Ich schließe die Augen. Schlecke daran. Besser als Schokolade, denn lang und rot stelle ich mir die Lakritze vor, kurz stecke ich auch Teddy etwas hin, damit er ruhig ist, und dann - dann mache ich die Augen ganz fest zu, mache den Mund ganz weit auf, schiebe mir die Lakritze über die feuchten Lippen und beginne zu lutschen - an dem süßen, nie endenden Dieter-Haar.

Tunken
Von Vater habe ich gelernt: mit kleinen Hunden, die in die Wohnung pissen, macht man es so.
Ich mache das Geräusch. Spitze den Mund, drücke meine neuen, viel zu großen Schneidezähne in die Unterlippe, sauge Luft an. Die Lippen machen dieselbe Bewegung wie Großmutter, wenn sie Nudeln ißt, die sie italienisch, zu lang, unmöglich findet. Dabei spricht sie von tunken und stippen, Stepke und Kraut, das bei ihr rot ist statt blau. Diese Großmutter-Wörter benutzt Mutter nie, auch die Geste mit den Lippen braucht sie nicht. Ich aber tunke und stippe, und Anita schaut zu.

- Warum warst du nicht bei Schlinke?
- Keine Zeit.
- Dafür frißt du jetzt wie zwei.
Stimmt. Ich rolle die Pfannkuchen mit Marmelade ein. Es riecht gut. Ich arbeite schwer. Die Marmelade tropft beim Abbeißen auf den Teller, auf mein Kinn. Brombeer, dunkel und süß. Ich lache und mache das Geräusch. Blinzele Anita quer über den Tisch zu. Das Geräusch kündigt Gummibärchen an.
Es ist ein Spiel ums Glück.
Morgens schmeckt das Glück wie ein Gummibär und sieht auch wie einer aus. Mittags ist es anders. Meine Idee!
Anita versteht nichts vom Glück, sie hat es einfach, doch jetzt ist mittags, und was Anita hat, ist eine Ahnung, die fehlt.
- Ich nehme Anita mit hoch.
Mutter ist froh, Eintracht zwischen den Kindern, gemütlicher Teil.
Der Millefleursfleck geht die Treppe hinauf, Anita stapft von selbst hinterher. Das Licht im Bad sieht grün aus, die Hähne spiegeln, Mutter hat auch hier geputzt. Ich deute auf meine Tasche:
- Da. Aber erst du.
Und knöpfe Anita die Latzhose auf. Und sie hockt sich hin.
- Wird's?

Das Schiff schwimmt auf seiner Kachel, die kleinen Figuren treiben im Meer. Mein Plan ist einfach. Kräftig spritzt der Strahl auf den Boden der Mandoline. Anita lacht. Schmeckt schon den Gummibär. Als sie aufsteht, packe ich sie am Hals. Sie schreit nicht, sieht mich nur erstaunt an, ich bin aber auch vorsichtig, mache noch einmal das verlockende Geräusch. Schau mal. Halte die Luft an, schaue selbst in ihren Topf, beuge mich darüber, Anitas Kopf kommt hinterher, ich reiße sie mit beiden Händen vor, packe sie am Hals, von der Seite, von hinten, halte sie gepackt, tunke sie rein. Das Licht klumpt zusammen, in meinen Fingern, die in ihre Locken greifen, gelb auch die Luft, wie die Fliesen, alles schwappt. Höre es rasseln, wenn ich atme, als atmete ich Fliesenscherben ein, laut stoßen sie in mir aneinander, stoßen mich an, als lache jemand in mir - jemand aus der Zukunft, tönern, unberührt.
Mit beiden Händen greife ich zu.
Ich drücke, sie drückt dagegen, etwas gibt nach, rutscht weg. Mutter stürmt ins Bad, Anita hockt schreiend neben ihrem Topf, ganz sauber, abgewischt.
- Was weiß ich, was sie hat, sage ich.

Zitate der Rede im üblichen Rahmen sind möglich und honorarfrei. Die Verwendung von weiteren Ausschnitten müssen mit dem Verfasser, dem Tagungsbüro oder dem Piper-Verlag geklärt werden.

© 2000 ORF Landesstudio Kärnten.

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© 01.07.2000