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Die
Leidensblume von Nattersheim
Martina Kieninger
Die Heilandsemma weiß schon, daß der Herr Pater Dankward kommen
wird. Pfarrer Humpf hats gesagt, als er die Heilige Kommunion gespendet
hat. Emma nimmt den Leib Jesu täglich zu sich, weil sie davon lebt,
sie ernährt sich seit sechs Jahrzehnten ausschließlich vom
Heiland. Die Standuhr unten in der Stube tut einen Westminsterschlag,
den die Emma bis in ihr Bett hinein hört.
Jesus
und Maria! Da wird ein schönes Stück Arbeit auf sie zukommen!
Für
den Pater wird sie wieder leiden müssen, denn das ist ihr Beruf.
"Leidensblume von Nattersheim" schreibt das Katholische Sonntagsblatt
über die achtzigjährige Metzgerstochter.
Muß
das wirklich sein, Heiland? Ists denn nicht schon genug, daß man
sie angeschrieben hat mit der Post vom bischöflichen Ordinariat?
Unhaltbare Sachen hat der Bischof in den Brief geschrieben, zum Beispiel,
daß sie das nur lügt mit den Hostien, daß sie heimlich
ißt und trinkt. Man glaubt ihr nicht, nicht die Nahrungslosigkeit,
und wenn man ihr die Nahrungslosigkeit nicht glaubt, dann auch nicht die
Ausscheidungslosigkeit, und wenn man ihr die Ausscheidungslosigkeit nicht
glaubt, dann ist aller Glaube umsonst.
Das
hat sie zurückgeschrieben, aber der Bischof hat ihr angeschafft,
sie solle sich im Krankenhaus streng wissenschaftlich untersuchen lassen.
Eine Metallröhre oben rein in die Emma und unten raus aus der Emma,
sie kennt das, sie hat das schon einmal mitgemacht, die Emma plus Ausscheidungen
und die Emma minus Ausscheidungen, in Milligramm und Milliliter, hat ihr
wer gesagt, der sich auskennt damit, damals hat sie noch Ausscheidungen
gehabt, etwas verdünnten Urin, Hasenkot, vernachlässigbar, nicht
der Rede wert. Beinahe gestorben ist sie dabei, ihr Vater, der damals
noch gelebt hat, würde das nie zulassen, daß man sie jetzt
noch einmal wegführt von zu Hause ins Spital nach Stuttgart oder
Tübingen, daß man sie zur Schau stellt und herzeigt und aufschneidet,
vielleicht. Und ihr Bruder würds auch nicht erlauben, er hat schon
gesagt, daß es ganz genug ist mit der Wissenschaft. Keine Seele
komme damit näher zum lieben Heiland. Ihretwegen kann sie gern gehen,
sofort würde sie sich da ins Spitalbett hineinlegen, aber der Bruder
will halt eben nicht, weils der Vater nicht gewollt hätte, wenn er
noch am Leben wär. Und der liebe Heiland wills auch nicht. Der und
die heilige Theresia flüstern ihr jetzt zu und sagen, daß sie
stark sein soll und doch nicht in der Sache nachgeben möge, es ist
ja alles zum Heil der Seelen, die sie schon zu Gott geführt hat.
Da
platzt ihr Herzstigma auf und ergießt sich über die Bettdecke.
Der Herr Pfarrer und Pater Dankward sitzen jetzt daneben und beobachten,
aber die Emma hat ja gleich gesehn, daß der Pater einer von den
ungläubigen Wissenschaftlern ist.
Es ist heiss. Auf dem Ölberg ist es kälter als in ihrem Bett,
wo es so heiß ist. Humpf sagt was von einem Kreuzesholz, aber zum
Einschüren ist kein Ofen auf dem Ölberg. Ganz unerträglich
heiß ists in Palästina. Luft müßt sie haben, sie
erstickt schon, die Wundmale brennen, und überhaupt, sie kriegt keine
Luft.
Um
15.00 Uhr spricht Emma über die Frage, wer im Rottenburger Bischöflichen
Ordinariat gegen sie ist. Dann bricht der Heiland unterm Kreuz zusammen.
Um
15.15 Uhr zum Pfarrer "Hast du einen Hering gehabt. Es schmeckt so
aus deiner Gosch raus." Der Pfarrer aber sieht den Zusammenhang nicht.
15.35
Uhr: "Heiß ist mir. Was da schmeckt! Das mag ich nicht, das
stinkt."
16.00
Uhr: Sie beklagt sich über die Wissenschaft, wodurch niemand dem
Heiland nahe komme; die Wissenschaft glaube nicht an Gott. Sie lobt den
Weihbischof, weil er es mit der Wissenschaft nicht so arg hat. Der Heiland
ist weg.
16.40
Uhr: ,,Wo der Heiland da war, hat es nicht so geschmeckt. Jetzt, wo er
fort ist, schmeckt es wieder. Aber ich ertrag es schon."
17.00
Uhr: So kommt die Heilandsemma jedenfalls nicht weiter. Luft müßt
sie haben, der Hering riecht. Heiß ist ihr. Schliesslich sagt der
Heiland selbst, daß der Wissenschaftler das Zimmer verlassen soll,
denn der Heiland leidet nix in der Stub. Er treibt aus, was irgendwie
hindern kann. Pater Dankward muß vor die Tür.
17.30
Pater Dankward darf wieder rein und jetzt ist alles wie's Pfarrer Humpf
angekündigt hat, der Besucher schaut ein vollendetes und erschütterndes
Marterbild, das aber edel und ergreifend, in keiner Sekunde unästhetisch
wirkt, schreibt das katholische Sonntagsblatt. Der Heiland trinkt vom
Essigschwamm, gewinnt nochmals Kraft und ruft: Salem, kulechi - Es ist
vollbracht und nach einer Weile: Abba, bejadach afkedh ruchi. Die Felsen
zerspringen.
Modiöschäwusäm
hat die Heilige Kleine Theresia vor dem Tode gesagt und Emma hats genau
behalten, das ist französisch, die Emma kann aber gar kein französisch
und das heißt: mein Gott, ich liebe dich. Da kann man sehen, sagt
Pfarrer Humpf, was man auf Leute geben darf, die behaupten, das wäre
alles nur Suggestion. Ich kann nämlich auch kein Französisch.
Die
Emma hat jetzt ein Anliegen. "Herr Pfarrer, wenn ich einmal nachfragen
dürft', bei der Heiligen Kleinen Theres, obs mir erlaubt ist, dem
Herrn Pater Dankward sein Leiden zu übernehmen." Pfarrer Humpf
kriegt Tränen in die Augen. "Aber freilich, mein Kind"
nickt er und die Emma hat auch sofort einen Anfall. Das rechte Knie zuckt,
furchtbare Muskelkrämpfe schütteln sie, und sie darf die ganze
Krankengeschichte vom Pater Dankward übernehmen, jetzt saust sie
um eine lebensgefährliche Kurve, 40 Grad, doch Pater Dankward ist
ganz fieberfrei und schreibt wahrscheinlich in den Brief an den Bischof
hinein, daß die Emma ins Krankenhausbett muß zur chemischen
Überwachung, leider glaubt der Bischof nicht an die Echtheit der
Nattersheiner Geschehnisse.
"Ja",
sagt Pfarrer Humpf: "Zur Zufriedenheit der Zweifler wird man die
außerordentlichen Phänomene in Nattersheim wohl kaum je aufklären
können. Wenn man so vorgeht, wird man schließlich sagen können:
Der Tod Christi am Kreuze ist auch nicht ärztlich festgestellt worden.
Deshalb hat man keine Pflicht zu glauben, daß Jesus gestorben und
von den Toten auferstanden ist. Es ist Unsinn, sich mit solchen Sachen
herumzuplagen." Möglich, daß die Emma manchmal was ißt,
einen Schöpfer Erbstütensuppe etwa, halbe Kalorien, Spurenelemente,
kann man das Essen nennen? Vielleicht hat die Emma hin und wieder auch
Ausscheidungen, nicht auszuschließen. Es ist ja wissenschaftlich
erwiesen, daß des Menschen Körper sich alle sieben Jahre erneuert,
komplett ausgetauscht wird, alte Kohlenhydrate gegen neue, frische Luft,
Stickstoff.
Wenn
nun, so seine Überlegung, die Heilandsemma vom Heiland in der Kommunion
täglich frisch aufgebaut wird, muß sie doch ihre alte Eva immer
noch irgendwohin ausscheiden. Einen Großteil ihres alten Menschen
wird sie wohl ausatmen, glaubt er. Andererseits nimmt sie mit jedem Atemzug
den unreinen Sauerstoff auf, der vorher schon durch all die andern Erbsünder
hindurchgegangen ist und an dem also die ganze Erbschuld klebt. Oder will
man der Emma vielleicht auch noch das Atmen verbieten? Soweit kommt man
jedenfalls, wenn man die Nahrungskette naturwissenschaftlich unerbittlich
einfordert.
Noch
unklarer aber als die Frage, wohin die Heilandsemma denn die eingeatmeten
Erbsünden ausscheidet, ist, wo die Heilandsemma überhaupt in
ihrer sündhaften Umgebung präzise anfängt und aufhört,
wo ist denn die scharfe Trennungslinie zwischen Heilandsemmaleib und Sünderluft
zu ziehen? Wenn mans mikroskopisch betrachtet, hat ein befreundeter Mediziner
zu Humpf gesagt, dann fällt der Mensch in Gradienten zur ihn umgebenden
Luft hin ab: ja, da darf man schon fragen, ob es unter Berücksichtigung
all dieser Umstände nicht Unsinn ist, überhaupt Begriffe wie
absolut hundertprozentige Ausscheidungslosigkeit in Bezug auf die Heilandsemma
zu gebrauchen. Das würde er gerne mit Pater Dankward besprechen,
aber der wird wahrscheinlich sagen, daß, wenn man den Tisch ein
Pferd nennt, hinterher freilich gut wundern ist, warum es Pferde ohne
Schwanz gibt.
Angenommen
aber, es passiert ein Wunder: In das abgeschlossene Denksystem aus Humpf
und Emma, aus Emma und Humpf wird versuchsweise die Variable Tschitschitsch
eingeführt, was folgt daraus? Stellen wir uns vor, Tschitschitsch
sei ein Gedankenexperiment aus Rußland, ein Schachspieler, ein Atheist
gar, der die hochheiligen Wundmale des Herrn trägt, womit hat der
sich das verdient?
Wenn
man glaubt, daß die Gedanken durch Spiraldrehungen der Gehirnatome
gebildet werden, statt ganz im Gegenteil anzunehmen, daß den Gehirnzellen
Rotationszustände erst durch gehabte Gedanken aufgezwungen sind,
dann müssen nämlich selbst Atheisten anerkennen, daß es
immerhin eine erste Innengottursache für die Drehbewegungen der Hirnatome
gibt. Der Aussengott aber, an den die stigmatisierte Metzgerstochter Emma
glaubt, ist gut und hat nichts von einem bösen Wissenschaftler B,
der den unschuldigen Köpfen U1, U2, U3 bis unendlich die Hirne aus
den Schädeln herausschneidet.
Ganz
erschrocken war die Emma, als sie das mitansehen mußte: In wenig
geglückten Bollen sind allerlei zerfurchte Hirnhaufen in ihren Kühlschrank
eingeschwebt, die waren nicht eben gut beinander, recht unglatte Oberflächen,
denen man keinen frommen Gedanken anvertraun möchte. Angenommen,
der böse Wissenschaftler B verbindet nun die Nervenenden dieser häßlichen
Hirnhaufen mit einem superwissenschaftlichen Computer, der den Hirnen
H1 bis Hn eine Emmaweltenumgebung als vielvariablige Funktion vorrechnet
mit allem: Kirche, Metzgerei, Humpf und Emma. Und dann? Werden Kaufabsichtsworte
geäußert, wird die Variable Zungenwurstverlangeindruck neu
berechnet und als Ergebnis künstlicher Wurstimpulse der Emma in den
Schrank geschoben, ein Wurstfachverkäuferinnenzungenoutput folgt
daraus, es folgen Zungenwurstkundengesprächseinheiten über Wurst
und Emma und Wundmale und Metzgereien, selbst wenn es irgendwann gar keine
Emma mehr geben sollte, keinen Kühlschrank und keine Wundmale. Die
Äußerungen der Wurstkundenmaschinen über Wundmale meinen
nämlich gar keine Wundmale in der echten Emmaweltumgebung, genausowenig
wie die Löcher in Tschitschitschs Handflächen sich auf stigmatisationsrelevante
Inhalte beziehen.
Tschitschitsch
hat Christi Wundmale schließlich nie gesehen, weil er nie in die
Kirche geht, er raucht und säuft und hurt, Hochwürden, hat seine
Großmutter gesagt, aber das soll er Ihnen lieber selber beichten
und nicht mal getauft ist er, nein, einer wie Tschitschitsch hat einfach
Löcher in den Händen, Löcher und keine Sprachregeln, die
in eine Emma rein und aus einer Emma wieder rausfahren, sein Loch weist
auf ein Loch, meint keine stellvertretende Leidensmaschine und fertig!
Die
Ähnlichkeit der Tschitschitschen Löcher mit Wundmälern
aus Heiligenlegenden ist weder notwendig noch hinreichend, um ein Wundmal
zu repräsentieren oder sich auf ein solches zu beziehen. Emma ist
jedoch imstande, Wundmale und Metzgereien wahrzunehmen, mit ihnen umzugehen
und etwas mit ihnen anzufangen. Die Emmasprache von Stigmatisation und
Stigmen steht in engem Zusammenhang mit einem emmarednerisch nichtsprachlichen
Umgang mit Wurstkunden und Wundmalen.
Es
gibt Spracheingangsregeln, die eine Heilandsemma von Metzgereierlebnissen
zur Stigmatisation führen wie: "Ich sehe Blutwurst" und
Sprachausgangsregeln, die sie von sprachlich artikulierten Entscheidungen
("Diese Blutwurst ess ich nicht, diese Blutwurst geb ich meinem Bluthund")
zu nichtsprachlichen Handlungen an Aussenwürsten führen. Aber
es besteht nun wirklich kein Grund, die Unterhaltung einiger Tankhirne
in einem Hirntank für etwas anderes zu halten als syntaktische Spielerei
(Dosenwurst).
Es gibt also Wundmale ja/nein, das ist Aussage a) sagt Pater Dankward,
ich glaube an die Wundmale ja/nein, das ist Aussage b). Ist a) nun falsch
und b) wahr, dann bleibt die Heilandsemma im Sprachgitter Boolscher Aussagenlogik
stecken und Tschitschitsch, der Passrusse zieht die Nattersheimer Kirchentür
hinter sich zu. Warum ist er überhaupt gekommen? Weil - vergessen.
Gleich fällts ihm wieder ein. Da! Weg! Auje. Vielleicht sollte er
doch mit dem Saufen aufhörn. Was sucht er? Ist ja auch egal, wirklich,
so wichtig wars nicht. Aber er muss sich jetzt mal hinsetzen. Er fühlt
sich nicht gut. Gestern nacht -. Er hat schlecht geschlafen, ausserdem.
Dort,
der Kreuzweg. Jesus fällt zum dritten Mal. Tschitschitsch wakkelt
und muss sich an der Rücklehne einer Kirchenbank festhalten. Es riecht
nach Tschitschitschen Händen, um die Hände hat er undurchlässige
Einkaufstaschen gewickelt, rechts eine vom Aldi, links ein LIDL-Beutel.
Er hat doch deswegen extra nix getrunken, gestern, aber eine Zigarette
braucht er jetzt, die Hände pochen und riechen ganz absonderlich
unter den Plastikbeuteln raus, die LIDL-Tütenhand wird undicht und
tröpfelt. Er hätte - ach was! früher hat er viel mehr vertragen.
Und wenn? Zugegeben er hat vorhin nein, aber der Blutverlust schwächt
ihn. Oh Maria, oh ihr Heiligen, oh Gottesmutter. Tschitschitsch beschreibt
auf einer geraden Sinuskurve den kürzesten Weg von Kirchenschiff
A nach Seitenkapelle B, wo eine Madonnenstatue den Kerzenschein zusammenlächelt.
Das Stearin macht Stalaktiten von der Dornenkrone des Kerzenhalters. Tschitschitsch
kauft Kerzen, die er zu den goldenen Zehen der Muttergottes aufsteckt.
Bitte mach die Löcher aus den Händen weg. Tschitschitsch kniet
sich hin und wartet bis auf zehn. Nix.
Die
Muttergottes lächelt in die Flammen. hihihi. Das Stearin tropft und
macht einen amorphen Haufen aufs Blech, der ausschaut und Tschitschitsch
erinnert. Fast übergeben muß er sich bei dem Anblick, seine
Augen schwanken auf und ab, Maria fährt Karussel und Tschitschitsch
versucht, nicht zu kotzen. Das gelingt ihm. Oh Ihr Heiligen, dank Dir
Mutter Gottes! Vielleicht gelingt es Tschitschitsch jetzt, sich auf seine
Bitte zu konzentrieren, nein, ätsch, das gelingt ihm nicht. Das kann
der Alkohol nicht sein, sagt sich Tschitschitsch, so leer ist die Flasche
fast überhaupt nicht, er zieht sie aus seinem Rucksack, bitte, da
ist der Beweis, noch halb voll mindestens. Beinahe. Maria lächelt.
Steck sie wieder ein, sagt sie, ich glaub Dir. Danke! Tausend Dank! schluchzt
Tschitschitsch und jetzt könntest Du mir die Löcher aus den
Händen nehmen.
Doch
diesmal bleibt Maria stumm. Das kann sie nicht. Sie ist nämlich nur
eine Statue. Wer hätte je gesehen, daß Statuen irgendetwas
sagen oder tun? Natürlich! Tschitschitsch, da ist keine Hilfe zu
erwarten, weiß ich auch, so blöd bin ich nicht. Ich sollte
vielleicht doch mit dem. Aber so viel wars gar nicht, es gibt welche,
die saufen viel mehr. Alle Russen trinken, das ist ein Vorurteil, die
Bayern saufen mindestens doppelt soviel, das hat die Großmutter
gesagt, die es wissen muß, seine Großmutter ist nämlich
kein Passrusse wie Tschitschitsch, sie ist deutsch und kann bayrisch.
Haidschi bumbaidschi. Was heißt das? Weiß nicht, halts Maul.
Dann
ist die Großmutter einkaufen gegangen, stundenlang, und Tschitschitsch
hat aufpassen müssen, weil sich die Nachbarin in die Küche schleicht
und BHs von der Wäscheleine klaut. Quatsch, die Körbchengrößen
der Großmutter, die passen an die Nachbarin gar nicht hin und überhaupt
ist die Maria da vorne nur eine Täuschung. Es gibt keine Tschitschitschen
Wundmale. Dann gehen wir eben. Die goldenen Zehen brennen. Tschitschitsch
hat noch eine Selbstgedrehte in der Jackentasche, die zündet er an
den Zehen der Muttergottes an.
Plötzlich
sagt Maria was: "Das ist aber hier nicht der richtige Ort zum Rauchen"
- o nein, es ist nicht die Statue, das ist die junge Frau, schlank, schön,
steht neben ihm wie eine Jugenstilarabeske, wo ist denn die plötzlich
hergekommen? Oh entschuldigen Sie. Husch. Die Asche fällt ab. Tschitschitsch
hätte jetzt fast die Selbstgedrehte auf den Steinfußboden fallen
lassen. Entschuldigung, entschuldigung, er wollte niemanden beleidigen!
Er wird die Zigarette sofort ausmachen. Aber was tut die junge Frau da?
Sie knöpft sich auf überm Herzen, entblößt die Brüste,
das heißt: das Brüstlein, rechts, links der Abnäher, fleischfarben.
Tschitschitsch
hat die Zigarette doch fallen lassen. Sorry, helfen kann er nicht und
eine Statue ist eine Statue. Beinahe klirrt die Flasche im Tschitschitschen
Rucksack: rainermariawein slivovitz liebfrauenmilch, hehehe. Du Penner!
sagt sie, aber mit welcher Stimme! Mit welcher süßen Stimme!
Alle Bayern saufen, sagt Tschitschitsch, er ist nur zufällig ein
Passrusse, denn seine Großmutter ist aus Bayern, aus Donauschwaben,
Wolgadeutschland, egal, die könnte ja die ganze Flasche praktisch
ohne auch nur einen Zentimeterbreit vom rechten Winkel abzuweichen. Alles
wäre anders gekommen, wenn er was Richtiges gelernt hätte. Schachspielen
ist nix Richtiges. Figurenrücken. Er haßt seinen Beruf. Schachspieler
sein, sagt Tschitschitsch, das ist noch blöder als Klaviervirtuose.
Das sagt auch die Emma metzgernd in ihrer Metzgerei, sie richtet grad
zufällig augenblicklich Hackfleisch her, ganz unerwartet hat sie
eine Schauung überfallen, sie hat in den Himmel schaun dürfen,
ein luftleeres Lichtloch, ein Zweimannsloch mit zwei Bischöfen drin
(wieso Bischöfe, wundert sich Humpf, vom Bruder der Emma eilends
benachrichtigt und eilends ist der Herr Pfarrer gekommen, aber die Emma
kann auch nicht sagen, was die Schauung zu bedeuten hat. Tschitschitsch
müßte es wissen, aber Tschitschitsch ist nicht da, er spielt
auf dem Hochofen-Turnier in den Niederlanden, seine Hände tropfen.
Tschitschitsch weiss, Bauer e4 schwarz d6
2. d4 schwarzes Pferd nach f6
3. weißes Pferd nach c3 Bauer g6
4. Bischof e3 Bischof g7.
Da hat die Emma eine zweite Vision, es ist die Heilige Theres vom Kinde
Jesu, die sie in lichter Gestalt immer wieder zum geduldigen Ausharren
im Leidensberuf ermuntert,
(5. weiße Dame d2 schwarzer Bauer auf c6) zum Gehorsam gegen den
Beichtvater, zum Weiterbeten in gewohnter Weise (9. Dame h6 Bischof b7)
und zum Verkehr mit dem Heiland wie bisher.
12. der weiße König nach b1 - a6. Es sei alles recht, sagt
die Kleine Theresia, die sich 1895 als Ganzopfer der erbarmungsvollen
Liebe (24. Turm: d4!? c:d4? traurig aber wahr, danach ist schwarz verloren)
des gnädigen Gottes dargebracht hat.
Nach dem 27. folgt der 28. Zug: der weiße Bischof zieht nach e6!!
und Tschitschitsch gewinnt! Aha!?!? Mit diesem, auf den ersten Blick widersinnigen
Zug bewahrt sich Weiß zunächst vor Schaden und Damentausch.
Zugleich wird die Drohung b2-b4 akut, spielt schwarz also irgendeinen
Nullzug, folgt 29. ein Bauer auf b4 und 30. der Triumph der weißen
Dame auf d4+, oftmals auch in Begleitung seliger, unkörperlicher
Lichtgestalten, die dem Verstorbenen im Leben nahegestanden sind. Ist
die Seele so rein, daß sie gleich mit in den Himmel darf, wird sie
so leuchtend wie die Seelen, die Emma an Allerheiligen sieht und sie entschwebt.
Bedarf sie jedoch der Läuterung, so bleibt sie dunkelgrau in verschiedenen
Schattierungen.
Jetzt
schreit die Emma laut auf. Ein Kampf. Die Engel ziehen ihre Schwerter,
hauen und jauchzen. Sie schaut den Engelsturz - sagt Humpf zum Bruder.
Es wäre sehr lehrreich, lieber Herr Lochmüller, wenn man erfahren
könnte, was denn die Engel da so verkündet haben.-" "Ond
was schwätzet die Engel, Emma?" - "S'isch ebbes wia: au
do nai." Interessant, meint Humpf und daß es hebräisch
sei, nämlich au = schwäbischer nasal für a, donai = adonai,
(hebräisch: der Herr). Aber der Bruder glaubt, daß die Engel
schwäbisch geredet haben, nämlich au do nai = auch dort hinein.
Hierauf singen die weißen, siegreichen Engel: kadosch kadosch kadoch,
währenddessen sich ein Großteil der nichtsingenden Engel verfinstert
und in die Hölle stürzt. Schwarz versucht zwar, seine Niederlage
mit 28. König a5 aufzuhalten. Aber nach b4+ darf der schwarze König
wegen des tödlichen Schachs auf d4 nicht nach b6 zurückziehen,
womit der schwarze König auf a4 verdammt ist. In der vorliegenden
Partie ereilt ihn jedoch nach 30. die Dame auf c3 und droht mit matt auf
b3.
Zum
ersten Mal ertönt das Leitmotiv, auf das sich das gesamte Tschitschitsche
Opferspiel gründet: Bischof nach d5. Wieder vor den Richter gebracht,
wird sie mit eisernen Krallen zerfleischt. In der Nattersheimer Kirche
hängt auch dieses Bild: das Martyrium der Heiligen, eine bedeutende
Altarbildschöpfung des ausgehenden achzehnten Jahrhunderts. Die Heilige
erleidet dort ihr Martyrium zu einem geschichtswissenschaftlich ungesicherten
Zeitpunkt. Nach Martyrium und Folter werden ihr vom Henker die Brüste
abgetrennt. Der Maler stellt den Moment nach dem Martyrium dar und vermeidet
auf diese Weise blutrünstige Drastik. Die Pinselführung ist
spielerisch, das Bluthündchen schnappt nach den zur Erde fallenden
Brüsten der lieblichen Heiligen. Die durch helle Farben von Inkarnat
und Gewand herausgehobene Hauptfigur vermittelt den Eindruck von ruhigem
Gottvertrauen und Glaubensstärke. Auf den Stufen einer antikischen
Architektur zusammengesunken, blickt sie ergeben in die Höhe. Hierauf
wird sie, entsetzlich blutend, durch das Volk geführt. Das Bild in
der Kirche zeigt auch den Vater, er selbst drängt den Richter zur
Grausamkeit, doch göttliche Stärkung hält die liebliche
Heilige aufrecht. Das Volk jubelt, Matt in vier Zügen. In den Wolken
über der Heiligen hat der Maler ursprünglich halbrund das von
der Dornenkrone umgebene flammende Herz Christi angebracht.
Die Emma hat in den Heiligenkalender geschaut, gegen den heutigen Freitagnachmittag
ist nix einzuwenden, weil auf ihn ein Lokalheiliger von Nattersheim fällt
und an den Festtagen Nattersheimer Lokalheiliger hat sie erfahrungsgemäß
leidensfrei. Der Bruder hat ein paar Vorräte in den Hasenfutterrucksack
getan, dann hat die Emma ihre Metzgerei zugesperrt und jetzt ist man mit
Pfarrer Humpf auf der Missionsreise nach Ofterdingen unterwegs, wo sie
erleben müssen, daß der Lokalheilige von Nattersheim dort nicht
gilt. Überraschend wird die Emma in ihrem Fremdenzimmer vom Freitagsleiden
heimgesucht, da kann man nix machen sagt Humpf und der Bruder beschließt,
derweil mit seinem Hasenfutterrucksack eine kleine Wanderung zu tun.
Die
roten Sonnenstrahlen tauchen die Tankstelle von Ofterdingen in ein blutiges
Licht, darüber blendet die Schrift: Jonny Walker. Over shoulder Hasenfutterrucksack.
An der Zapfsäule lehnt der Tankwart Die Luft ist erfüllt vom
Geräusch tankender Autos. Lochmüller nimmt einen Schluck aus
dem Hasenfutterrucksack. Die heiße Luft über der Tankstelle
flimmert. Lochmüllers Magen drückt Zufriedenheit aus. Er nimmt
einen weiteren Schluck aus dem Hasenfutterrucksack. Faul lehnt der Tankwart
von Ofterdingen an der Zapfsäule. Lochmüller nimmt mehrere Schlucke
aus dem Hasenfutterrucksack. Die heiße Luft über der Tankstelle
flimmert. Lochmüllers Blick schweift in die Ferne, hinüber zur
untergehenden Sonne. Er nimmt einen letzten Schluck aus dem Hasenfutterrucksack.
Groß der glühende Ball der Sonne. Die Musik erreicht ihren
Höhepunkt, die Sonne zerplatzt und Jonny Lochmüller kehrt mit
dem nunmehr geleerten Hasenfutterrucksack ins Gasthaus zurück.
Tschitschitschs
Hände riechen deutlich aus den Plastiktaschen raus, riechen nach
Hering, die Leute wollen seine Hände berühren, aber der Hering
ist nimmer gut. "Oh Du Begnadeter, oh du Heiliger" ruft die
männliche Stimme vor der Haustür. Er ist nämlich geheilt
worden teilt die Stimme mit. Metastasen, Magen, Leber, Niere, er weiß
schon gar nimmer, was man ihm alles hat rausnehmen wollen, er hats selber
gesehen mit dem bildgebenden Verfahren, Kernspinpositionen, hat der Arzt
gesagt und hat zugeben müssen, daß er die physikalischen Grundlagen
auf dem Bildschirm im Augenblick auch nicht erklären kann, Hauptsache,
es funktioniert, hat er sich verteidigt, als die Stimme kritisch nachgefragt
hat, Sie wenden doch auch ihren Staubsauger auf ihren Teppich an, ohne
daß Sie jetzt ganz genau wissen, jedenfalls hat die Stimme es ja
selbst gesehn, Niere, Magen, Darm, hoffnungslos, da ist er zum Tschitschitsch
seiner Wohnung hin und hat einen Auszug aus dem Tschitschitsch seiner
Türklinke getrunken. Einen Auszug aus der Türklinke? das wollen
die Zuhörer genauer wissen, das interessiert uns, das ist ja wirklich
hochinteressant und die Stimme erklärt: Mit einem alkoholgetränkten
Wattebausch hat er die Türklinke abgewischt, da, wo Tschitschischs
Hand den Knauf berühren muss. Den Tschitschitschmoleküle enthaltenden
Türklinkenauszug in einer hochprozentigen Trägerflüssigkeit
homöopathisch zehn hoch zehn genommen, oral, ein mächtiges Mittel!
Überwiesen war er schon, vorgemerkt, die Nieren, die Blase und als
er da hinist, da - da war der Krebs weg. Spontanheilung haben sie gesagt,
das glauben die ja wohl selber nicht, ein Wunder ist das, ein Wunder nichts
weniger als ein Wunder! Und wenn schon ein Tschitschitscher Türklinkenauszug
so zu wirken vermag, welche Mächtigkeit müßte da wohl
einem Tschitschitschen Händeabdruckauszug zukommen! Wenn man bloß
eine der Tschitschitschen LIDL-Tüten bekäme!
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