Die Leidensblume von Nattersheim
Martina Kieninger


Die Heilandsemma weiß schon, daß der Herr Pater Dankward kommen wird. Pfarrer Humpf hats gesagt, als er die Heilige Kommunion gespendet hat. Emma nimmt den Leib Jesu täglich zu sich, weil sie davon lebt, sie ernährt sich seit sechs Jahrzehnten ausschließlich vom Heiland. Die Standuhr unten in der Stube tut einen Westminsterschlag, den die Emma bis in ihr Bett hinein hört.

Jesus und Maria! Da wird ein schönes Stück Arbeit auf sie zukommen!

Für den Pater wird sie wieder leiden müssen, denn das ist ihr Beruf. "Leidensblume von Nattersheim" schreibt das Katholische Sonntagsblatt über die achtzigjährige Metzgerstochter.

Muß das wirklich sein, Heiland? Ists denn nicht schon genug, daß man sie angeschrieben hat mit der Post vom bischöflichen Ordinariat? Unhaltbare Sachen hat der Bischof in den Brief geschrieben, zum Beispiel, daß sie das nur lügt mit den Hostien, daß sie heimlich ißt und trinkt. Man glaubt ihr nicht, nicht die Nahrungslosigkeit, und wenn man ihr die Nahrungslosigkeit nicht glaubt, dann auch nicht die Ausscheidungslosigkeit, und wenn man ihr die Ausscheidungslosigkeit nicht glaubt, dann ist aller Glaube umsonst.

Das hat sie zurückgeschrieben, aber der Bischof hat ihr angeschafft, sie solle sich im Krankenhaus streng wissenschaftlich untersuchen lassen. Eine Metallröhre oben rein in die Emma und unten raus aus der Emma, sie kennt das, sie hat das schon einmal mitgemacht, die Emma plus Ausscheidungen und die Emma minus Ausscheidungen, in Milligramm und Milliliter, hat ihr wer gesagt, der sich auskennt damit, damals hat sie noch Ausscheidungen gehabt, etwas verdünnten Urin, Hasenkot, vernachlässigbar, nicht der Rede wert. Beinahe gestorben ist sie dabei, ihr Vater, der damals noch gelebt hat, würde das nie zulassen, daß man sie jetzt noch einmal wegführt von zu Hause ins Spital nach Stuttgart oder Tübingen, daß man sie zur Schau stellt und herzeigt und aufschneidet, vielleicht. Und ihr Bruder würds auch nicht erlauben, er hat schon gesagt, daß es ganz genug ist mit der Wissenschaft. Keine Seele komme damit näher zum lieben Heiland. Ihretwegen kann sie gern gehen, sofort würde sie sich da ins Spitalbett hineinlegen, aber der Bruder will halt eben nicht, weils der Vater nicht gewollt hätte, wenn er noch am Leben wär. Und der liebe Heiland wills auch nicht. Der und die heilige Theresia flüstern ihr jetzt zu und sagen, daß sie stark sein soll und doch nicht in der Sache nachgeben möge, es ist ja alles zum Heil der Seelen, die sie schon zu Gott geführt hat.

Da platzt ihr Herzstigma auf und ergießt sich über die Bettdecke. Der Herr Pfarrer und Pater Dankward sitzen jetzt daneben und beobachten, aber die Emma hat ja gleich gesehn, daß der Pater einer von den ungläubigen Wissenschaftlern ist.
Es ist heiss. Auf dem Ölberg ist es kälter als in ihrem Bett, wo es so heiß ist. Humpf sagt was von einem Kreuzesholz, aber zum Einschüren ist kein Ofen auf dem Ölberg. Ganz unerträglich heiß ists in Palästina. Luft müßt sie haben, sie erstickt schon, die Wundmale brennen, und überhaupt, sie kriegt keine Luft.

Um 15.00 Uhr spricht Emma über die Frage, wer im Rottenburger Bischöflichen Ordinariat gegen sie ist. Dann bricht der Heiland unterm Kreuz zusammen.

Um 15.15 Uhr zum Pfarrer "Hast du einen Hering gehabt. Es schmeckt so aus deiner Gosch raus." Der Pfarrer aber sieht den Zusammenhang nicht.

15.35 Uhr: "Heiß ist mir. Was da schmeckt! Das mag ich nicht, das stinkt."

16.00 Uhr: Sie beklagt sich über die Wissenschaft, wodurch niemand dem Heiland nahe komme; die Wissenschaft glaube nicht an Gott. Sie lobt den Weihbischof, weil er es mit der Wissenschaft nicht so arg hat. Der Heiland ist weg.

16.40 Uhr: ,,Wo der Heiland da war, hat es nicht so geschmeckt. Jetzt, wo er fort ist, schmeckt es wieder. Aber ich ertrag es schon."

17.00 Uhr: So kommt die Heilandsemma jedenfalls nicht weiter. Luft müßt sie haben, der Hering riecht. Heiß ist ihr. Schliesslich sagt der Heiland selbst, daß der Wissenschaftler das Zimmer verlassen soll, denn der Heiland leidet nix in der Stub. Er treibt aus, was irgendwie hindern kann. Pater Dankward muß vor die Tür.

17.30 Pater Dankward darf wieder rein und jetzt ist alles wie's Pfarrer Humpf angekündigt hat, der Besucher schaut ein vollendetes und erschütterndes Marterbild, das aber edel und ergreifend, in keiner Sekunde unästhetisch wirkt, schreibt das katholische Sonntagsblatt. Der Heiland trinkt vom Essigschwamm, gewinnt nochmals Kraft und ruft: Salem, kulechi - Es ist vollbracht und nach einer Weile: Abba, bejadach afkedh ruchi. Die Felsen zerspringen.

Modiöschäwusäm hat die Heilige Kleine Theresia vor dem Tode gesagt und Emma hats genau behalten, das ist französisch, die Emma kann aber gar kein französisch und das heißt: mein Gott, ich liebe dich. Da kann man sehen, sagt Pfarrer Humpf, was man auf Leute geben darf, die behaupten, das wäre alles nur Suggestion. Ich kann nämlich auch kein Französisch.

Die Emma hat jetzt ein Anliegen. "Herr Pfarrer, wenn ich einmal nachfragen dürft', bei der Heiligen Kleinen Theres, obs mir erlaubt ist, dem Herrn Pater Dankward sein Leiden zu übernehmen." Pfarrer Humpf kriegt Tränen in die Augen. "Aber freilich, mein Kind" nickt er und die Emma hat auch sofort einen Anfall. Das rechte Knie zuckt, furchtbare Muskelkrämpfe schütteln sie, und sie darf die ganze Krankengeschichte vom Pater Dankward übernehmen, jetzt saust sie um eine lebensgefährliche Kurve, 40 Grad, doch Pater Dankward ist ganz fieberfrei und schreibt wahrscheinlich in den Brief an den Bischof hinein, daß die Emma ins Krankenhausbett muß zur chemischen Überwachung, leider glaubt der Bischof nicht an die Echtheit der Nattersheiner Geschehnisse.

"Ja", sagt Pfarrer Humpf: "Zur Zufriedenheit der Zweifler wird man die außerordentlichen Phänomene in Nattersheim wohl kaum je aufklären können. Wenn man so vorgeht, wird man schließlich sagen können: Der Tod Christi am Kreuze ist auch nicht ärztlich festgestellt worden. Deshalb hat man keine Pflicht zu glauben, daß Jesus gestorben und von den Toten auferstanden ist. Es ist Unsinn, sich mit solchen Sachen herumzuplagen." Möglich, daß die Emma manchmal was ißt, einen Schöpfer Erbstütensuppe etwa, halbe Kalorien, Spurenelemente, kann man das Essen nennen? Vielleicht hat die Emma hin und wieder auch Ausscheidungen, nicht auszuschließen. Es ist ja wissenschaftlich erwiesen, daß des Menschen Körper sich alle sieben Jahre erneuert, komplett ausgetauscht wird, alte Kohlenhydrate gegen neue, frische Luft, Stickstoff.

Wenn nun, so seine Überlegung, die Heilandsemma vom Heiland in der Kommunion täglich frisch aufgebaut wird, muß sie doch ihre alte Eva immer noch irgendwohin ausscheiden. Einen Großteil ihres alten Menschen wird sie wohl ausatmen, glaubt er. Andererseits nimmt sie mit jedem Atemzug den unreinen Sauerstoff auf, der vorher schon durch all die andern Erbsünder hindurchgegangen ist und an dem also die ganze Erbschuld klebt. Oder will man der Emma vielleicht auch noch das Atmen verbieten? Soweit kommt man jedenfalls, wenn man die Nahrungskette naturwissenschaftlich unerbittlich einfordert.

Noch unklarer aber als die Frage, wohin die Heilandsemma denn die eingeatmeten Erbsünden ausscheidet, ist, wo die Heilandsemma überhaupt in ihrer sündhaften Umgebung präzise anfängt und aufhört, wo ist denn die scharfe Trennungslinie zwischen Heilandsemmaleib und Sünderluft zu ziehen? Wenn mans mikroskopisch betrachtet, hat ein befreundeter Mediziner zu Humpf gesagt, dann fällt der Mensch in Gradienten zur ihn umgebenden Luft hin ab: ja, da darf man schon fragen, ob es unter Berücksichtigung all dieser Umstände nicht Unsinn ist, überhaupt Begriffe wie absolut hundertprozentige Ausscheidungslosigkeit in Bezug auf die Heilandsemma zu gebrauchen. Das würde er gerne mit Pater Dankward besprechen, aber der wird wahrscheinlich sagen, daß, wenn man den Tisch ein Pferd nennt, hinterher freilich gut wundern ist, warum es Pferde ohne Schwanz gibt.

Angenommen aber, es passiert ein Wunder: In das abgeschlossene Denksystem aus Humpf und Emma, aus Emma und Humpf wird versuchsweise die Variable Tschitschitsch eingeführt, was folgt daraus? Stellen wir uns vor, Tschitschitsch sei ein Gedankenexperiment aus Rußland, ein Schachspieler, ein Atheist gar, der die hochheiligen Wundmale des Herrn trägt, womit hat der sich das verdient?

Wenn man glaubt, daß die Gedanken durch Spiraldrehungen der Gehirnatome gebildet werden, statt ganz im Gegenteil anzunehmen, daß den Gehirnzellen Rotationszustände erst durch gehabte Gedanken aufgezwungen sind, dann müssen nämlich selbst Atheisten anerkennen, daß es immerhin eine erste Innengottursache für die Drehbewegungen der Hirnatome gibt. Der Aussengott aber, an den die stigmatisierte Metzgerstochter Emma glaubt, ist gut und hat nichts von einem bösen Wissenschaftler B, der den unschuldigen Köpfen U1, U2, U3 bis unendlich die Hirne aus den Schädeln herausschneidet.

Ganz erschrocken war die Emma, als sie das mitansehen mußte: In wenig geglückten Bollen sind allerlei zerfurchte Hirnhaufen in ihren Kühlschrank eingeschwebt, die waren nicht eben gut beinander, recht unglatte Oberflächen, denen man keinen frommen Gedanken anvertraun möchte. Angenommen, der böse Wissenschaftler B verbindet nun die Nervenenden dieser häßlichen Hirnhaufen mit einem superwissenschaftlichen Computer, der den Hirnen H1 bis Hn eine Emmaweltenumgebung als vielvariablige Funktion vorrechnet mit allem: Kirche, Metzgerei, Humpf und Emma. Und dann? Werden Kaufabsichtsworte geäußert, wird die Variable Zungenwurstverlangeindruck neu berechnet und als Ergebnis künstlicher Wurstimpulse der Emma in den Schrank geschoben, ein Wurstfachverkäuferinnenzungenoutput folgt daraus, es folgen Zungenwurstkundengesprächseinheiten über Wurst und Emma und Wundmale und Metzgereien, selbst wenn es irgendwann gar keine Emma mehr geben sollte, keinen Kühlschrank und keine Wundmale. Die Äußerungen der Wurstkundenmaschinen über Wundmale meinen nämlich gar keine Wundmale in der echten Emmaweltumgebung, genausowenig wie die Löcher in Tschitschitschs Handflächen sich auf stigmatisationsrelevante Inhalte beziehen.

Tschitschitsch hat Christi Wundmale schließlich nie gesehen, weil er nie in die Kirche geht, er raucht und säuft und hurt, Hochwürden, hat seine Großmutter gesagt, aber das soll er Ihnen lieber selber beichten und nicht mal getauft ist er, nein, einer wie Tschitschitsch hat einfach Löcher in den Händen, Löcher und keine Sprachregeln, die in eine Emma rein und aus einer Emma wieder rausfahren, sein Loch weist auf ein Loch, meint keine stellvertretende Leidensmaschine und fertig!

Die Ähnlichkeit der Tschitschitschen Löcher mit Wundmälern aus Heiligenlegenden ist weder notwendig noch hinreichend, um ein Wundmal zu repräsentieren oder sich auf ein solches zu beziehen. Emma ist jedoch imstande, Wundmale und Metzgereien wahrzunehmen, mit ihnen umzugehen und etwas mit ihnen anzufangen. Die Emmasprache von Stigmatisation und Stigmen steht in engem Zusammenhang mit einem emmarednerisch nichtsprachlichen Umgang mit Wurstkunden und Wundmalen.

Es gibt Spracheingangsregeln, die eine Heilandsemma von Metzgereierlebnissen zur Stigmatisation führen wie: "Ich sehe Blutwurst" und Sprachausgangsregeln, die sie von sprachlich artikulierten Entscheidungen ("Diese Blutwurst ess ich nicht, diese Blutwurst geb ich meinem Bluthund") zu nichtsprachlichen Handlungen an Aussenwürsten führen. Aber es besteht nun wirklich kein Grund, die Unterhaltung einiger Tankhirne in einem Hirntank für etwas anderes zu halten als syntaktische Spielerei (Dosenwurst).

Es gibt also Wundmale ja/nein, das ist Aussage a) sagt Pater Dankward, ich glaube an die Wundmale ja/nein, das ist Aussage b). Ist a) nun falsch und b) wahr, dann bleibt die Heilandsemma im Sprachgitter Boolscher Aussagenlogik stecken und Tschitschitsch, der Passrusse zieht die Nattersheimer Kirchentür hinter sich zu. Warum ist er überhaupt gekommen? Weil - vergessen. Gleich fällts ihm wieder ein. Da! Weg! Auje. Vielleicht sollte er doch mit dem Saufen aufhörn. Was sucht er? Ist ja auch egal, wirklich, so wichtig wars nicht. Aber er muss sich jetzt mal hinsetzen. Er fühlt sich nicht gut. Gestern nacht -. Er hat schlecht geschlafen, ausserdem.

Dort, der Kreuzweg. Jesus fällt zum dritten Mal. Tschitschitsch wakkelt und muss sich an der Rücklehne einer Kirchenbank festhalten. Es riecht nach Tschitschitschen Händen, um die Hände hat er undurchlässige Einkaufstaschen gewickelt, rechts eine vom Aldi, links ein LIDL-Beutel. Er hat doch deswegen extra nix getrunken, gestern, aber eine Zigarette braucht er jetzt, die Hände pochen und riechen ganz absonderlich unter den Plastikbeuteln raus, die LIDL-Tütenhand wird undicht und tröpfelt. Er hätte - ach was! früher hat er viel mehr vertragen. Und wenn? Zugegeben er hat vorhin nein, aber der Blutverlust schwächt ihn. Oh Maria, oh ihr Heiligen, oh Gottesmutter. Tschitschitsch beschreibt auf einer geraden Sinuskurve den kürzesten Weg von Kirchenschiff A nach Seitenkapelle B, wo eine Madonnenstatue den Kerzenschein zusammenlächelt. Das Stearin macht Stalaktiten von der Dornenkrone des Kerzenhalters. Tschitschitsch kauft Kerzen, die er zu den goldenen Zehen der Muttergottes aufsteckt. Bitte mach die Löcher aus den Händen weg. Tschitschitsch kniet sich hin und wartet bis auf zehn. Nix.

Die Muttergottes lächelt in die Flammen. hihihi. Das Stearin tropft und macht einen amorphen Haufen aufs Blech, der ausschaut und Tschitschitsch erinnert. Fast übergeben muß er sich bei dem Anblick, seine Augen schwanken auf und ab, Maria fährt Karussel und Tschitschitsch versucht, nicht zu kotzen. Das gelingt ihm. Oh Ihr Heiligen, dank Dir Mutter Gottes! Vielleicht gelingt es Tschitschitsch jetzt, sich auf seine Bitte zu konzentrieren, nein, ätsch, das gelingt ihm nicht. Das kann der Alkohol nicht sein, sagt sich Tschitschitsch, so leer ist die Flasche fast überhaupt nicht, er zieht sie aus seinem Rucksack, bitte, da ist der Beweis, noch halb voll mindestens. Beinahe. Maria lächelt. Steck sie wieder ein, sagt sie, ich glaub Dir. Danke! Tausend Dank! schluchzt Tschitschitsch und jetzt könntest Du mir die Löcher aus den Händen nehmen.

Doch diesmal bleibt Maria stumm. Das kann sie nicht. Sie ist nämlich nur eine Statue. Wer hätte je gesehen, daß Statuen irgendetwas sagen oder tun? Natürlich! Tschitschitsch, da ist keine Hilfe zu erwarten, weiß ich auch, so blöd bin ich nicht. Ich sollte vielleicht doch mit dem. Aber so viel wars gar nicht, es gibt welche, die saufen viel mehr. Alle Russen trinken, das ist ein Vorurteil, die Bayern saufen mindestens doppelt soviel, das hat die Großmutter gesagt, die es wissen muß, seine Großmutter ist nämlich kein Passrusse wie Tschitschitsch, sie ist deutsch und kann bayrisch. Haidschi bumbaidschi. Was heißt das? Weiß nicht, halts Maul.

Dann ist die Großmutter einkaufen gegangen, stundenlang, und Tschitschitsch hat aufpassen müssen, weil sich die Nachbarin in die Küche schleicht und BHs von der Wäscheleine klaut. Quatsch, die Körbchengrößen der Großmutter, die passen an die Nachbarin gar nicht hin und überhaupt ist die Maria da vorne nur eine Täuschung. Es gibt keine Tschitschitschen Wundmale. Dann gehen wir eben. Die goldenen Zehen brennen. Tschitschitsch hat noch eine Selbstgedrehte in der Jackentasche, die zündet er an den Zehen der Muttergottes an.

Plötzlich sagt Maria was: "Das ist aber hier nicht der richtige Ort zum Rauchen" - o nein, es ist nicht die Statue, das ist die junge Frau, schlank, schön, steht neben ihm wie eine Jugenstilarabeske, wo ist denn die plötzlich hergekommen? Oh entschuldigen Sie. Husch. Die Asche fällt ab. Tschitschitsch hätte jetzt fast die Selbstgedrehte auf den Steinfußboden fallen lassen. Entschuldigung, entschuldigung, er wollte niemanden beleidigen! Er wird die Zigarette sofort ausmachen. Aber was tut die junge Frau da? Sie knöpft sich auf überm Herzen, entblößt die Brüste, das heißt: das Brüstlein, rechts, links der Abnäher, fleischfarben.

Tschitschitsch hat die Zigarette doch fallen lassen. Sorry, helfen kann er nicht und eine Statue ist eine Statue. Beinahe klirrt die Flasche im Tschitschitschen Rucksack: rainermariawein slivovitz liebfrauenmilch, hehehe. Du Penner! sagt sie, aber mit welcher Stimme! Mit welcher süßen Stimme! Alle Bayern saufen, sagt Tschitschitsch, er ist nur zufällig ein Passrusse, denn seine Großmutter ist aus Bayern, aus Donauschwaben, Wolgadeutschland, egal, die könnte ja die ganze Flasche praktisch ohne auch nur einen Zentimeterbreit vom rechten Winkel abzuweichen. Alles wäre anders gekommen, wenn er was Richtiges gelernt hätte. Schachspielen ist nix Richtiges. Figurenrücken. Er haßt seinen Beruf. Schachspieler sein, sagt Tschitschitsch, das ist noch blöder als Klaviervirtuose.

Das sagt auch die Emma metzgernd in ihrer Metzgerei, sie richtet grad zufällig augenblicklich Hackfleisch her, ganz unerwartet hat sie eine Schauung überfallen, sie hat in den Himmel schaun dürfen, ein luftleeres Lichtloch, ein Zweimannsloch mit zwei Bischöfen drin (wieso Bischöfe, wundert sich Humpf, vom Bruder der Emma eilends benachrichtigt und eilends ist der Herr Pfarrer gekommen, aber die Emma kann auch nicht sagen, was die Schauung zu bedeuten hat. Tschitschitsch müßte es wissen, aber Tschitschitsch ist nicht da, er spielt auf dem Hochofen-Turnier in den Niederlanden, seine Hände tropfen.

Tschitschitsch weiss, Bauer e4 schwarz d6
2. d4 schwarzes Pferd nach f6
3. weißes Pferd nach c3 Bauer g6
4. Bischof e3 Bischof g7.
Da hat die Emma eine zweite Vision, es ist die Heilige Theres vom Kinde Jesu, die sie in lichter Gestalt immer wieder zum geduldigen Ausharren im Leidensberuf ermuntert,
(5. weiße Dame d2 schwarzer Bauer auf c6) zum Gehorsam gegen den Beichtvater, zum Weiterbeten in gewohnter Weise (9. Dame h6 Bischof b7) und zum Verkehr mit dem Heiland wie bisher.
12. der weiße König nach b1 - a6. Es sei alles recht, sagt die Kleine Theresia, die sich 1895 als Ganzopfer der erbarmungsvollen Liebe (24. Turm: d4!? c:d4? traurig aber wahr, danach ist schwarz verloren) des gnädigen Gottes dargebracht hat.
Nach dem 27. folgt der 28. Zug: der weiße Bischof zieht nach e6!! und Tschitschitsch gewinnt! Aha!?!? Mit diesem, auf den ersten Blick widersinnigen Zug bewahrt sich Weiß zunächst vor Schaden und Damentausch. Zugleich wird die Drohung b2-b4 akut, spielt schwarz also irgendeinen Nullzug, folgt 29. ein Bauer auf b4 und 30. der Triumph der weißen Dame auf d4+, oftmals auch in Begleitung seliger, unkörperlicher Lichtgestalten, die dem Verstorbenen im Leben nahegestanden sind. Ist die Seele so rein, daß sie gleich mit in den Himmel darf, wird sie so leuchtend wie die Seelen, die Emma an Allerheiligen sieht und sie entschwebt. Bedarf sie jedoch der Läuterung, so bleibt sie dunkelgrau in verschiedenen Schattierungen.

Jetzt schreit die Emma laut auf. Ein Kampf. Die Engel ziehen ihre Schwerter, hauen und jauchzen. Sie schaut den Engelsturz - sagt Humpf zum Bruder. Es wäre sehr lehrreich, lieber Herr Lochmüller, wenn man erfahren könnte, was denn die Engel da so verkündet haben.-" "Ond was schwätzet die Engel, Emma?" - "S'isch ebbes wia: au do nai." Interessant, meint Humpf und daß es hebräisch sei, nämlich au = schwäbischer nasal für a, donai = adonai, (hebräisch: der Herr). Aber der Bruder glaubt, daß die Engel schwäbisch geredet haben, nämlich au do nai = auch dort hinein. Hierauf singen die weißen, siegreichen Engel: kadosch kadosch kadoch, währenddessen sich ein Großteil der nichtsingenden Engel verfinstert und in die Hölle stürzt. Schwarz versucht zwar, seine Niederlage mit 28. König a5 aufzuhalten. Aber nach b4+ darf der schwarze König wegen des tödlichen Schachs auf d4 nicht nach b6 zurückziehen, womit der schwarze König auf a4 verdammt ist. In der vorliegenden Partie ereilt ihn jedoch nach 30. die Dame auf c3 und droht mit matt auf b3.

Zum ersten Mal ertönt das Leitmotiv, auf das sich das gesamte Tschitschitsche Opferspiel gründet: Bischof nach d5. Wieder vor den Richter gebracht, wird sie mit eisernen Krallen zerfleischt. In der Nattersheimer Kirche hängt auch dieses Bild: das Martyrium der Heiligen, eine bedeutende Altarbildschöpfung des ausgehenden achzehnten Jahrhunderts. Die Heilige erleidet dort ihr Martyrium zu einem geschichtswissenschaftlich ungesicherten Zeitpunkt. Nach Martyrium und Folter werden ihr vom Henker die Brüste abgetrennt. Der Maler stellt den Moment nach dem Martyrium dar und vermeidet auf diese Weise blutrünstige Drastik. Die Pinselführung ist spielerisch, das Bluthündchen schnappt nach den zur Erde fallenden Brüsten der lieblichen Heiligen. Die durch helle Farben von Inkarnat und Gewand herausgehobene Hauptfigur vermittelt den Eindruck von ruhigem Gottvertrauen und Glaubensstärke. Auf den Stufen einer antikischen Architektur zusammengesunken, blickt sie ergeben in die Höhe. Hierauf wird sie, entsetzlich blutend, durch das Volk geführt. Das Bild in der Kirche zeigt auch den Vater, er selbst drängt den Richter zur Grausamkeit, doch göttliche Stärkung hält die liebliche Heilige aufrecht. Das Volk jubelt, Matt in vier Zügen. In den Wolken über der Heiligen hat der Maler ursprünglich halbrund das von der Dornenkrone umgebene flammende Herz Christi angebracht.

Die Emma hat in den Heiligenkalender geschaut, gegen den heutigen Freitagnachmittag ist nix einzuwenden, weil auf ihn ein Lokalheiliger von Nattersheim fällt und an den Festtagen Nattersheimer Lokalheiliger hat sie erfahrungsgemäß leidensfrei. Der Bruder hat ein paar Vorräte in den Hasenfutterrucksack getan, dann hat die Emma ihre Metzgerei zugesperrt und jetzt ist man mit Pfarrer Humpf auf der Missionsreise nach Ofterdingen unterwegs, wo sie erleben müssen, daß der Lokalheilige von Nattersheim dort nicht gilt. Überraschend wird die Emma in ihrem Fremdenzimmer vom Freitagsleiden heimgesucht, da kann man nix machen sagt Humpf und der Bruder beschließt, derweil mit seinem Hasenfutterrucksack eine kleine Wanderung zu tun.

Die roten Sonnenstrahlen tauchen die Tankstelle von Ofterdingen in ein blutiges Licht, darüber blendet die Schrift: Jonny Walker. Over shoulder Hasenfutterrucksack. An der Zapfsäule lehnt der Tankwart Die Luft ist erfüllt vom Geräusch tankender Autos. Lochmüller nimmt einen Schluck aus dem Hasenfutterrucksack. Die heiße Luft über der Tankstelle flimmert. Lochmüllers Magen drückt Zufriedenheit aus. Er nimmt einen weiteren Schluck aus dem Hasenfutterrucksack. Faul lehnt der Tankwart von Ofterdingen an der Zapfsäule. Lochmüller nimmt mehrere Schlucke aus dem Hasenfutterrucksack. Die heiße Luft über der Tankstelle flimmert. Lochmüllers Blick schweift in die Ferne, hinüber zur untergehenden Sonne. Er nimmt einen letzten Schluck aus dem Hasenfutterrucksack. Groß der glühende Ball der Sonne. Die Musik erreicht ihren Höhepunkt, die Sonne zerplatzt und Jonny Lochmüller kehrt mit dem nunmehr geleerten Hasenfutterrucksack ins Gasthaus zurück.

Tschitschitschs Hände riechen deutlich aus den Plastiktaschen raus, riechen nach Hering, die Leute wollen seine Hände berühren, aber der Hering ist nimmer gut. "Oh Du Begnadeter, oh du Heiliger" ruft die männliche Stimme vor der Haustür. Er ist nämlich geheilt worden teilt die Stimme mit. Metastasen, Magen, Leber, Niere, er weiß schon gar nimmer, was man ihm alles hat rausnehmen wollen, er hats selber gesehen mit dem bildgebenden Verfahren, Kernspinpositionen, hat der Arzt gesagt und hat zugeben müssen, daß er die physikalischen Grundlagen auf dem Bildschirm im Augenblick auch nicht erklären kann, Hauptsache, es funktioniert, hat er sich verteidigt, als die Stimme kritisch nachgefragt hat, Sie wenden doch auch ihren Staubsauger auf ihren Teppich an, ohne daß Sie jetzt ganz genau wissen, jedenfalls hat die Stimme es ja selbst gesehn, Niere, Magen, Darm, hoffnungslos, da ist er zum Tschitschitsch seiner Wohnung hin und hat einen Auszug aus dem Tschitschitsch seiner Türklinke getrunken. Einen Auszug aus der Türklinke? das wollen die Zuhörer genauer wissen, das interessiert uns, das ist ja wirklich hochinteressant und die Stimme erklärt: Mit einem alkoholgetränkten Wattebausch hat er die Türklinke abgewischt, da, wo Tschitschischs Hand den Knauf berühren muss. Den Tschitschitschmoleküle enthaltenden Türklinkenauszug in einer hochprozentigen Trägerflüssigkeit homöopathisch zehn hoch zehn genommen, oral, ein mächtiges Mittel! Überwiesen war er schon, vorgemerkt, die Nieren, die Blase und als er da hinist, da - da war der Krebs weg. Spontanheilung haben sie gesagt, das glauben die ja wohl selber nicht, ein Wunder ist das, ein Wunder nichts weniger als ein Wunder! Und wenn schon ein Tschitschitscher Türklinkenauszug so zu wirken vermag, welche Mächtigkeit müßte da wohl einem Tschitschitschen Händeabdruckauszug zukommen! Wenn man bloß eine der Tschitschitschen LIDL-Tüten bekäme!

Zitate der Rede im üblichen Rahmen sind möglich und honorarfrei. Die Verwendung von weiteren Ausschnitten müssen mit dem Verfasser, dem Tagungsbüro oder dem Piper-Verlag geklärt werden.

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© 01.07.2000