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WELLNESS
Georg Martin Oswald
Elf
Uhr vormittags war normalerweise nicht die Zeit, zu der sie nach Hause
kam. Im Briefkasten - die Post war unter der Woche offenkundig früher
dran -, fand sie einen Anwaltsbrief. Sie kniff kurz die Lippen zusammen
und schnaubte, aber eigentlich kümmerte es sie im Augenblick gar
nicht. Sie wollte ihn nicht öffnen, jedenfalls nicht jetzt. Sie hatte
ein Gefühl von Urlaub, aber ohne jene leichte Euphorie, die dazugehört.
Als sie in die Wohnung kam - Vier-Zimmer-Altbau mit Parkettboden, Miete
DM zweitausendvierhundert -, bemerkte sie das Tageslicht, eine Helligkeit,
wie sonst nur am Wochenende, wo das aber normal war, so daß es ihr
dann nicht mehr besonders auffiel. Es war sicher nicht stiller als sonst,
trotzdem hätte sie den Eindruck, den die Wohnung jetzt auf sie machte,
als still beschrieben.
Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und stellte sie unter den Heizkörper
neben der Tür. Sie zog ihr Kostüm aus. Marineblaues Kostüm
von Jil Sander, DM zweitausendsiebenhundert. Morgen würde sie dieses
Kostüm nicht wieder anziehen müssen. Das war ein Grund, sich
befreit zu fühlen. Sie hängte es an zwei Bügeln in den
Kleiderschrank im Flur. Sie tat es so sorgfältig, wie jemand, der
einen abgenommenen Gips als Andenken an einen Unfall aufbewahrt. Sie zog
einen Jogginganzug an, den sie sonst trug, wenn sie es sich vor dem Fernseher
gemütlich machte.
Erlittenes Unglück schärft die Sinne, fiel ihr ein, als handle
es sich um ein altes Sprichwort. Gestern abend noch war sie mit einer
Freundin, ihrer sogenannten besten, und ihrem Freund, ihrem aktuellen,
in der Küche gesessen und sie hatten - dieser Ausdruck war mehr als
einmal gefallen - "Pläne geschmiedet".
Sie war von diesen dreien immer die Gewandteste gewesen, diejenige, der
am meisten zuzutrauen war. Jedenfalls war diese Betrachtungsweise ein
Stück ihrer gemeinsamen Legende, was sie alle drei sehr gut wußten,
wenn sie ehrlich waren. Und gestern abend war es vor allem darum gegangen,
ihr Mut zu machen, und da war die Beschwörung dieser Legende genau
das Richtige.
Als die Freundin gegangen war, hatte sie mit ihrem Freund geschlafen,
weniger, weil sie Lust dazu gehabt hatte, als um sich zu beweisen, daß
sie tun konnte, was sie wollte, egal was andere mit ihr vorhatten. Sie
war mit der Vorstellung eingeschlafen, in ihr gebe es so etwas wie einen
festen, unberührbaren Kern, den sie spüren konnte, wenn sie
sich nur stark genug darauf konzentrierte.
Natürlich, ihr Freund. Erst jetzt fiel ihr ein, daß er ja vermutlich
da war. In der Wohnung. Im Schlafzimmer. In ihrem Bett. Gestern nacht,
nachdem sie sich geliebt hatten, war er noch mal aufgestanden, hatte sich
angezogen und war hinausgegangen. Das tat er häufig. Er sagte dazu:
"Ich geh eine rauchen".
Sie hatte wirklich einmal gesagt, Zigarettenrauch störe sie in ihrer
Wohnung. Aber sie hätte natürlich nichts dagegen gehabt, wenn
er jetzt in der Küche eine geraucht hätte. Doch darum ging es
ihm gar nicht, und das wußte sie. Er wollte raus, bloß für
einen Augenblick, wie er vielleicht sogar selber dachte. In Wirklichkeit
war er oft Stunden unterwegs. Wenn er erst mal draußen war, rauchte
er dann tatsächlich eine nach der anderen. Er drehte seine Zigaretten
selbst, aus grob geschnittenem schwarzen Tabak, bei dessen Anblick sie
unweigerlich an Lungenkrebs dachte. Sein Vater war vor einem halben Jahr
daran gestorben. Er hatte den gleichen Tabak geraucht.
Ihr Freund hatte seinen Vater, wie sie es ausdrückte, zu Tode gepflegt.
Der Vater war beim Rest der Familie nicht gerade beliebt gewesen, weder
bei seiner geschiedenen Frau noch bei seinem Bruder, der in einer anderen
Stadt wohnte und nichts von sich hören ließ. Doch was hieß
schon zu Tode gepflegt? Er besuchte ihn in seiner kalten, mit Möbeln
vom Sperrmüll eingerichteten Wohnung, und sie rauchten gemeinsam
diesen grob geschnittenen schwarzen Tabak, bis er ins Krankenhaus kam.
Zuerst in die Abteilung für Innere Medizin, dann auf die Intensivstation.
Sein Vater rauchte bis zum Schluß, als er schon so viel Schleim
in der Lunge hatte, daß er kaum noch atmen konnte. Aber er rauchte.
Und sein Sohn rauchte mit ihm, als wäre es darum gegangen, dadurch
am Leben zu bleiben. Und darum war es ja wohl auch tatsächlich gegangen.
Ihr Freund hatte ihr erzählt, daß sein Vater, bevor der Tod
eintrat, vier tiefe Atemzüge tat. "Vier kräftige, tiefe
Atemzüge", hatte er gesagt, "wie ein Bergsteiger, der die
kalte klare Luft auf einem Gipfel genießt."
Nach dem Tod seines Vaters hatte er sein Studium "drangegeben",
wie er sagte. Nicht etwa abgebrochen, von einem Tag zum anderen, sondern
er war einfach immer weniger hin gegangen, und statt dessen immer mehr
Taxi gefahren.
Sie ging ins Schlafzimmer, ihr Freund lag in ihrem Bett. Sie spürte,
daß er wach war und sich nur schlafend stellte, dennoch tat sie
so, als schlafe er wirklich, und bemühte sich, das Zimmer ohne Geräusch
wieder zu verlassen.
Sie nahm das Telefon aus der Ladestation, griff nach dem Anwaltsbrief,
den sie auf dem Heizkörper neben der Wohnungstür abgelegt hatte,
und warf sich auf ihr Wohnzimmersofa.
Es war von dänischen Designern entworfen und exklusiv für sie
bei "Das Magazin" bestellt, mit dem geschmackvollen petrolfarbenen
Bezug, für den sie eine zusätzliche Wartezeit von acht Wochen
hingenommen hatte, DM viertausendneunhundertneunundneunzig.
Sie erinnerte sich an all die Entscheidungen, die beim Kauf dieses Sofas
zu treffen gewesen waren, als sie sich darauf ausstreckte. Sie tippte
die Nummer ihrer besten Freundin, die im Büro war.
Sie erzählte ihr in einem fröhlichen und deshalb verharmlosenden
Ton, es sei alles genau so gekommen, wie sie es gestern besprochen hätten.
Sie blieb nicht bei der Wahrheit und erfand Details, Sätze, die sie
nie gesagt hatte, um klar zu machen, daß sie sich keineswegs als
Opfer fühlte.
"Dann hast du das also ganz gut hin bekommen", sagte ihre beste
Freundin schließlich in einem bitteren Ton, der lebensweise klingen
sollte. Das war es, was sie hatte hören wollen. Aber jetzt, da sie
es hörte, begriff sie auch, wie wenig so ein Satz änderte. Nichts,
um genau zu sein. Sie beendeten das Gespräch mit einer vagen Verabredung
für den späten Nachmittag, bei der man alles noch mal ausführlicher
besprechen könnte. Sie drückte die Taste mit dem roten Telefonhörer,
und war wieder allein.
Sie hatte den Anwaltsbrief auf das Sofa mitgenommen, um ihn zu lesen.
Doch jetzt glaubte sie, ohnehin zu wissen, was darin stand. Sie hatte
Angst davor. Neben ihrer Fußspitze lag ein orangefarbenes Taschenbuch,
ein Roman, der schon seit Jahren in ihrem Bücherregal stand und in
dem sie vor einigen Tagen zu lesen begonnen hatte. Sie mochte ihn, weil
es darin um eine Frau ging, eine Schriftstellerin, die erfolglos versuchte,
einen Agenten zu finden, der ihre Bücher an einen Verlag verkaufen
konnte. Sie selbst schrieb keine Bücher, aber sie verstand sehr genau,
wie es der Frau in dem Roman ging. Sie blätterte darin, bis sie auf
eine bestimmte Stelle stieß, einen dünn mit Bleistift unterstrichenen
Satz. "Weil sie eigene Bemühungen verteidigt hatte, hatte sie
sie gleichzeitig vernichtet und würde nun wieder ganz von vorn anfangen
müssen". Sie hatte sich dieses Buch nicht gekauft, sie hatte
es sich von einem früheren Liebhaber ausgeliehen und nie zurückgegeben.
Ob er den Satz unterstrichen hatte oder sie selbst, bei einer früheren
Lektüre, an die sie sich nicht erinnerte, wußte sie nicht mehr.
Sie überlegte, ob ihr früherer Liebhaber es in Gedanken an sie
getan hatte, weil er fand, der Satz treffe auf sie zu. Oder ob sie es,
in der gleichen Meinung, selbst getan hatte. Sie wußte gar nicht,
was sie deprimierender finden sollte. Der Satz war jahrelang schon in
ihrer Wohnung gewesen, bereits fertig unterstrichen, und hatte nur darauf
gewartet, ihr endlich zu begegnen.
Natürlich hatte sie eigene Bemühungen verteidigt! Wer hätte
das an ihrer Stelle nicht getan? Wenn sie sich klar machen wollte, daß
sie ihren Platz hatte, ihre "Bemühungen" berechtigt waren,
erinnerte sie sich gern an bestimmte Ereignisse, bei denen sie erfolgreich
gewesen war. Ihr Gedächtnis hatte diese Ereignisse zum Intro einer
gefälligen Soap Opera arrangiert, das in kurz aneinander geschnittenen
Szenen ihre Brillanz, Intelligenz, Attraktivität, Zielstrebigkeit
illustrierte. Sie, in der Rolle der Julia bei der Abschlußvorstellung
des Schultheaters. Sie, mit konzentriertem Gesichtsausdruck über
einem Stapel Bücher in der Universitätsbibliothek. Sie, vor
Begeisterung laut lachend, als ihr der Professor strahlend das zusammengerollte
und mit einer roten Samtschleife versehene Diplom überreicht. Sie
- auch das - im Hochzeitskleid mit ihrem Mann vor der Standesbeamtin.
Sie, wie sie ihrer beeindruckten Teamleiterin am Flipboard ein neues Marketingkonzept
präsentiert. Sie, wie sie spät abends das Bürogebäude
verläßt und ihren Freund - er ist nur Taxifahrer, aber sie
ist souverän genug, auch öffentlich zu ihm zu stehen - zärtlich
umarmt.
Natürlich hatte sie nie vergessen, wie lächerlich absurd dieser
fröhliche Bilderreigen war. Aber sie pflegte ihn mit jener liebevollen
Ironie, die notwendig war, wenn sie die Rolle spielen wollte, die sie
gewählt hatte. Das war nichts besonderes. Alle ihre Kolleginnen und
Kollegen besaßen diese Ironie. Doch sie half nichts mehr, als eines
Tages das System plötzlich versagte.
Vielleicht hatte sich die Erdachse den Bruchteil eines Millimeters zu
weit nach der einen oder anderen Seite geneigt. Irgend etwas war, unmerklich,
aber auf alles entscheidende Weise, aus dem Gleichgewicht geraten. Dachte
sie jetzt. Aber das war ihr ja nicht von Anfang an klar gewesen. Was war
überhaupt "der Anfang"? Jene Szene, in der sie der sonst
so entgegenkommende Pförtner morgens mit dem ungeheuerlichen Satz
empfing: "Ah, auch schon da!" Ein Satz, auf den sie nichts erwiderte,
weil er so weit vom zu Erwartenden entfernt war, daß ihr keine Reaktion
darauf einfiel? Sie hatte es einfach ignoriert, dem Pförtner wie
üblich unverbindlich freundlich zugenickt und war im Lift verschwunden.
Doch der kleine Schreck über seine ganz grundlose Ungehörigkeit
hielt sich hartnäckig. Tags darauf war sie mit dem Entschluß
ins Büro gefahren, den Pförtner im Fall einer neuerlichen Unverschämtheit
sofort zur Rede zu stellen, doch diesmal begegnete er ihr wieder mit der
gleichen ausgesuchten Höflichkeit wie sonst immer.
Jene Szene, in der ihre Teamleiterin, die sie nicht ohne Grund als ihre
Verbündete betrachtete, am großen Besprechungstisch einen Zeitungsauschnitt
über eine Theaterpremiere vorlas, nicht, weil diese Theateraufführung
irgend etwas mit ihrer Arbeit zu tun gehabt hätte, sondern wegen
eines Satzes, der sie unendlich amüsierte, so daß sie ihn dem
versammelten Team lachend ein ums andere Mal wiederholte? "Wer wenig
leistet, hat viel zu befürchten", las sie vor, und sah sie nie
dabei an, und dennoch spürte sie, dieser Satz galt ihr, war für
sie ausgewählt, sollte ihr und nur ihr sagen, sie befinde sich in
Gefahr.
Jene Szene, in der sie dem Team, wieder am großen Besprechungstisch,
die neue Verkaufsstrategie für das kommende Jahr vorstellte, an der
sie wochenlang gearbeitet hatte und die dann mit einem steifen, mechanischen
Applaus bedacht wurde, so daß sie weiche Knie bekam und sich setzen
mußte? Ein neuer Kollege, der ihres Wissens für ein ganz anderes
Aufgabengebiet eingestellt worden war, erhob sich und sprach über
eine alternative Verkaufsstrategie, die er entwickelt hatte, machte alles
zunichte, was sie zuvor gesagt hatte, ohne sich in irgend einer Weise
direkt auf sie zu beziehen. Er sah sie nicht einmal an, und die anderen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Teams taten es ihm nach, und sie
fragte sich am Ende seines Vortrags, ob sie überhaupt noch am Tisch
saß, sichtbar war, atmete.
Das war vor zwei Wochen. Dann kamen die von ihrer Teamleiterin so genannten
Zielvereinbarungsgespräche unter vier Augen. Ihre fachlichen Qualitäten
wurden gelobt, die Zukunft des Unternehmens war das Thema, die in Aussicht
stehende Fusion mit einem multinationalen Konzern. Entwicklungen auf dem
Arbeitsmarkt wurden erörtert, sie könne sich glücklich
schätzen, zu jenen zu gehören, auf die diese Gesellschaft setze,
sagte ihre Teamleiterin. Am Ende des letzten dieser Zielvereinbarungsgespräche
unterschrieben sie gemeinsam ein Papier, das die - so hieß es darin
- Zusammenarbeit mit sofortiger Wirkung beendete.
Die Teamleiterin hatte es verstanden, die, wie sie sagte, "Erarbeitung"
dieses Papiers wie ein letztes gemeinsames Projekt erscheinen zu lassen.
Sie konnte es kaum fassen, daß der Rauswurf so glatt über die
Bühne ging und jeder Protest dagegen nur ein weiterer Beweis ihrer
ohnehin schon offenbaren Schwäche gewesen wäre.
Ihr Freund kam aus dem Schlafzimmer, in dunkelblauen Boxershorts, die
sie ihm gekauft hatte - Uli Knecht, DM sechzig -, und einem polizeigrünen
T-Shirt mit dem Aufdruck "Drogenfahnder". Er kam zu ihr aufs
Sofa, er roch nach Bett, nach Schlaf, was sie ein wenig rührte. Dann
sah er den Anwaltsbrief.
"Was ist das denn?" fragte er.
Du weißt genau, was das ist, dachte sie. Sie hielt ihm den Brief
hin, er nahm ihn, sichtlich neugierig. Der Brief kam von der Anwaltskanzlei,
die ihren Ex-Mann vertrat. Was würde also schon drinstehen? Haarsträubende
Halbwahrheiten, üble Polemik, unverschämte Forderungen, von
einem, der es gewohnt war, jeden Tag Dutzende solcher Schreiben zu verfassen
und sich dabei einen Dreck darum scherte, ob es stimmte, was er von sich
gab. Es waren die Lügen ihres Ex-Mannes, multipliziert mit der juristischen
Scheiße seines Anwalts. Einmal hatte sie den Anwalt angerufen, um
ihm den Kopf zu waschen, wie sie sich vorgenommen hatte. Sie stellte sich
ihn als ein hysterisches, niederträchtiges Männchen vor, das
so sprach, wie es schrieb. Als sie ihn in der Leitung hatte, war sie von
seiner sonoren, beinahe gütigen Vaterstimme so verblüfft, daß
sie sofort alles vergaß, was sie ihm vorwerfen wollte. Sie glaubte
tatsächlich einen Moment, falsch verbunden zu sein, bis sie begriff,
daß sie ihm persönlich vollkommen egal war und er deshalb natürlich
auch nichts gegen sie hatte. Als Mensch.
Jetzt, als sie ihren Freund neben sich sitzen sah, verschlafen und dumm
auf den Umschlag glotzend, wurde sie ärgerlich, weil er nicht fragte,
was geschehen war, warum sie, um diese Uhrzeit, zu Hause war. Er wußte
es natürlich, aber gab es einen Grund, nicht darüber zu sprechen?
Jedesmal, wenn einer dieser Anwaltsbriefe ins Haus kam, beschäftigte
er sich damit, als beträfen sie ihn selbst. Er deutete sie wie Horoskope
und entwarf seitenlange Entgegnungen, in denen er versuchte, jeden einzelnen
Satz zu widerlegen, bis er die Geduld verlor, weil er erkannte, wie aussichtslos
sein Unterfangen war, und das halbe Dutzend eng und sorgfältig mit
der Hand beschriebene Seiten zerfetzte.
Ihr Ex-Mann wollte Geld. Vor allem aber sollte sie niemals vergessen,
daß Krieg herrschte. Ihr Freund verstand das, glaubte aber trotzdem,
es käme auf die Kraft der besseren Argumente an. Wenn es um ihren
Ex-Mann ging, hatte sie oft das Gefühl, nur von Schwachsinnigen umgeben
zu sein.
Er fragte: "Darf ich ihn öffnen?"
"Wenn du meinst", antwortete sie. Er nestelte ungeschickt an
dem Umschlag herum, und zog schließlich den Brief heraus, entfaltete
ihn und begann laut zu lesen.
"Sehr geehrte Frau -".
Sie begann zu schreien. Es war ein gellender, langezogener Schrei, der
ihr Spaß machte und ihren Freund furchtbar erschreckte. Sie sprang
vom Sofa auf und beschimpfte ihn. Ob ihm nicht klar sei, daß alle
Welt es darauf abgesehen habe, ihr Selbstbild zu zerstören, sie fertig
zu machen? Ob er glaube, sie nehme das einfach so hin? Sie habe keine
Lust, als Penner mit Taxischein zu enden, sie sei es sich schuldig, mehr
aus sich zu machen. Jeden könne es heute erwischen, jeder könne
heute seinen Job verlieren, seine Beziehung, sein Geld. Das gehe manchmal
schneller, als er vielleicht glaube. Während sie ihn anschrie, merkte
sie, wie ihre Luftröhre sich langsam verschloß, wie eine Art
Krampf aus der Brust in den Hals aufstieg, und mitten in ihr Schreien
hinein geriet ihr plötzlich ein Schluchzen, das so erbärmlich
klang, daß sie davor erschrak. Sie konnte sich nur wieder auf das
Sofa setzen und fing an, wild zu heulen.
Sie hatte das schon öfter gehabt, wenn es um ihren Job gegangen war.
Was waren das für Abende gewesen, als sie ihre Präsentation
für die neue Verkaufsstrategie vorbereitet hatte. Wie viele Stunden
waren sie in ihrer Küche gesessen, hatten flaschenweise kalifornischen
Chardonnay getrunken, DM neunzehnneunundneunzig die Flasche, bei Jaques'
Weindepot, und sie hatte ihm haarklein auseinandergesetzt, wie sie es
schaffen würde, auch die unerbittlichsten Betonköpfe von ihren
Ideen zu überzeugen. Von jedem Augenaufschlag, jeder Aktennotiz,
jedem hingeworfenen Satz ihrer Teamleiterin wurde ihm präzise und
in allen Details berichtet, und er wurde zusammengestaucht, wenn er sich
in der Analyse der geheimen Botschaften, die all diese Äußerungen
zweifellos enthielten, nicht brillant genug erwies.
Was war das für ein Abend gewesen, als sie nach Hause kam und mit
rotgeheulten Augen von dem Desaster berichtet hatte, das ihre Präsentation
am Ende tatsächlich geworden war. Als er sagte, er habe schon länger
die Befürchtung gehabt, die Sache könne auch schiefgehen, so
wie sie jetzt wirklich schiefgegangen sei, warf sie ihren Teller nach
ihm, auf dem noch ein halbes Steak vom argentinischen Rind und frischer
Salat lag, beides von ihm zubereitet, um sie, wie er gesagt hatte, zu
verwöhnen.
Jetzt, auf dem Sofa, legte er ihr den Arm um die Schulter, sie machte
zuerst den Rücken steif, doch dann lehnte sie sich an ihn und weinte
sich aus. Er stellte sich vor, sie von nun an vielleicht mehr für
sich haben zu können.
Mit ihrem Arbeitslosengeld, sagte er, und dem, was er durchs Taxifahren
verdiene, könnten sie doch prima leben und hätten soviel Zeit
füreinander wie nie zuvor. Vielleicht sei er ja nur ein Penner mit
Taxischein, aber wenn er ihr Leben mit seinem vergleiche, wolle er nicht
tauschen.
Als sie sich wieder gesammelt hatte, tat er ihr leid. Was begriff er schon
von dem, worum es ihr ging? Entwarf sinnlose Antwortbriefe an den Anwalt
ihres Ex-Manns, schlief mit ihr, wenn sie es wollte, war loyal und, wie
es aussah, aufrichtig. Doch von ihrer heillosen Angst begriff er gar nichts.
Sie küßte ihn und begann, seine nackten Schenkel zu streicheln,
spielerisch, nicht fordernd. Er ging darauf ein und griff nach ihrer Brust.
Das war ihr dann zuviel, in diesem Augenblick, und sie rückte ein
wenig von ihm ab, nicht schroff, nur so deutlich, daß er verstand,
was er, ohne beleidigt zu sein, auch tat. Sie sagte, sie wolle fernsehen.
Er schaltete ihr den Fernseher ein und brachte die Fernbedinung, fragte,
ob er den Anwaltsbrief haben dürfe, sie bejahte, er verzog sich damit
ins Schlafzimmer. Sie zappte sich durch das Elend der Talkshows, was ihre
Laune deutlich hob. Dies waren die wirklich Gestrauchelten, dachte sie,
die für ein Handgeld das letzte, was sie hatten, vor der Kamera entblößten.
Davon war sie beruhigend weit entfernt.
Sie weidete sich an ihrer eigenen Fassungslosigkeit und ihrem Ekel, als
ein Lkw-Fahrer präsentiert wurde, der auf dem Beifahrersitz ein Pornoheft
liegen und darüber während des Fahrens onaniert hatte, deshalb
eine Ampel übersah und einen vor ihm anhaltenden VW Golf rammte,
in dem eine junge Frau mit ihren zwei Kindern saß. Sie waren alle
drei auf der Stelle tot, wie es hieß. Der Talkmaster, ein Mann mit
kastanienbraun gefärbten Haaren und einer lächerlich gelben
Krawatte, bemühte sich, in das Gewissen des LKW-Fahrers zu dringen,
aus dem nicht mehr herauszubekommen war, als daß es eben nun mal
dumm gelaufen sei.
Am späten Nachmittag läutete es, sie schaltete den Fernseher
aus und ging zur Tür. Es war ihre beste Freundin. Sie brachte Erdbeerkuchen
vom Bäcker nebenan mit und brannte, wie sie sagte, darauf, nun über
jedes Detail informiert zu werden. Durch hochgezogene Augenbrauen und
rollende Augen signalisierte sie schon jetzt, daß sie bereit war,
sich grenzenlos über alles aufzuregen.
Die beiden Frauen gingen in die Küche. Kicherstimmung. Sie machte
ihrer besten Freundin vor, wie die Teamleiterin bei dem letzten Zielvereinbarungsgespräch
heute morgen in so einem besorgten Tonfall auf sie eingeredet hatte. Wie
eine ältere Schwester, die ihrer jüngeren Schwester verständnisvoll
und dringend zurät, die Einwilligung zu einer schmerzhaften, aber
am Ende doch lebensrettenden Operation zu unterschreiben. Sie veralberten
dieses solidarische Getue, das aus einem Rauswurf noch ein herrliches
Erlebnis machen sollte und bestätigten sich so, verstanden zu haben,
daß es nur eine leicht zu durchschauende Finte war, die sie davon
abhalten sollte, aggressiv zu werden.
Ihr Freund lag auf dem Bett im Schlafzimmer und hörte die Stimmen
der beiden, deren Fröhlichkeit ihn überraschte. Davon und von
dem Wunsch angezogen, Teil eines Gesprächs zu werden, das die Aufgeregtheiten
des Mittags ausglich, stand er auf und ging in die Küche. Im Flur
blieb er vor einem der Bücherregale stehen und holte eine kleine
Schatulle aus Rosenholz hinter einigen ihrer Karriereratgeber hervor.
Er klappte sie auf, roch am Inhalt, schloß sie wieder, nicht ohne,
nur für sich, ein zufriedenes Gesicht zu machen. Dann nahm er sie
mit.
Ihre beste Freundin rief "Hallooo!" und stand auf, um ihn mit
Küßchen zu begrüßen. Er stellte die Rosenholzschatulle
auf den Küchentisch, kramte nach Zigarettenpapieren in der Schublade,
fand welche und nahm drei heraus. Er befeuchtete sie mit der Zungenspitze
und klebte sie aneinander, zwei längs, eins quer.
Sie sagte: "Ich habe das Gefühl, ich sollte mir jetzt wirklich
mal richtig was Gutes tun, wißt ihr? So richtig was Gutes."
"Stimmt. Du hast es dir verdient", sagte ihre beste Freundin.
Er nahm etwas Gras aus der Rosenholzschatulle, sie unterhielten sich über
die Qualität, er sagte, er habe es gekauft als "The red but
sometimes stinky rose of Albany", DM zwanzig pro Gramm. Sie lachten.
Später reichte ihre beste Freundin den Joint an sie weiter und holte
einen Prospekt aus ihrer Jackentasche, aus dem sie vorlas: "Panchakarma
ist eigentlich eine komplette Ayurveda-Kur für Körper und Geist
in einem indischen Retreat. Da es in unserer westlichen Zivilisation allerdings
schwierig ist, sich einfach mehrere Wochen in eine Klinik zurückzuziehen,
bieten wir Ihnen einen kleinen Balance Ayurveda Retreat in unserem Day
Spa. Das Programm beinhaltet eine ayurvedische Typbestimmung (Vata, Pitta,
Kapha), eine Ganzkörper-Ölmassage, eine indische Kräuterpackung
für den Körper und ein Ayurveda-Facial." Dann gab ihr ihre
beste Freundin einen Kuß auf die Wange und einen Gutschein, auf
dem stand "Geschenkgutschein für ein Panchakarma. DM dreihundertfünfzig."
Sie freute sich wirklich darüber, bedankte sich, und sagte, sie wolle
gleich morgen hingehen. Was hatte sie auch sonst zu tun? Außer einen
neuen Job zu finden. Doch das hatte Zeit. Beruhigt vom Dope, hörte
sie wie von fern ihren Freund ihrer besten Freundin von dem Anwaltsbrief
erzählen. Er sprach in langen Sätzen, leise, doch bestimmt.
Sie genoß diesen Tonfall, seine sinnlose Fürsorglichkeit, die
ihr galt. Panchakarma, dachte sie und fragte sich, was dieses Wort wohl
bedeutete. Dann nahm sie noch einen Zug von dem Joint, der sie sanft in
die Vorstellung entgleiten ließ, alles, was sie gerade erlebte,
sei vorbestimmt, folge einem klar definierten Code, den sie niemals würde
entziffern können, dessen Existenz sie in diesem Augenblick aber
so deutlich spürte wie nie zuvor.
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