Susanne Riedel
Auszug aus Romanmanuskript "Knoten"


"Knoten knüpfen, Knoten lösen," sagte Verna Albrecht auf dem Bildschirm, ihr Mund war eine blasse Blume, die man essen konnte, und Alakar beobachtete die Bewegungen ihrer Lippen. Wie würde sie ihn ankündigen, wenn er neben ihr stünde? Alakar Macody, Dichter und Einsiedler? Alakar Macody, ein unbekanntes Genie unserer Zeit? Draußen sprang einer der großen Fische, die abends den Fluß hinunterzogen, und klatschte gegen den Anlegesteg, ein fettes Geräusch, unwirklich und wahr. Mit beiden Ellbogen knetete Alakar seinen juckenden Beinstumpf, der Wetterbericht hatte für die Nacht ein Sturmtief vorhergesagt, und Verna zog einen dicklichen Kerl hinter ihrem Ansagepult hervor. "Chinesischer Glücksknopf," sagte sie über den Knotenkandidaten hinweg, der vor Aufregung glänzte, er fröstelte, sein Blick tauchte in ihren Ausschnitt, aber schließlich knüpfte der Mann einen Schnürsenkel aus Nylon um eine leere Limonadendose. Verna klatschte, auch die Leute im Studio waren außer sich, johlten und stießen sich gegenseitig an, und plötzlich sah Alakar Macody sich selbst von oben, einen schlanken Mann, der wie betäubt auf den Fernseher starrte, während die Proportionen des Raumes sich beunruhigend verzerrten. Wie jedesmal, wenn er Verna lange genug angesehen hatte, breitete sich ein tröstlicher Nebel vom Bildschirm über das Zimmer aus und erweiterte Alakars Gesichtsfeld. Dann sah er sich und um sich den Raum und um den Raum sein Haus, umgeben vom funkelnden, weißen Wasser in der Bucht. Das sah er und den stumpfen Farbton über der Haut des Fisches, der auf der Mole gestrandet war, und hinter der Mole die Straße, ein paar winzige Autos, die sich mit angeschalteten Scheinwerfern durch die Dämmerung bewegten, auf die Stadt zu, über den Fluß, über die Brücke, über das Meer, und über dem Meer war nichts, nur das Meeresleuchten, Millionen grünlicher Algen. Irgendwo in der Stadt, in der klirrenden Helligkeit der Bürogebäude, stand Verna, durch die Straße mit Alakar verbunden, grinste dem dicken Kerl neben sich jungenhaft zu und betrachtete seine feuchten Fingerabdrücke auf der Limonadendose. "Ist das nun," sagte sie, während der Kandidat unter seinem Bauchansatz die Gürtelschlaufen suchte, um die Daumen darin zu verhaken, "ein einsträngiger oder ein mehrsträngiger Knoten?"
"Mehrsträngig, wie man sieht!" sagte Alakar, synchron zu den Lippenbewegungen des Knotenmanns, und die Glückskäfer hinter Verna begannen ekstatisch zu klatschen. Wie eine Blase zog sich das allerletzte Tageslicht um Alakar Macody zusammen, er betrachtete Vernas dünne, durchtrainierte Waden, die Reflexe auf ihrem Kleid blendeten ihn. In all dem Silber, den Pailletten, dem Scheinwerferlicht schillerte sie, leuchtete auf, als der zweite Kandidat an ihre Seite erschien. Die Wellen am Anlegesteg flüsterten, simmerndes Wasser in einem Kochtopf, drängend wie das Gedicht, der perfekte siebzehnsilbige Hexameter, der unter Alakars Schädeldecke tickte. "Scheiße!" sagte er laut, als der vierte Daktylus sich sperrte. Wie kurz, hatte T.S. Eliot gefragt, muß ein Gedicht sein, um lyrisch genannt zu werden? 'Brainonia' war fast zuende, es kam nur noch das Telefonspiel. In einer Pfütze aus Licht fühlte Alakar Macody seine Gedanken zittern, und zur Beruhigung begann er, über den nebelgrauen Trichterling nachzudenken, einen Pilz, der als eßbar galt, aber nicht von jedem vertragen wurde. "Gott," sagte Alakar, während draußen ein erster Schauer herunterging und Verna auf dem Bildschirm sich anschickte zu telefonieren, "was ist sie wunder-, wunderschön!" Die großen Fische tauchten ins tiefere Wasser ab, er zog mit dem Daumen eine breite Spur über seinen Teller und leckte ihn ab, zuerst den Teller, dann den Daumen. Alakar schmatzte, der Regen machte dazu seine einsamen, ploppenden Geräusche. Es wurde langsam dunkel, die Lerchen schrien nun fast.

Diesen Augenblick, dachte Verna Albrecht, während sie wählte, habe ich dem Haß gewidmet. Das Tastentelefon war klebrig, klebrig und lebendig wie der Dicke, der ihr mit seinem Knie inständig gegen die Wade schlug, als würde er um Einlaß bitten. Er wußte eine Menge über Knoten, er schwamm auf den Knoten, ein trübes Fettauge, das vor dem Schlafengehen Schnüre um Saftflaschen wand. Haß, dachte Verna, Haß, sie strahlte den zweiten Kandidaten unverbindlich und beißend an, als sein fader Atem ihr gegen die nackte Schulter stieß. Ihre Hände flatterten so, daß sie die Tasten verfehlte, die elend lange Nummer des Pilzexperten mit dem gräßlichen, pilzigen Namen. Die Kamera wechselte und die Glückskäfer wurden unruhig, aber Verna winkte fröhlich ins Publikum. Haß, Haß, Haß, wie ich 'Brainonia' hasse, und Pilze hasse ich auch. Der letzte Telefonkandidat war ein wahnsinniger, ehemaliger Seekadett gewesen, der zum Thema Rechenmaschinen befragt werden sollte und am Ende nur noch über sein Diamantschwert und ihre Liebesgrotte faselte. Als er in die Schlußmusik hineinkreischte, er würde sie umbringen, aber pronto, hatte sie gelächelt. Aber pronto, das war genau das, was er sagte. Für das Publikum hielt sie den Daumen hoch, als der Ruf durchging und das Freizeichen ertönte, sie wackelte mit dem Daumen, ihrem kleinen Daumen, der aussah wie eine fette, schweinchenfarbene Nudel. Zwischen ihren Rippen kreischte jemand, die zweite Person, die gefährliche Irre, die ihr irgendwann die Show vermasseln würde; Kieferknochen knackten, Zähne bekämpften sich, es ist nichts, beruhigte sie sich, es kommt nur von diesem ewigen Grinsen. Der Produktionsleiter wedelte mit den Händen und fuhr die Reklame ab, mach, mach doch, dachte sie, aber der Pilzsammler ließ sich hinter seinen Bergen Zeit. Deshalb machte sie noch einen Witz, die Leute gröhlten, und Verna erinnerte sich, daß sie die Welt waren; die Welt und Gott, der Verna Albrecht und ihren kleinen, leichten Atem betrachtete, ihr Gelegenheit gab, zu schimmern und zu rasen in seinem Licht, das durch die Kameraspots auf sie herunterstrahlte. Fernsehen, dachte sie, dein Auftrag, mein Lieber, warum nicht einfach heiligen, was ist? Mit einem winzigen Kreischen starb die Reklame, das Publikum waberte, ein teigiges, hautfarbenes Tier, das mit den Füßen scharrte. 'All die Fische in uns waren für einen Augenblick geflohen' sagte Anne Sexton, ihr Gesicht glühend und traurig, 'den wirklichen Fischen,' antwortete Verna, 'war das egal.' Izzy Stern hatte sich damals Anne Sextons Augen bemächtigt, nicht der Farbe, nur des Blicks, auf den sie prompt hereinfiel. Der wunderhübsche Izzy, immer noch hübsch, selbst im Sarg, ein wunderhübsches, totes Arschloch. Weißliche Spuckefetzen quollen den Kandidaten aus Mundwinkeln, die ihre Gesichter überwucherten, und Verna warf zur Sicherheit einen Blick auf den Studiomonitor. Da stand sie, blond, ordentlich proportioniert, sauber organisiert, beide Mundwinkel, jede Pore an der richtigen Stelle, Verna Albrecht, wie sie ein Leben lang eine endlose, provinzielle Telefonnummer wählte. Dann klickte es in der Leitung, das maschinelle Surren einer riesigen Mücke. "Alakar Macody, guten Tag," sagte der Anrufbeantworter mit einer Stimme, die in jeder Nuance Izzy Sterns Stimme war, "lassen Sie uns über die Dummheit der Menschen reden."

Alakar hörte sich selbst auf dem Anrufbeantworter etwas sagen, was er vor Monaten noch als intelligent, außergewöhnlich und passend empfunden hatte. Wieder kribbelte sein Beinstumpf, und er preßte die Handflächen gegen die Ohren, taub für den verwirrten Pilzsucher am anderen Ende, der ihm den Rest der Show vermasseln würde, weil er das Servicetelefon für ein Auskunftsbüro hielt oder für die Kirche, Tag und Nacht geöffnet. Mit Flechtkörbchen und Plastiktüten krochen sie im Juli wie die Wahnsinnigen durch die Mischwälder hinter der Bucht, zu dumm, Amanita pantherina von Amanita rubescens zu unterscheiden, aber schlau genug, ihn am Ende mit hysterischen Stimmen anzurufen und ihn vom Fernsehen abzuhalten, vom Dichten. Seit Alakar das Pilztelefon eingerichtet hatte, gerannen die Worte in seinem Kopf, stockten, ein zäher Hefeteig, der irgendwann seinen Schädel sprengen würde. Verna auf dem Bildschirm kam ihm schon ganz fremd vor, ihr merkwürdiger, leerer Blick, als ob sie auf etwas wartete. Durch die Hände über seinen Ohren hörte er eine dumpfe Frauenstimme, die das Band zu besprechen begann, wer immer seine Hilfe brauchte, er sollte zur Hölle gehen. Auch Verna redete nun im Fernseher, er starrte sie an, bis ihre kleine Gestalt plötzlich zerfloß, sich verwandelte, ein fünfzehnjähriges Mädchen, ein Kind, das in Kürze den Telefonhörer auf die Gabel legen, eine Handvoll Amanita pantherina aus einem Bastkörbchen nehmen und sich die rohen Pilze heißhungrig in den Mund stopfen würde. Beflockte Hüte, weiße Lamellen, ein unschuldiger, stumpfer Geschmack nach Motten. Die Vorstellung ließ Alakars Magen toben, Amanita pantherina, der schokoladenbraune Pantherpilz mit seinem schwachen, rettichartigen Aroma, eine mächtige, giftige Anklage. Die Zeit rutschte aus ihrer Verankerung, stolperte, fiel und rastete in der Schwärze ein, in der Alakar noch einmal der zornige Fünfjährige war: Batman, den Gott erschaffen hatte, um die Fehler der Schöpfung auszumerzen. Im schlimmsten Fall würde das fremde, kleine Mädchen, das gerade versuchte, ihn am Pilztelefon zu erreichen, sterben, weil es den Perlpilz mit dem Pantherpilz verwechselte, oder anders, weil Alakar Macody 'Brainonia' wichtiger nahm als das Leben, als den Tod. Nerven würden sich krümmen wie verschmorende Elektroleitungen, das Blut würde träge werden, schwer, übersättigt vom rußigen, kräftigen Pilzgift. Schuld. Gemeine, spitze Schmerzen. Alakar riß seine Augen von Vernas Augen los, die mit seinen verschmolzen waren, eine grüne, moosige Legierung auf seiner dunklen Iris. Dann würde er das Telefonspiel eben diesmal verpassen, einmal ist keinmal, dachte er, schaltete den Anrufbeantworter ab und hechtete zum Telefon.

"Verna Albrecht," sagte Verna in ihrem muntersten Tonfall, "Verna von Brainonia!" Einen Moment lang hielt sie den Atem an, und der verlorene Atem am Grunde ihrer Kehle zuckte. Am anderen Ende der Leitung Stille, Pause, Tod, bis der Pilzsammler fragte: "Wer spricht?" Izzy, dachte sie, hallo Izzy, aber der Telefonkandidat klang anders - resignierter, mürber, gestört. "Wer spricht?" wiederholte er, und Verna schwieg einfach weiter, mit der Frage beschäftigt, ob die Halluzination ihr Leben überdauern würde, Izzys Stimme in Abflußschächten, Besenkammern und Schaufenstern, Izzys fraglose Stimme, ein großes, unerbittliches Geschenk. "Hören Sie, ist auch egal," sagte der Mann, "dann bleiben Sie eben anonym, nun, ich weiß, daß Sie ein Problem haben, deshalb möchte ich, daß Sie Ihre Pilze einfach vor sich ausbreiten! Punkt eins: visuelle Begutachtung. Vermutlich sehen Sie eine stulpenförmige Knolle und einen weißbeflockten, fleischfarbenen Hut!"
"Wie bitte?" sagte Verna und atmete hörbar aus, während der Dicke neben ihr hechelnd lachte, eine Kette beinah geräuschloser, gurgelnder Töne, die wellenartig ins Publikum schwappten. "Punkt zwei: taktile Begutachtung!" sagte der Pilzsammler, "Das hört sich schlimmer an, als es ist. Es heißt nur: Fassen Sie die Dinger einfach an!" Das Publikum kreischte, und die Glückskäfer verbeugten sich mit heuchlerischen, schleimigen Blicken. "Nun," sagte Verna, "aber...", sie sah auf die Uhr, noch vierzehn Minuten, es mußte ein Irrer sein, schlimmer als der obszöne Seekadett damals. "Nichts aber," sagte der Pilzsammler unerwartet scharf, "wobei es natürlich Ihr Leben ist, nicht meins, aber wenn Sie mich schon fragen, dann sollten Sie sich jetzt überwinden und feststellen, ob die Hüte einen glatten oder geriffelten Rand haben. Glatt bedeutet: Guten Appetit! Aber geriffelt heißt: Müllschlucker marsch! Und weg damit! Auf Wiedersehen im Pilzhimmel!" Auf dem Studiomonitor erschien das Dia, das der Regisseur endlich gefunden hatte, eine feiste Stinkmorchel, darunter Vernas Kopf in Frontalaufnahme und das 'Brainonia'-Signet, stimmungsvoll. "Ja," sagte sie mit offizieller, glatter Stimme, "tatsächlich, dies scheint mir unser Mann am Pilz zu sein!" Wie erwartet, lachte das Publikum, und Verna blickte auf ihren Zettel und rief: "Alakar Macody! Telefonkandidat und Philosoph! Ein unbekanntes Pilzgenie unserer Zeit! Willkommen bei 'Brainonia', Alakar!"

In Alakars Kopf tanzte eine Ratte, rasende Menuette aus winzigen, ordentlichen Trippelschritten, und die Stimme von T.S. Eliot verkündete: 'Es gibt aber keine notwendige Verbindung zwischen der Kürze des Gedichts und dem Ausdruck der Gedanken und Gefühle des Dichters'. Um Alakar und die Ratte wurde es dunkel, kein Trugbild, die Sonne ging unter, es war Zeit. 'Dich will ich über meine dünnen Knochen ziehen,' leierte eins seiner eigenen Gedichte, 'ein schmales Boot in meiner schlecht behaunen Nacht'. Schweiß brach ihm unter den Achseln aus, bis er sich besudelt fühlte. "Zwei Jahre warten Sie schon auf Ihren großen Auftritt!" sagte Verna. "Du liebe Güte! Was muß ein Mensch die Pilze lieben, daß er solche Ausdauer an den Tag legt." Aus dem Hörer kam ekstatisches Schaben und Rauschen, Applaus, und Alakar drehte sich zum Bildschirm um, wo das Publikum trampelte und klatschte. Unglaublich, dachte er, ich spreche mit Verna Albrecht, nicht zu fassen, ich bin der Telefonkandidat. Die Bewerbung fiel ihm ein, seine Aufregung, zu viele Fehler, vier- oder fünfmal mußte er den Brief abtippen; wie er auf Antwort gewartet hatte, natürlich, Tage, Wochen, bis die Zeit zerfallen und verlorengegangen war. Morgen für Morgen lief er im ersten Jahr über das taufeuchte Gras zum Briefkasten, manchmal schimmerte der Fluß beinah türkis durch die beiden Eiben, und Lichtstäubchen schwirrten wie Insekten in den kugeligen, gelben Knoten der Blüten. Die Bäume hatten noch nie geblüht, und Alakar hielt es für ein Zeichen, wartete weiter, rannte aber im zweiten Jahr nicht mehr den Weg herunter, sondern ging, bewußt langsam, Schritte, Schritte, bis er sich irgendwann beruhigte und aufgab. "Unglaublich," sagte er mit festerer Stimme, "Sie Witzbold," sagte Verna, "Alakar! Was ist das eigentlich für ein famoser, ungewöhnlicher Name?"
"Künstlername," sagte er, "denn Kunst ist für mich..." Als die Ratte sorgfältig Wort für Wort zerlegte, zerbiß und schluckte, versagte ihm die Stimme. Unendliche Peinlichkeit, dachte er, ich habe Verna Albrecht für eine Pilzsammlerin gehalten. "Hab ich's mir doch gedacht!" sagte sie, "Ein Pilzkünstler! Ja, Kunst darf alles! Kunst kennt keine Zeit! Und trotzdem heißt es jetzt: Auf die Beine, Alakar!"
"Ich habe nur noch eins," sagte er, während das Klatschen am Steg beunruhigend laut wurde. "Was denn?" fragte Verna belustigt. "Ein was haben sie nur noch, mein Freund?"
"Ein Bein!" antwortete Alakar schlicht.

Ein Bein. Guter Gott. "Nun, natürlich..." sagte sie schnell. Anne Sexton hatte wenigstens ihren eigenen Irrsinn gehabt. Aber in meinem Traum warst du ein sonderbarer Mann aus Stein. Anne Sexton hatte sich dem Alltag wenigstens verweigert, Dingen wie diesem hier, fremdem Irrsinn. "Nichts Schlimmes," behauptete der Pilzsammler, "nur ein Unfall, ich meine...nicht jetzt...als ich kleiner war. Ein Bus, wissen Sie...". Mein Gott. Das Publikum versteinerte, Augen wie Bratpfannen, Lote, gußeisern, zielsicher, taub. Ein Bein. Unfall. Als er kleiner war. Bewegungslos stand Manasse, der Produktionsleiter, an der linken, unteren Ecke des Stinkmorchel-Dia, und Verna gab ein gequältes Stöhnen von sich, das die Stille zwischen ihr und den Menschen zertrümmerte, da, wo sich plötzlich das blutige Bein des zukünftigen Pilzsammlers befand - bleiern, ein winziger, verrutschter Kniestrumpf, nicht mehr ganz weiß. Ich habe das immer gewußt, irgendwann, irgendwann. "Es ist auch nicht das ganze Bein," sagte Alakar Macody vorsichtig. "Im Grunde nur - ab dem Oberschenkel...laufen allerdings...", seine Stimme zerfiel, herbstfarbene, dünne Stimmbröckchen, die über das verlorene Bein segelten, angestrahlt vom splitternden Licht der Scheinwerfer, weißliche Sehnen, ein greller Schimmer von Blut. Ein Skandal, dachte Verna, ich werde umfallen, und 'Brainonia' wird endlich einen Skandal haben, ich liebe Entscheidungen, die einem abgenommen werden. Dann knallte die Werbung in ihr Schweigen. "Einen Moment," sagte Verna, drückte Alakar Macody auf die Warteschleife, schob sich mit den Handrücken die Haare aus dem Gesicht und starrte die fleischfarbenen, pudrigen Schlieren an, die das MakeUp darauf hinterlassen hatte. "Süße," sagte Manasse, "Süße, tut mir leid, unglücklicherweise - nun, es ist der Ersatzkandidat. Der andere ist perdu. Unauffindbar. Wahrscheinlich beide Beine abgerissen. Entführt, erschossen oder so. Aber der hier ist doch Gold wert, Süße."
"Woher?" fragte sie.
"Notfalldatei! Computer!" sagte Manasse feige.
"Dein Computer kotzt mich an," sagte sie, und er blickte durch sie hindurch, fettiges, schillerndes Haar, Augen, die man morgens melken mußte. "Du glaubst, daß ich lüge, Süße, was!" Sie kniff die Lippen zusammen. "Wirklich nicht, Verna! Der andere hat eben abgesagt. Gott sei Dank! Der hier ist der Hammer. Das gibt die Schlagzeile: Pilzkönig im Glück - mit einem Bein im Jackpot!"

Auf dem Bildschirm lief Werbung, während Alakar bewegungslos neben dem großen, altmodischen Kühlschrank wartete, wo das Telefon eingedübelt war. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er, gefesselt an die Schnur, keinen Schritt tun können. Die Glückskäfer sangen, ein Lied, das wie ein Schluchzen klang. Als er aus dem Fenster spähte, bewegte sich etwas an der Mole, da, wo der Fluss eine Kerbe ins Land geschnitten hatte, seine Bucht, Gottes nasses Seziermesser. Plötzlich jaulte ein Fuchs am Wasser auf und wischte wie ein dünner, rötlicher Pfeil über den Steinhaufen, den Alakar im Sommer davor am Holzsteg für die Feuersalamander aufgeschichtet hatte, für die Feuersalamander, die sich seitdem nicht mehr blicken ließen. Dahinter, im Tümpel, schlüpften Bergmolch-Larven, knistrig-dumpfe Geräusche, die unter Wasser entstanden. Wahrscheinlich wußte Verna weder, daß Bergmolche zu Neotonie neigten, noch, was Neotonie war, unvermittelte Geschlechtsreife der Larven. Neotonie, Verna, würde er in ihr leuchtendes Gesicht hinein sagen, falls sie ihn fragte, Kindersex! Es klickte, und da war wieder ihre Stimme und draußen die Gelbbauchunke, Bombina variegata, die ihn rief. Von den herzförmigen Pupillen der Unke würde er Verna erzählen und wie er einmal, nachts, die winzigen, hornigen Schwielen an den Fingern und Zehen des Tiers betrachtet hatte. "Alakar?" Einen Augenblick war er nicht sicher, ob die Unke zu ihm sprach. Das geheimnisvolle Rufen der Dinge, die anklopften, in ihm brachen und sich wieder zusammenfügten, der dunkle Drang, von dem T.S. Eliot sprach. "Alakar, hören Sie mich?" Stunden schienen vergangen, er warf einen Blick auf die Kuckucksuhr, die ihm seine Mutter aus der Schweiz geschickt hatte. "Alakar?"
"Ja," sagte er atemlos, "ja!" Höchstens fünf Minuten, seit der Anrufbeantworter angesprungen, seit Verna Albrecht in sein Leben getreten war, fünf Minuten, ein gemeinsames Schicksal. "Alakar, lassen Sie uns einfach beginnen!" Der unfertige Hexameter pendelte in der leeren Luft um seinen Schädel und fiel dann in ihn zurück, die Zeilen verwandelt, erkaltet, dort, an jenem schwarzen Ort hinter seinen Augen, wo die Dauer geboren wurde, die Schönheit und der Schmerz. Wahrscheinlich würde Verna ihn am Ende fragen, woher er seine Kenntnisse der Lyrik bezog. "Ich feile selbst ein bißchen," würde er sagen, höflich, in dem leisen, festen Ton, der zu der Stimme seiner Gedichte paßte, und sie würde ihn bewundern, weil Frauen Gedichte bewunderten und umgekehrt. "Pilze," sagte Verna bestimmt, "sind für viele Menschen nicht mehr als eine schmackhafte Beilage zu einem tollen Stück Fleisch." Es klang, als würde sie es ablesen. "Natürlich," bestätigte Alakar. "Für Alakar Macody allerdings," sagte sie, "sind Pilze unter Umständen pures Gold! Per aspera ad astra, über den Pilz zu den Sternen! Im Jackpot, Alakar, befindet sich momentan wieviel?"
"Eine Million!" sagte er wie aus der Pistole geschossen. "Präzis!" bescheinigte Verna. "Nun, Alakar, darum lassen Sie uns in medias res gehen, in die Mitte des Champignons quasi!" Das Publikum heulte, Sirenen, und er hielt den Hörer ein Stück von seinem Ohr ab. Auf dem Bildschirm starrte der Knotenkandidat immer noch hirnlos wie eine Spitzschlammschnecke in die Kamera. Spitzschlammschnecke, Lymnaea stagnalis, gleitet auf einem Schleimband am Boden längs. "Nun," sagte Verna, während sie den grünen Umschlag öffnete, "hier sind Ihre Fragen, Alakar!" Ein Trommelwirbel, wieder Beifall, anämische Frauen, das Publikum. Entlang seiner Wirbelsäule bildeten sich eiserne, wilde Knoten, als die Glückskäfer ihre Puschel schwangen, dies ist, dachte er 'Brainonia', dies bin ich. "Sind Sie bereit?" fragte Verna. Sein Herz vibrierte, platzte, und er wußte, daß es Panik war, die Wahrheit, die ihn zwang, sich entsetzt zu fühlen, zerschmettert. Mein Leben, dachte Alakar, wird natürlich nicht zuende sein, wenn ich versage, ich versage ja nicht vor dem Leben, nur vor etwa zwanzig Millionen Zuschauern, die dämlicher sind als ich und von Gedichten überhaupt keine Ahnung haben. Aber es war eine Vorstellung, die ihm den Atem raubte. "Wollen Sie gewinnen?" fragte Verna zusammen mit dem Publikum, ein Ritual, das sich in Alakars Eingeweiden abspulte. "Ich gewinne!" sagte er, und das Publikum schrie mit, die Wahrheit, die wahre Wahrheit, das war es, der Ruf. Gänsehaut überzog seine Arme, der dunkle Drang, den T.S. Eliot meinte, den Willen des Dichters, dem Geheimnis ein Wort zu geben, viele Worte, und aus den Worten entstanden Temperatur, Hitze, Kälte, physikalische Zustände, Feuchtigkeit, Durst, Angst. Alakars Küche drehte sich, als Verna ihm aus dem Fernseher einen letzten Blick zuwarf, der seine blaurot gestreifte Schürze registrierte, den schwachen, muffligen Geruch nach Schmorpilzen in seinem Haar. Hatte T.S. Eliot gewußt, daß der dunkle Drang in jeder Ecke des Daseins am Werk war? Inkarnieren, Form geben, ins Fleisch gehen, sein. 'Wenn das verlorene Wort verloren,' dachte er, 'das verbrauchte Wort verbraucht ist'. Wenn sie noch einmal Pilz sagt, bringe ich sie um.

Wo immer Izzy Stern sich aufhielt, er war schuld, durchzog die Welt, er, die feine Spur seiner DNS, die in einem kalten, nassen, ilexbewachsenen Bett ruhte oder im Hundehimmel. Bis zuletzt hatte er die Kanalratten, die er Hunde nannte, mehr geliebt als Verna, Izzy, der Mann, der süße Segen, der als Mensch jedoch ungefähr so segensreich wie die Wasserstoffbombe gewesen war. Verna überflog Alakars erste Frage und hatte eine Vision von Izzy, der wie ein dünner Sprühnebel über Japan oder Amerika niederging und alles segnete, was verboten war, Lügen, Betrug, das Verbrechen schlechthin. Menschen taumelten, fielen, starben, Izzy, die Heuschreckenplage, und Verna, die sieben dürren Jahre. Der Pilzfreund räusperte sich, wahrscheinlich war er schlaksig und häßlich wie die Stinkmorchel in der Kulisse, ein bräunliches, gefälteltes Gesicht. "Alakar! Ihre Frage!" sagte sie. "Ihre Zeit!" krakeelte das Publikum. "Der Hallimasch als Herbstpilz, dessen bevorzugtes Nährsubstrat abgestorbenes Gehölz ist, tritt immer in Büscheln auf und schädigt das Holz."
"Das Fleisch schmeckt kratzend," warf der Pilzfreund ein, als ob er sich nichts Natürlicheres denken könnte. Dann atmete er plötzlich laut und stoßweise, kratzend, dachte Verna, du liebe Güte. Er sagte nichts weiter, atmete nur, in aufgedrehten, heftigen Rucken. Oh nein, dachte sie, er hört sich an, als ob er sich einen runterholt, vielleicht existieren da draußen tatsächlich Menschen, auf die Pilze eine sexuell stimulierende Wirkung ausüben. "Kratzend, hm," sagte sie. "das war aber nicht die Frage!"
"Dachte ich mir schon," sagte er. "Aber wann fängt es denn endlich an? Oder sind wir auf Sendung? Warum reden Sie dann dauernd von Pilzen?" Verna hoffte, daß sie nicht schielte, manchmal, wenn sie sich aufregte, stellte sich ihr linkes Auge geringfügig quer. "Guter Scherz, Alakar," sagte sie, "trotzdem: Wie werden nun Pilze wie der Hallimasch genannt?"
"Parasiten natürlich!" sagte Alakar Makody. "Aber, nun, ich wollte, ich wußte nicht, daß...ich meine, ich dachte, ich würde hier über Dichtung befragt." Pause, dachte Verna. Pause. Pause. Schnitt. "Pilzdichtung," sagte sie dann liebenswürdig, "wenn überhaupt." Er schwieg, aber es reichte, 'Parasiten' war gut gewesen, die Antwort, perfekt; darum verdrängte das 'Brainonia-Signet' auch die Stinkmorchel, vergrößerte sich, schrumpfte, pulsierend, golden, 'Chance' stand darüber. Ein riesiges, schlagendes Herz, entstellt von der Wahrnehmung eines Psychotikers. Verna hüstelte, ihre Kehle war trocken. "Pilze...", sagte Alakar Macody, "nicht Gedichte...?" Auf seiner Stimme trieb eine gummiartige Schicht aus Verletzbarkeit. Manasse lächelte hingerissen in die Luft, Verna lächelte zurück, ein Lächeln, das in ihr eingerastet war, versteinert, vor Izzys Zeit, Jahrhunderte davor. "Pilze!" bestätigte sie, "nicht Gedichte! Soweit ich weiß, haben Sie sich doch für Pilze beworben!"

Trauer war schwarz, und Scham war rot, ganz einfach. Mühsam bewegte sich Alakar durch den schäumenden, dichten Dunst von Farben, so dicht, daß er seinen Fernseher nicht mehr sah. "Speisetäubling," sagte er, "Schopftintling, Farb- und Konsistenzveränderung, gestreckt-eiförmig, artenreiche Gattung!" Etwas quoll aus ihm heraus, verflüchtigte sich, Sätze, vermutlich grammatikalisch einwandfrei, wie Pilzsporen mit der Luft verblasen. Verna hielt ihn in ihrer eisernen, wortreichen Umarmung. Ich hätte T.S. Eliot erwähnt, dachte Alakar, tatsächlich, das hätte ich, aber sie hat mich nicht gelassen. Immer noch sah Verna unberührbar aus, glitzernd, namenlos, Anima, ein schönes Wort, wie Liebesperlen. Er hätte es gerne zu ihr gesagt, ein Test, um zu sehen, ob es sie erschütterte, und wenn ja, in welcher Hinsicht. Als der Dunst aufbrach, lag in einer Schneise die Küche, die schwarzweißen Fliesen feucht, als hätte die Scham dort Spuren hinterlassen. Um Vernas Kopf hing wie ein Heiligenschein die Zahl, eine Eins, sechs Nullen. Alle Fragen beantwortet, dachte Alakar, das bedeutet es wohl, nichts anderes. Dabei war er so sicher, daß er sich zum Thema Dichtung beworben hatte. Natürlich hatte er die Pilze auch erwähnt. Wieder sah er seinen vergessenen Brief, von dem nichts geblieben war als die Zahl im Fernseher, die goldene Blüte, die Million. Der Knoten-Kandidat warf dem anderen die Arme um den Hals, dann schüttete er Sekt über Vernas Schulter. "Alakar!" sagte jemand auf dem Bildschirm. "Hören Sie mich?"
"Ja," murmelte er, "natürlich, ja!"
"Alakar," sagte Verna, "Sie Glückspilz!"
"Ach, halten Sie doch den Mund!" sagte er.

In der Garderobe fand Verna einen Zettel von Manasse: "Danke, Süße!" Wofür auch immer. Izzy Stern hatte dieselbe Macke gehabt, Zettel. Tausend Zettel und am Ende aller Zettel der letzte, der mit "Hallo, Verna!" begann. "Für den Laien," hörte sie den Pilzsammler noch einmal sagen, "ist es vielleicht verwunderlich, daß ein Pilz sich auflöst und sich in eine tintenartige Flüssigkeit verwandelt. Dabei verbreitet er so nur seine Sporen." Einen Augenblick lang brach Verwirrung über Verna herein, mit all ihren rasenden Geräuschen, und sie zweifelte an ihrem Verstand. Ein gutes Zeichen, pflegte Izzy zu sagen, wenn über dem Verstand das Verstehen des Verstandes kommt, übergeordnete Intelligenz, kollektives Unbewußtes, Gott. Draußen lärmte Manasse mit den Kandidaten, Verna wählte noch einmal Alakar Macodys Nummer und blickte sich im Spiegel in die Augen. Ich würde gern mein Gesicht abziehen, Izzy, und hinter dem Gesicht das Gesicht sehen, das hinter den Gesichtern liegt. "Hallo Verna!" Jener letzte Zettel, nicht Liebe Verna, nicht Mein Liebling! oder Verna, mein Zuckerhut! Hallo Verna. Das war's. Nicht mal ein Ausrufezeichen. Ein Punkt. Hallo Izzy, hallo Hunde, hallo Alakar! Wenn er abhob, würde er wieder mit Izzys Stimme sprechen, eine Einladung, ein Phantom, Izzy-Alakar, Alakar-Izzy, diesig, trüb, schnurgerade Sätze, ohne einen Funken Gefühl. Izzy-Eisblock, der sich sogar von ihr schlagen ließ. Allerdings erst, nachdem er sie bereits verlassen hatte. Nach dem Zettel. Nach Hallo Verna, Punkt. Als Alakar Macody sich meldete, sagte sie eilig: "Das mit der Pilzdichtung tut mir leid!"
"Was genau?" fragte er.
"Sie sagten, Sie hätten gedacht, hier ginge es um Dichtung. Da sagte ich: Höchstens um Pilzdichtung! Das tut mir wirklich leid!" Stille. "Ich hätte mich nicht über die Pilze lustig machen dürfen!" Er schwieg weiter, eine Pause, üppig und unerfreulich, bis er sagte: "Oh, im Grunde gibt es ja nichts Passenderes als Pilze, um sich darüber zu amüsieren. Nehmen Sie den netzstieligen Hexenröhrling. Wenn Sie das Fleisch anschneiden, kommt es Ihnen gelblich vor, wird aber danach ganz schnell blau. Komisch, was?" setzte er hinzu. "Erst gelblich, dann blau? Tatsächlich?" sagte Verna verlogen. "Ja," sagte er und dann nochmal nichts. Izzys Schweigen, nur daß Alakar weniger über Bodhisattvas nachdachte als über Lamellenfarben. "Weshalb ich es anspreche...", sagte sie. Keine Ahnung, dachte sie. Nur so ein Gefühl. Schalte das Licht aus, rief ihr jemand zu, und dann sind wir überall schwarzes Papier! Anne Sexton hatte wenigstens Gründe dafür gehabt, unglücklich zu sein, das war der Unterschied, häßliche Gründe, aber aus der Häßlichkeit war Schönheit entstanden. "Weshalb also?" fragte Alakar.
"Weshalb was?"
"Sie sagten: Weshalb ich es anspreche...", er klang ungeduldig. "Ach so," sagte Verna, "ich will Sie nächste Woche nochmal in der Show! Die Leute rufen wie verrückt an."
"Sie lügen!" sagte Alakar Macody. "Tu ich nicht," sagte sie. "Hören Sie, Alakar! Lassen Sie mich erst gar nicht von Geld anfangen! Sagen wir einfach, es geht um die Sache. Es geht um die Pilze. Die müßten Ihnen doch soviel wert sein."
"Quatsch!" Ein nasses Wort, Trostlosigkeit, auf dieselbe Weise hatte Izzy "Quatsch!" gesagt, wenn er sich nicht entscheiden konnte, ob er mit ihr schlafen wollte oder nicht. Also immer. "Alakar!" sagte sie. "Die Leute lieben Sie!"
"Die Leute kennen mich gar nicht!" Mit tieferer Stimme sagte Verna: "So funktioniert jedenfalls Fernsehen, das müßten Sie doch wissen." Bei ihr zuhause war Fernsehen verboten gewesen, ihre Mutter hatte ständig Kastanienmännchen und schicke, kleine Puppenwagen aus Klorollen mit ihr basteln wollen. "Ich bin in einen Waldorf-Kindergarten gegangen," sagte sie übergangslos. "Ach du Schreck," sagte Alakar.
"Aber ich bin durchaus in der Lage, Notwendigkeit von Notwendigkeit zu unterscheiden. Die Welt braucht das alles: Massenmedien und Natur. Und alles hat am Ende seinen Sinn, oder?" Schweigen. "Ja," sagte sie heftig, "es erscheint mir in diesem Fall sogar möglich, die beiden Enden der Welt miteinander zu verknoten!"
"Was reden Sie da eigentlich, Verna", sagte er, "halten Sie mich für blöd?" Gut, dachte sie, ich bin also verzweifelt. Was aber keineswegs ein Makel ist. In der Bar des Ritz-Carlton-Hotels hatten Sexton und Plath ungehemmt über ihre Selbstmordversuche geplaudert. Wie hatten sie das gemacht? So wie sie mit Alakar Macody über Pilze redete? "Na schön," sagte sie, "hören Sie zu: Ich habe keine Ahnung ob Ihnen die Namen Lowell, Sexton, Berryman, Snodgrass und Plath etwas sagen!" Wie unter Zwang begann sie, Colaflecken von einem Fax zu reiben, und ihr Daumen machte dabei unscharfe, bellende Geräusche. Wo waren eigentlich Izzys Hunde geblieben? Den letzten hatten sie Snodgrass genannt, eine gemeinsame Entscheidung, weil er so dumm und süß war und immer auf den Teppich pinkelte. "Bekenntnislyrik!" sagte Alakar, und Verna spürte eine Verdickung an der Unterlippe, genau da, wo sie sich während der Sendung immer biß, ich esse mich, dachte sie, oder es ist Krebs. "Wie bitte?" fragte sie tonlos. "Bekenntnislyrik!" wiederholte er. "Die alle, Berryman, Sexton und so weiter..."
"Bekenntnislyrik, genau," sagte sie, "nun, ich habe Ihnen als private Verna gesagt: Das mit der Pilzdichtung tut mir leid. Das fiel mir schwer. Aber ich habe es getan, weil das Private nicht privat ist. Das haben die Bekenntnislyriker betont. Das Private ist öffentlich. Deshalb sollten Sie auch aus Ihren Pilzen kein..." Lieber Gott, dachte sie, gib mir Kraft, ich kann das Gefasel nicht mehr ertragen. "Okay," fiel ihr Alakar Macody ins Wort, "ist ja gut, überredet, ich komme!"
Wenig später, als Manasse den Kopf zur Garderobentür hineinsteckte, seinen bläulich-weißen, großen Kopf, dachte sie an den Rittersporn, den sie Izzy aufs Grab gesetzt hatte, ihre Finger wie Wurzeln in die Erde geflochten. "Wir haben Sekt," sagte Manasse, "Champagner, Dröhnung!" Der Rittersporn war ein häufiges Ackerunkraut, darum hatte sie ihn ausgesucht. Hinter Izzys Grab, hinter dem Rittersporn, stand demonstrativ eine Zypresse. Wer hatte noch ständig Zypressen gemalt? "Was sagt dir der Name Rittersporn?" fragte sie Manasse, und er zwinkerte ihr zu: "Du und deine versauten Witze, Verna!"
"Rittersporn," sagte sie verträumt, "enthält ein Alkaloid, das man früher zu Heilzwecken bei Wunden verwendete." Manasse sagte: "Ah ja," und schloss die Tür. Rittersporn, dachte sie. Consolida regalis. Wird von Hummeln und Tagfaltern bestäubt. Izzy Stern wird von Hummeln und Tagfaltern bestäubt. Seine Knochen, ein schwach leuchtender Himmel, der Rittersporn, die Zypresse, Farben wie Taubenfedern, ein Scherenschnitt, Blut, und darüber und darunter tausend Tagfalter. "Das ist die Liebe", rezitierte sie laut, "und was davon geblieben ist. Dieses langsame, gedämpfte Saxophon aus einem Fenster im Winter." Es war ein verdammtes Scheiß-Gedicht. Kein Wunder, es war von ihr. Du bist eine feste Freundin des Schmerzes, Verna, sagte Izzy mit seiner toten Stimme. Ja, das bist du, Schätzchen, tatsächlich!

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© 01.07.2000