Linda Stift, Wien (A)

Linda Stift wurde 1969 in Wagna (Steiermark) geboren, wo sie auch lebt. Die Österreicherin wurde von Karin Fleischanderl zur Teilnahme am Bewerb vorgeschlagen.

 

Download des Textes
Word-Format (*.doc)
PDF-Format (*.pdf)

 

Info über die Autorin
Videoporträt

 

TDDL_2009_banner_beige_0: descriptionTDDL_2009_banner_beige_0: description

    

Die Welt der schönen Dinge

Ein schmaler Quader aus Banknoten wechselte zur blauen Stunde den Besitzer, und wir durften in einen Lastwagen steigen, dessen Laderampe hinter uns zugeschlagen und verriegelt wurde. Zuvor hatten wir in knappen englischen Worten Anweisungen bekommen, dass wir nun die Mobiltelefone ausschalten sollten und wie wir uns in diesem oder jenem Fall verhalten mussten, dann wünschte uns der Mann viel Glück, in unserer Sprache. Er sagte es so leise, dass man ihn kaum verstand. Es klang beinahe so, als redete er zu sich selbst. Das schien er bemerkt zu haben, denn er setzte ein „Good Luck“ nach, laut und deutlich diesmal.

Wir saßen auf Holzpritschen, die seitlich angebracht waren. Es roch nach ungeputztem Abort. Wir zogen die Knie an die Brust und warteten. Männer, Frauen. Wie viele? Wir zählten nicht durch, der Mann hatte keinen Appell durchgeführt. So blieb unsere Anzahl ungewiss. Kein Lichtstrahl drang zu uns durch. Ein Kramen und Rascheln begann. Einer nach dem anderen holten wir unsere Taschenlampen aus den Rucksäcken, den neuen, aus bunten Kunststoffen, die wir für diese Reise extra besorgt hatten. Tagelang waren wir auf der Suche gewesen nach dem Gepäckstück, mit dem wir das neue Land betreten würden. Wir wollten keinen dahergelaufenen Eindruck machen, das Gepäckstück sollte zweckmäßig und hübsch sein, die richtige Größe haben, wir wollten keines, das aussah, als hätten es schon unsere Großväter benutzt.

Wir hielten die Taschenlampen auf den Boden gerichtet, warteten. Niemand sprach. Ein gelegentliches Schniefen war zu hören oder ein Räuspern. Jemand seufzte, und einem anderen entfuhr ein Grunzen, dem verlegene Stille folgte, weil alle ihre Körpergeräusche unterdrückten. Eine Tür wurde zugeschlagen. Der Wagen fuhr los. Nun kam Bewegung in uns. Obwohl man ohne weiteres aufrecht hätte stehen können, gingen wir gebückt, um das Schlingern und Schaukeln des Wagens auszugleichen, und redeten durcheinander. Wir leuchteten in die Ecken, leere Säcke und Dosen lagen herum, zerdrücktes Papier und verschimmelte Essensreste. Ein Satz Reifen war an der Fahrerseite befestigt, wir fanden auch zwei Metallkübel, die innen teilweise braun verkrustet und rostig waren. Die Ursache des Fäkaliengestanks. Wir räumten den Müll und die Kübel unter die Bänke. Die Kübel stellten wir verkehrt herum hin, hofften, dass sich der Mief verflüchtigen würde. Wir machten es uns gemütlich, so gut es ging. Das Essen wurde ausgepackt und zwischen den Knien auf Zeitungen gelegt, die wir rasch noch gekauft aber nicht mehr gelesen hatten. Höchstens noch einen Blick in das Horoskop geworfen und es gleich wieder vergessen. Wir hatten ähnliche Proviantpakete mit, tauschten dennoch Salami gegen geräucherten Schinken und Ziegen- gegen Schafskäse, eine vorsichtige, kleinlaute Picknickstimmung griff um sich. Zum Trinken gab es Wasser und Schnaps, kein Bier, da musste man zu oft urinieren. Die unvermeidliche Benutzung der Kübel wollten wir so lange wie möglich hinauszögern. Es war heiß und stickig. Später wurde es ausgelassener, der Schnaps lockerte die Beklemmung, aber wie im Wirtshaus ging es noch lange nicht zu. Wir rauchten nicht. Wir sprachen nicht von der Vergangenheit, nur von der Zukunft, die wir vorfinden würden, wieviel Geld wir verdienen könnten, in welch riesigen Wohnungen wir bald leben sollten, oder in welch kleinen, aber adretten Zimmern, wenn wir jeden Cent sparen wollten. Welche Ausbildungen wir machen und welche Berufe wir ergreifen könnten. Warum nicht auch studieren? Medizin. Arzt kann man überall sein. Nur die Sprache schnell lernen. Wer die Sprache des Landes spricht, hat schon gewonnen. Die schönen Träume schwebten wie Seifenblasen aus unseren Mündern. Dann, wenn wir genug gespart hatten, würden wir zurückkommen, mit dem eigenen Auto, eine Praxis eröffnen, oder ein Haus bauen, an der Küste vielleicht, und warum nicht gar ein Hotel errichten? Der Sonnenhunger des neuen Landes war groß, denn sie hatten dort kein eigenes Meer, nur Berge. Und sie wollten unbedingt ans Meer. Sogar im Winter unternahmen sie Reisen an weit entfernte Ozeanstrände, um sich in den heißen Sand oder auf die runden Kiesel zu legen. Sie ließen sich von der Sonne einkochen, als gäbe es kein Morgen. Selbst nach dem Mittagessen gönnten sie sich keine Pause, lagen schon wieder mit aufgetriebenem Bauch und gebeizt wie Grillfleisch auf den gestreiften Liegen und richteten alle halben Stunden ihr Sonnenbett nach dem Sonnenstand aus. Eine kleine Frühstückspension, die konnte man später ausbauen. Was braucht man schon am Anfang. Weiße Handtücher und einen Sack voller Duschgelfläschchen. Starken Kaffee und süße Schnecken. Es war alles so leicht, hatte man nur ein wenig Geld auf der Seite. Anfangskapital, das war das Zauberwort, und schnelle Kredite. Unsere Banken, die sie ja schon aufgekauft hatten, würden mit Begeisterung in uns investieren. Mit solchen und ähnlichen Worten jonglierten wir und sahen uns bereits als Hoteliers im feinen Anzug oder Kostüm, die abends ihr Gold in den Safe schaufelten. An die Wirtschaftskrise dachten wir keine Sekunde. Daran, dass man uns vielleicht gar nicht brauchen konnte. Für uns gibt es immer Arbeit. Wir sind uns für nichts zu schade, wir sind gut ausgebildet, wir verkaufen unsere Arbeitskraft billig und werden deshalb den Einheimischen vorgezogen.

Allmählich verstummte der eine und die andere. Die Kübel wurden hervorgeholt, wir hatten Tränen in den Augen vor Scham. Wir hassten das laute Prasseln unseres Urinstrahls, nur Männern ist so etwas egal. Wir konnten uns anstrengen wie wir wollten und die Zähne zusammenbeißen, nur um kein Prasselgeräusch hervorzubringen, es war hoffnungslos. Zumal wir gleichzeitig die Schaukelbewegungen des Wagens mit Füßen und Oberschenkeln ausgleichen mussten, damit nichts daneben ging. Und ganz abgesehen von der peinlichen Körperhaltung, die wir dabei einnehmen mussten, vor den Augen fremder Männer.

Wir hingegen sind daran gewöhnt, halböffentlich und unter unseresgleichen zu urinieren. Wir finden nichts dabei. Im Gegenteil. Wir machen uns einen Spaß daraus, veranstalten kleine Wettbewerbe. Wir treten die Flucht nach vorne an, um das Gesicht zu wahren. Wir sagten den Frauen, sie sollten sich keine grauen Haare wachsen lassen. Die Natur verlange ihr Recht, und wir drehten ihnen garantiert keinen Strick daraus. Außerdem würden wir gar nicht hinsehen. Wenn es sie beruhigte, würden wir uns die Hände vor die Augen halten. Das taten wir auch, wobei manch einer zwischen den Fingern durchblinzelte. Das Prasselgeräusch vernahmen wir weiterhin ungefiltert, die Ohren konnten wir uns nicht zuhalten.

Wir vereinbarten, in Schichten zu schlafen. Denn wir konnten uns nicht alle gleichzeitig hinlegen, dafür war nicht genug Platz. Wir breiteten Gummimatten und Schlafsäcke am Boden aus, zwei oder drei legten sich verkrümmt auf die Bänke, wir übrigen blieben einfach sitzen, wir sanken in uns zusammen oder lehnten uns aufrecht gegen die Rückwand, den Körper wie auf einem großen Bett ausstreckend. Als ob wir an Haken hängen würden. Dann verloschen die Taschenlampen, nur noch Flüstern und Wispern, hastiges Schlucken, schließlich lautes Atmen, Schnarchen und Röcheln. Wir schliefen unruhig, warfen uns hin und her oder wurden hin und her geworfen von den Brems- und Beschleunigungsmanövern des Fahrers, stießen an andere Körper, die ebenso rastlos neben uns lagen. Wir streckten vorsichtig eine Hand aus, um ein Gesicht, um glatte, lockige, dichte oder feine Haare zu berühren. Wir lehnten den Kopf an eine Schulter. Jemand drückte seinen Körper an unseren Rücken, umschlang uns mit beiden Armen und legte ein Bein um unsere Hüften. Wir blieben ruhig liegen. Wir richteten uns ein in der Umarmung. Wir drehten uns um. Wir sackten zur Seite. Wir rutschten weg, schoben Arme und Beine zurück, mochten niemanden spüren. Wir waren wie auf die Schlafsäcke genagelt, die Arme an die Seiten gepresst, um an niemanden zu stoßen. Die schlaflosen Augen an die Dunkelheit geheftet, hielten wir den Atem an und machten uns so schmal wie möglich.

Die Schnäpse hatten die Kehlen ausgetrocknet. Als ob uns Löschpapier am Gaumen klebte, den Mund halb geöffnet, saßen und lagen wir da, die Nasenschleimhäute geschwollen, und dachten an jene, die wir zurückgelassen hatten, wie sie uns willkommen heißen würden nach unserer Rückkehr, mit den Taschen voller Geld und nützlichem Wissen. Wie sie uns bewundernde Blicke zuwerfen würden und uns schüchtern nach unserer Meinung fragen. Wie sie uns auf einmal respektieren würden. Wie die Familienklüngelei an uns abprallen würde, weil wir nun etwas zu sagen hatten. Manchmal jedoch wurden die Rückkehrer schlecht empfangen, wurde den Töchtern von den Vätern das Haus verboten, weil sie unter dem dringenden Verdacht standen, sich im fremden Land prostituiert zu haben. Weil die Väter sich nichts anderes vorstellen konnten. Die Söhne bekamen von ihren Müttern Ohrfeigen links und rechts, weil sie ihnen Kummer bereitet hatten, weil die Söhne die Mütter beinahe ins Grab gebracht hatten. Aber besser Ohrfeigen als Verstoßung. Uns würde das nicht passieren, unsere Familien waren aufgeschlossen. Warum wir sie verließen? Weil wir verfolgt, verstümmelt und getötet wurden, wegen Geld und Macht, wegen unserer Religion, weil wir einer höheren Idee geopfert wurden oder der Tradition. Weil so und so viele schon vor uns gegangen waren. Weil wir nicht die letzten sein würden. Weil wir ein besseres Leben wollten. Vielleicht einfach nur, weil wir ein anderes Leben wollten. Ein Leben mit Möglichkeiten. Wir waren angesprochen worden von Leuten, die erzählten, ein Paradies warte auf einen und man wäre verrückt, es nicht zu betreten. Sie versprachen das Blaue vom Himmel, und wer wollte das nicht einmal mit eigenen Augen sehen, das Blaue vom Himmel, hier gab es nur Graues vom Himmel, davon hatten wir genug. Sie offerierten ein Full Package mit hundertprozentiger Erfolgsgarantie, man müsse sich um nichts kümmern, zahle so und so viel und sie schafften einen ins gewünschte Land. So einfach war das. Wie im Reisebüro. Oder wir hatten selbst den Kontakt zu diesen Mittelsmännern gesucht, wir wussten schon, dass anderswo der Himmel auch einmal grau sein konnte. Dass man sich selbst um sein Paradies kümmern musste.

Vielleicht würden wir jemanden nach Hause mitbringen, zum Heiraten. Man konnte aber auch im neuen Land heiraten, es gab angeblich Personen, die sich zur Verfügung stellten, für Geld natürlich, dann war man sogleich anerkannt und bekam die notwendigen Papiere, um bleiben zu dürfen. Aber das wollten wir nicht. Wir wollten aus Liebe heiraten. Wir wollten jemanden heiraten, den wir uns selbst ausgesucht hatten. Nicht unsere Eltern oder irgendwelche Halsabschneider von Heiratsvermittlern. Wir träumten von Hochzeiten, die wochenlang, monatelang, jahrelang dauerten, wo wir mit Reis und Rosenblüten überschüttet wurden, wo die Gäste unter dem Tisch schliefen und wir als Braut und Bräutigam schon längst über alle Berge und Meere waren. Wo gebratene Schweine aufgetragen wurden und gebackene Fische und gefülltes Geflügel und Würste und traditionelles Schmalzgebäck süß und salzig und Kuchen und Torten und Konfekt, bis allen übel war und pechschwarzer Kaffee verteilt werden musste. Wo die Hochzeitstorte Stockwerke hatte und der Zuckerguss zwischen den Zähnen knirschte. Wo die Mütter sich die Haare rauften und die Väter traurige Lieder sangen. Wo die Jungen tanzten und die Alten kicherten. Und ein besonders Schlauer auf einem Schwein ritt. Obwohl wir gerade das Land hinter uns ließen, in dem es vielleicht früher solche Hochzeiten gegeben haben mag - niemand von uns war je auf einem derartigen Fest gewesen -, ersehnten wir als künftige Heimkehrer nichts anderes.

Als wir aufwachten, schalteten wir rasch die Taschenlampen ein, sahen mit verquollenen Augen auf die Uhren. Es war früher Vormittag, Zeit zum Aufstehen. Und Zeit zum Hinlegen. Wir wollten nicht sofort aufstehen, nur eine Minute noch, wir räkelten und wälzten uns, während schon ungeduldig mit den Füßen gescharrt wurde. Tritte wurden ausgeteilt, spielerisch oder weniger spielerisch, schließlich kletterten wir auf die Bänke und pressten die Fäuste gegen die Augen. Wir streckten uns auf den verschwitzten Schlafsäcken aus. Wir schliefen aber nicht, sondern stöhnten laut und rieben uns theatralisch die tauben Glieder. Thermoskannen mit Kaffee und Tee wurden aus den Rucksäcken gezogen, die Kübel wieder hervorgeholt. Immer noch verlegen, aber ohne Tränen immerhin, ließen wir es prasseln. Das andere hielten wir zurück. Undenkbar. Lieber sich Verstopfung einhandeln.

Mit dem Scheißen taten wir uns schwerer als mit dem Pinkeln. Wer konnte, verkniff es sich, aber das gelang nicht jedem. Wir mussten zudem erst den Inhalt beider Kübel in einen leeren, daran hatte  am Vorabend keiner gedacht, dass man einen Kübel für Pisse, den anderen für Scheiße reservierte. Der Urinkübel war bereits ziemlich voll und schwappte bei jeder Bremsung über. Wir wickelten einen alten Fetzen, den wir gefunden hatten, wie einen Schal um ihn herum. Wir legten die Säcke aus. Aber lange würde das nicht funktionieren. Die Kübel mussten bald geleert werden. Wir klopften mit den Fäusten gegen die Fahrerseite, obwohl man uns gesagt hatte, wir durften nicht klopfen, niemals, unter keinen Umständen. Dem Fahrer konnte dieses Problem nicht unbekannt sein. Wir klopften einige Minuten lang, dann klopfte der Fahrer zurück. Die Kübel, die Kübel, riefen wir und klopften weiter. Der Fahrer antwortete, wir verstanden ihn aber nicht. Er hielt auch den Wagen nicht an. Resigniert kehrten wir auf unsere Plätze zurück. Irgendwann musste er stehenbleiben, er hatte sicher keinen Pisskübel auf dem Beifahrersitz.

Wir hatten Verwandte im neuen Land. Auf diese setzten wir unsere Hoffnung. Was hatten sie nicht für Briefe geschrieben, die Verwandten. Tag für Tag hatten wir auf den Briefträger gewartet, um diese Briefe in den knisternden Kuverts in Empfang zu nehmen. Mit bunten Briefmarken und Luftpostaufklebern, vor Wochen abgestempelt. Restaurants, Lebensmittelgeschäfte, Computerfirmen und Maßschneidereien hatten sie aufgezogen, die Verwandten, sie arbeiteten Tag und Nacht, das Haus mit Garten und Swimmingpool, in dem sie wohnten, war so groß, dass man darin Rollerskates fahren konnte. Sie hatten Dienstboten angestellt aus fernen Inselstaaten. Wir wären jederzeit willkommen, ihr Haus stünde uns selbstverständlich offen. Gastfreundschaft ginge über alles, Blut sei dicker als Wasser. Das und vieles mehr stand in den Briefen, und wir nahmen es für bare Münze. Es klang nach Amerika, nach den Vereinigten Staaten, und gar nicht nach Europa, aber mit dieser Währung wollten wir auch handeln, wenn sie in Europa zu haben war.

Später, wenn wir uns etwas aufgebaut hatten und vielleicht doch nicht zurückwollten, weil wir uns an das neue Land gewöhnt hatten, weil die Traditionen zweifelhaft und die alte Sprache brüchig geworden waren, und Eltern und Großeltern nur noch als alterslose Schemen durch die frisch frisierten Köpfe spukten, würden wir diese Briefe schreiben, würden die jüngeren Schwestern und Brüder auf unsere Nachrichten warten. Wir würden aber gar keine Briefe schreiben, sondern E-Mails. Dann müssten sie nicht auf den Briefträger warten, der vielleicht ohnehin ein Spitzel gewesen war. Wussten wir denn, ob damals alle Briefe angekommen waren? Ob er sie nicht von vorne bis hinten gelesen hatte, mit zitternden Fingern, oder im Gegenteil, ungerührt und desinteressiert, bevor er sie uns brachte? Ob er die Briefe nicht kopiert und archiviert hatte? Oder auswendig gelernt, und später zu Hause auf Band gesprochen? Wir würden es nicht mehr erfahren. Wir würden nicht zurück, sondern nach vorne schauen. Ein Zurück gab es nicht mehr. Wir würden den jüngeren Schwestern und Brüdern schreiben, dass sie nachkommen sollten, hier gebe es genug für alle, sie könnten bei uns wohnen. Bis dahin würden wir ihnen Schokolade mit Nüssen schicken, Zeitschriften, Bücher, DVDs, coole Kleidung. Geld würden wir schicken. Aber nicht auf dem Postweg, um dem Briefträger, der vielleicht ganz und gar unschuldig gewesen war, ein Schnippchen zu schlagen.

 

Irgendwann blieb der Wagen stehen, mit einem Ruck, der die Zähne gegeneinander schlagen ließ und uns aus den schönen Bildern riss, wir vernahmen ein dumpfes Brausen, vermutlich standen wir am Rande einer Autobahn oder Schnellstraße. Eine Tür knallte, der Fahrer war ausgestiegen, unsere Rampe wurde nicht geöffnet. Wir sprangen auf und begannen zu klopfen. Eine Stimme aus dem Dunkeln sagte, dass es jetzt vier Uhr in der Früh sei, wir wussten gar nicht, wann wir ankommen sollten, niemand hatte es uns mitgeteilt. Das könne man nicht so genau sagen, hatte es geheißen. Wir hörten auf zu klopfen, es war sinnlos. Der Fahrer musste sich längst vom Wagen entfernt haben. Die Taschenlampen schalteten wir nicht ein, um Batterien zu sparen. Wir warteten mit angespannten Muskeln und gespitzten Ohren. Niemand verwendete die Unterbrechung, um einen der Kübel aufzusuchen, obwohl die Benutzung einfacher gewesen wäre als während der Fahrt. Jeden Moment konnte die Tür geöffnet werden, hofften wir. Und wir wollten keinesfalls mit heruntergelassenen Hosen angetroffen werden. Ohne Fahrer fühlten wir uns elend, was, wenn er nicht wiederkam? Wie oft hatte man nicht schon gehört von Lastwagen, die seit Tagen herrenlos herumstanden, und in denen sich die verwesenden Leichen türmten. Erstickt oder am Hitzeschlag gestorben. Alte, Junge, Mütter mit ihren Babies an der Brust. Verhungert, verdurstet, mit Hämatomen an Armen und Beinen. Nun, wir würden uns wohl befreien können, oder nicht? Es durfte nicht so schwer sein, die Tür von innen aufzubrechen. Wir waren jung und stark. Und hatten wir nicht zwischen dem Satz Reifen ein Stemmeisen gesehen? Wir tasteten nach unseren Taschenmessern und Haarnadeln.

Er kam wieder. Nach einer quälend langen halben Stunde, während der wir in Gedanken unser Begräbnis in der Heimat organisiert hatten, knallte er mit der Tür und fuhr weiter. Obwohl er uns nicht aussteigen hatte lassen, atmeten wir auf, freuten uns wie kleine Kinder, deren Mutter aus dem Blickfeld geraten war und unverhofft an anderer Stelle wieder auftauchte. Wir vergaßen die Trauerreden, die verkrampften Glieder, den inzwischen bestialischen Gestank, und ließen uns von der Bewegung des Wagens wieder in die Welt der schönen Dinge schaukeln.

 

Als die Klappe geöffnet wurde, rollte eine Masse frischer Luft herein, die von unseren Lungen gierig eingesaugt wurde und Schwindelgefühle hervorrief. Ein Mann wedelte mit der Hand, raus, raus. Wir rafften alles zusammen, die neuen Rucksäcke waren schon von schwarzen Schlieren gezeichnet, und krochen benommen aus dem Wagen. Wir konnten uns kaum aufrecht halten. Ein schmaler Neumond war in die Finsternis geschnitten. Der Fahrer stand neben seiner Tür, rauchte eine Zigarette und nickte anerkennend. Das Nicken galt nicht uns, sondern ihm selbst. Seine Arbeit war beendet, er hatte uns ohne Zwischenfälle am gewünschten Ort abgeliefert, er war zufrieden mit sich. Er war zufrieden mit der Bezahlung. Er zog noch einmal an der Zigarette, sie brannte bis zum Filter hinunter. Der Fahrer schnippte den Filter durch die Luft, winkte und stieg in den Wagen. Er startete den Motor und fuhr davon. Wir sahen ihm nach, mit müden Blicken. Wir hatten kein Wort mit ihm gewechselt, er hatte eine Menge Geld von uns kassiert, er hatte uns dunsten lassen wie Vieh, dennoch hegten wir keinen Groll gegen ihn. Im Gegenteil, wir waren ihm dankbar.

Jetzt standen wir allein mit dem Mann, der ebenfalls noch kein Wort zu uns gesagt hatte, am Rande eines Waldes. Er verteilte kopierte Zettel, auf denen der Weg eingezeichnet war, den wir zu Fuß zurücklegen mussten. An der Stelle, an der wir uns befanden, prangte ein großes Kreuz, an jener Stelle, die wir erreichen mussten, ein Kreis, der Abstand dazwischen war mit gestrichelten Pfeilen markiert. Wir sollten in Zweier- und Dreiergruppen zügig losgehen, mit Abständen von jeweils zehn Minuten, auf der anderen Seite, an der Stelle mit dem Kreis, warte ein Landsmann von uns, erfuhren wir. Wir würden - er schüttelte sein Handgelenk, wobei sein Lederjackenärmel nach oben rutschte und eine Rolex mit goldglänzenden Metallgliedern zum Vorschein kam -, ungefähr eine Stunde brauchen, Taschenlampen durften wir keine einschalten, der Weg sei einfach, immer nur geradeaus, nicht zu laut sprechen sollten wir, am besten gar nicht. Er streckte den Arm mit der Rolex wie einen Wegweiser aus. Dann ließ er ihn sinken, die Uhr verschwand mit einem leisen Rieselgeräusch unter dem Ärmel, er wünschte uns „Good Luck“ und ging in die Gegenrichtung davon.

Wir blickten ihm nach, bis er von der Schwärze des Waldes verschluckt wurde, dann sahen wir auf die Zettel, dann in die Richtung, in die wir gehen sollten. Ratlos traten wir von einem Fuß auf den anderen. Vor fünfzehn Minuten waren wir noch im Wagen gesessen, in die Schlafsäcke gehüllt, hatten Schnaps getrunken und uns aneinander gelehnt, nun standen wir in irgendeinem Waldstück. Noch konnten wir umkehren. Wir konnten ein anderes Mal wiederkommen, wenn wir mehr Geld hatten, mehr Muskeln, mehr Sommersprossen. Warum waren wir eigentlich weggegangen? Wir konnten uns kaum an die Beweggründe erinnern.

Wir konnten uns nicht einigen, welche von uns als erste losgehen sollten. Niemand wollte den Anfang machen. Es bildeten sich nur zwei Gruppen, identisch mit jenen, die am Beginn am Boden geschlafen hatten und jenen, die auf den Holzpritschen gesessen waren. Ein langes Palaver begann, wir sprachen immer lauter und lauter, bis uns die Ohren dröhnten und wir erschöpft verstummten. Jemand sah auf die Uhr. Wir mussten uns endlich in Bewegung setzen. Mühsam lösten sich die ersten vier aus der Holzpritschengruppe und gingen in die Richtung, in welche der Mann gezeigt hatte. Wir drehten uns mehrmals um, machten das Victory-Zeichen, obwohl uns die Knie zitterten. Dann die zweite, dritte Gruppe, mit jeweils kürzeren Abständen als zehn Minuten. Das erschien uns zu lange, wir wollten nicht so weit voneinander entfernt sein. Es knackte und raschelte unter den Füßen, dünne Zweige schlugen in unsere Gesichter, unsichtbare Tiere stießen seltsame Laute aus. Und immer die Angst, wir würden schon beobachtet und bald schnappe die Falle zu. Schritt für Schritt drangen wir in die Finsternis vor, kämpften uns durch diese Natur, die uns von euch trennt. Wir waren Eindringlinge, und die Natur zeigte es uns. Sie sträubte und spreizte sich. Hatten wir anfangs noch gezögert und die Füße vorsichtig aufgesetzt, so stampften wir nun rücksichtslos mit unseren klobigen Turnschuhen in das Dickicht hinein, zur Strafe stolperten wir über Wurzeln und Baumstümpfe. Mit verstauchtem Knöchel humpelten wir vorwärts. Trafen wir auf welche vor uns, überholten wir sie, oder wir ließen uns ein Stück zurückfallen, dann gingen wir weiter, warteten nicht einmal fünf Minuten. Wir waren nur noch ein einziges lang auseinandergezogenes Band. Eine löchrige und undisziplinierte Menschenschlange wie vor der Kasse eines Supermarktes.

Mehr als eine Stunde war schon vergangen, wir stapften weiter im Wald umher, wussten nicht, ob die Richtung überhaupt noch stimmte. Wir bewegten uns langsamer vorwärts als zu Beginn. Weiter, weiter, zischten wir uns gegenseitig zu, wenn wir Anstalten machten, stehenzubleiben. Von einem auf uns wartenden Landsmann keine Spur.

Aus der Ferne erklang Hundegebell. Sehr leise noch, aber es kam näher. Wir gingen wieder schneller, die feuchte nächtliche Kälte drang durch unsere Kleider. Unsere Beine verfingen sich zwischen Stauden und Buschwerk. Wir schlugen der Länge nach hin und verloren die, die vor uns gegangen waren, aus den Augen. Die Hunde waren nun ganz in der Nähe, man hörte sie hecheln, man hörte, wie die Karabiner ihrer Leinen gegen die Halsbandringe klackten. Die Hunde mussten uns schon gerochen haben. Man hörte auch die Schritte der Hundeführer, es war ein Durcheinander von knackendem Holz und schleifendem Geäst. Nun vernahm man auch Stimmen. Stimmen, die auf einer fremden Sprache Befehle riefen. Stimmen, die schrien, weinerliche Stimmen, beherrschte Stimmen. Hundegebell. Ich blieb einfach liegen, auf dem modrigen Waldboden, legte den Kopf auf meine gekreuzten Arme und schloss die Augen. Irgendetwas Längliches mit Wimpern kroch über meine Hand. Ich erwartete jeden Moment, eine nasse Hundeschnauze oder einen kalten Gewehrlauf in meinem Nacken zu spüren.

Als ich die Augen öffnete, konnte ich gerade noch hören, wie jemand „Good Luck“ sagte, dann wurde eine Laderampe zugeschlagen. Kurz darauf begann es zu schlingern und zu schaukeln. Ich saß neben anderen Personen auf einer Holzpritsche. Kein Lichtstrahl drang zu uns durch. Es roch nach ungeputztem Abort. Taschenlampen leuchteten auf, das Essen wurde ausgepackt und zwischen den Knien auf Zeitungen gelegt, die rasch noch gekauft aber nicht mehr gelesen worden waren. Jemand zeigte mir mein Horoskop, aber ich vergaß es gleich wieder.

 

TDDL_2009_banner_beige_0: descriptionTDDL_2009_banner_beige_0: description