Heike Geißler, Leipzig (D)

Heike Geißler wurde 1977 in Riesa geboren und lebt in Leipzig. Geißler wurde zum Bewerb von Ursula März vorgeschlagen.


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Heike Geißler

Das luftige Leben


Nun war der Wechsel von der Haupt- zur Nebensaison vollzogen. Am Strand wurde der Seetang nicht mehr entfernt und nur die Abgehärtetsten wagten sich ins Wasser. Die Touristen, die noch im Ort waren, saßen in den Cafés und Restaurants oder stöberten in den Galerien und Andenkenläden.

Er hatte bereits ausgeatmet und sich darüber gefreut, nur noch eine Touristengruppe am Tag durch den Ort führen zu müssen und sich bis zum nächsten Saisonwechsel fühlen zu können, als befände er sich in einer Ewigkeit aus Erholung.

Auch hatte er den ersten Tag der neuen Saison genutzt, um sein Haus auf den Winter vorzubereiten. Er hatte die Fenster abgedichtet, Laub und Gestrüpp im Garten verbrannt. Auf der Leiter stehend hatte er den Strand und die Gegend bis zum Zeltplatz zur einen Seite und zur anderen bis zur Seebrücke eines Nachbarortes überblickt und sich schließlich dem Reetdach zugewendet, um es an einigen Stellen zu reparieren. Weil er konzentriert beschäftigt und noch nicht wieder daran gewöhnt war, über reichlich freie Zeit zu verfügen, stellte er seinen Gedanken nichts in den Weg und erschrak deshalb, als einer wie eine Klage tönte: dass er in diesem Jahr nicht umtriebig genug gewesen sei, dass sich deshalb keine Frau an seiner Seite befinde. Er merkte auf, stieg von der Leiter, ging durch den Garten, meinte nun, sich tatsächlich nach einer Frau zu sehnen und Abhilfe schaffen zu müssen.

Gierig wollte er seiner Erinnerung eine Frau entlocken, die dann wie ein blendender Einfall in seinen Kopf und besser noch in sein Herz hätte schnellen können, doch kam ihm keine der früheren Liebschaften überzeugend genug in den Sinn. Da war bisher keine Frau gewesen, mit der er einen Saisonwechsel überstanden hatte, keine, die er dauerhaft bei sich hatte haben wollen. Da war nur eine gewesen, die sich eine Weile um ihn bemühte, die für ihn zu jung war und einen ahnungslosen Spätsommer mit ihm verbrachte, bevor sie in eine größere Stadt zog.

Am frühen Abend zuckte er mit den Schultern und dachte, es sei nun eben wie es sei.

Er war also darauf vorbereitet gewesen, das Jahr demnächst mit einem Bedauern zu beenden, als er schließlich zu hoffen begann, dass aus einer Annäherung, die ins Stocken geraten war, doch noch etwas zu machen wäre. Denn nachdem er auf seinem Weg zur Arbeit wie immer durch die Schaufensterscheiben die Inhaberin der Boutique gegrüßt und dabei eine leichte Röte im Gesicht gespürt hatte, war sie herausgekommen, hatte ihn gerufen. Sie würde, hatte sie gesagt, nun gern die Einladung zum Essen annehmen.

Heike Geißler (Foto ORF/Johannes Puch)

Er verabredete sich mit ihr für den Abend und dachte sofort, dass es das Jahr nun doch noch gut mit ihm meine, dachte aus Überschwang, dass selbst sein Leben es gut mit ihm meine und dachte sich weit voraus. Er war, als er die Urlauber vor dem Tourismusbüro erreichte, gedanklich schon beim Einkauf, überlegte, mit welchem Gericht die Frau zu beeindrucken wäre. Während er den Urlaubern die Sehenswürdigkeiten erklärte, den Finger auf das älteste Reethaus des Ortes richtete, plante er das Aufräumen seines Hauses und worüber mit ihr zu reden wäre. Ohne, dass es ihm jemand anmerkte, saß er ihr gegenüber, saß bald neben ihr und freute sich auf die Vollendung eines Anfangs, der im Frühling gemacht worden war, als die Frau ihre Boutique im Ort eröffnet hatte. Er führte die Touristen zum Künstlerhof, ließ sie die Ateliers besichtigen und sammelte sie schneller als gewöhnlich, brachte sie zu einer Galerie, der letzten Station.

Mittlerweile, sagte er, ist die künstlerische Blüte des Ortes seit fast einem Jahrhundert vorbei. Die Maler, die jetzt hier leben, sind nicht so berühmt wie jene, die den Ort prägten. Aber, sagte er, was sie hier kaufen, ist nichts, was sie nach einer Weile nicht mehr sehen wollen. Der Galerist trat auf ihn und die Gruppe zu und nickte beipflichtend. Während er die Landschaftsmaler pries und schließlich dem Galeristen beim Einpacken der verkauften Bilder half, erreichte er das Ende eines schönen Abends und zugleich die Frage, ob der Abend in die Nacht hinein geleitet werden sollte und über diese hinaus oder ob es angebracht wäre, langsamer zu sein und die Frau vorerst erneut einzuladen.

Er führte die nun Küstenansichten tragenden Urlauber zurück zum Tourismusbüro und entschied, es seien die Jahre der Verabredungen vorbei. Etwas, dachte er, das so langsam beginnt wie dieses, kann und sollte fortgesetzt werden. Es ist Zeit, dachte er, denn er meinte, sich nur dann im besten Alter zu befinden, wenn er endlich eine Liebe im Leben hätte, die ihm glücklich zu sein schien.

Als die Frau vor seiner Tür stand, genierte er sich für seine Gedanken, für seine Eile, die ihn so weit voraus geschickt hatte. Er trat beiseite, um sie einzulassen, nahm ihr den Mantel ab und hatte schon Jahre mit ihr verbracht, hatte mit ihr bereits schwierigere Zeiten erlebt und sich nochmals für sie entschieden. Doch rief er sich zur Ordnung, bat die Frau an den Tisch, servierte das Essen. Wie es nun sei mit den Touristen, wie es also sei, in einem Ort zu leben, der im Sommer voller Menschen, im Winter aber kaum besucht war. Darüber sprach er mit ihr und bemerkte während des Redens, dass ihm nichts weiter einfiel, dass alles, was er hätte sagen und fragen können, durch seine nachmittäglichen Überlegungen bereits abgenutzt war. Mitten im Satz hielt er inne, legte das Besteck ab, ordnete mit dem Finger ein paar Gräten auf dem Tellerrand, bis die Blicke der Frau ihn wieder erreichten.

Lächelnd klopfte er sich gegen die Stirn, als ob dahinter ein Arbeits-verweigerer säße und griff zum Weinglas, um mit ihr anzustoßen. Er redete drauflos und hoffte dabei anzudeuten, dass ein kleiner Fehler aufgetreten sei, eine Art Missgeschick. Er glaubte, er spräche diskret und doch deutlich von seinen besten Intentionen und zugleich von seiner Überraschung darüber, nichts mehr vom Abend zu erwarten, kein Ziel mehr zu haben für sich und diese Frau. Er legte seine Hand auf ihre, spürte das Ausbreiten ihrer Hand unter seiner, lächelte erneut. Wir können, sagte er mit vom Wein schwerer Zunge, auch einfach aufhören.

Die Frau sah ihn zuerst fragend, dann verärgert an. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch schloss ihn sogleich. Als sie die Serviette vom Schoß nahm und aufstand, erhob er sich ebenso. Er war zu müde, sich angemessen zu verabschieden, aber war hellwach und erleichtert, als die Frau die Tür ins Schloss zog.

Wer weiß, begann er am nächsten Morgen seine Überlegung, ohne sie fortsetzen zu wollen. Er rührte im Kaffee und betrachtete von der Küche aus die Teller und Speisereste auf dem Wohnzimmertisch. In diesem Moment vernahm er bereits ein leises Wispern, ohne es besonders ernst zu nehmen. Nochmals legte er sich ins Bett, fiel in einen weiteren tiefen Schlaf und wusste beim Erwachen, obwohl ihm das merkwürdig erschien, wer da wisperte, wie der Wisperer zu benennen war.

Wo, fragte er. Ja, sagte er, herzlich willkommen. Natürlich, dachte er, weiß man, wenn man auf einen Engel stößt, wie sollte man das nicht wissen, man merkt es sofort und fragt sich nichts. Verwunderlich war ihm nur, dass er den Engel nicht sah, dass nun kein besonderes, für diese Bekanntschaft gemachtes Licht in sein Haus fiel, dass von nirgendwo her ein unerwartet fröhlicher Ton kam.

Heike Geißler (Foto ORF/Johannes Puch)

Aber, sagte er, ich bin ein schlechter Gastgeber, verzeih. Er stellte das schmutzige Geschirr in die Spüle, lüftete die Räume, bis der Geruch vom Essen und vom Parfüm der Frau abgezogen war, richtete die Vorhänge und ging mit weit geöffneten Armen durch das Haus, um dem Engel alles zu übergeben. Er spürte, wie sein Haus auf beste Art bezogen, wie es neu belebt wurde.

Wenngleich er nicht hätte sagen können, was der Engel wisperte, meinte er doch, etwas zu verstehen. Etwas zum Beispiel, das ihn amüsierte. Etwas auch, das ihn umsorgte und lockte, seinerseits zu umsorgen. Es kehrte, das merkte er am ersten Abend mit dem Engel, Wonne in sein Leben und Verbindlichkeit. Neben seinem Bett richtete er einen Schlafplatz aus zwei zusammengeschobenen Sesseln.

Wäre jemand zu ihm gekommen und hätte gesagt: Aber da ist nichts, du siehst nichts, du verliebst dich gerade in Luft!, hätte er abgewinkt und gesagt, dass dieses Nichts laut genug wispere und deutlich genug ihn sich zugehörig fühlen lasse.

Alle Zeit der Welt, rief er in die Räume des Hauses und wurde nach einer Woche neugieriger zu erfahren, was genau es mit dem Engel auf sich hatte, wie und wann er sich zeigen wollte, wie alles dann werden würde. Vielleicht eine Ehe, sagte er dem Engel, damit wir nicht zu endlich sind. Doch klopfte er sich sofort auf den Mund. Was weiß ich schon von dir, sagte er, weiß ja gerade erst, dass bei auflandigem Wind ein Pfeifen durch das Reetdach dringt, das deinem Wispern ähnlich ist.

Er ging, das dachte er, zu jedermanns Freude durch den Ort. Es müsse schön sein, ihn zu betrachten, ihn so angereichert zu sehen, meinte er und nahm an, dies sei eine Zeit der Freude für alle. Deshalb unterbrach er seinen Weg zur Arbeit, betrat die Boutique. Ent-schuldigung, rief er in den hinteren Teil des Ladens, wo die Frau Hemden in ein Regal sortierte. Ich war, setzte er fort, etwas durcheinander. Aha, sagte sie und drehte sich weg. Entschuldigung, wiederholte er, wartete auf eine Reaktion, darauf, nun sagen zu können, wie sehr er sich freue, sie nun nochmals und diesmal freundschaftlich kennenzulernen, doch wandte sie sich ihm nicht mehr zu.

Heike Geißler (Foto ORF/Johannes Puch)

Ohnehin, dachte er vor dem Geschäft, hat sie ein eigenes Haus. Wie hätte man das entscheiden sollen, wer seines aufgibt. Und sie hat, hielt er fest, ein neueres und viel eleganteres Haus und hätte sich vermutlich bald nach jemandem umgesehen, der Spannenderes tut, als Touristen herumzuführen und die Häuser zu zeigen, in denen Landschaftsmaler lebten oder leben. Ja, sagte er zum Engel, es ist schade, dass unserer Geschichte eine kleine Enttäuschung vorausgeht.

Er saß dennoch morgens mit dem Eindruck, sich in bester Zweisamkeit zu befinden am Frühstückstisch und ließ von der Freude nicht ab, als sich in der zweiten Woche Ungeduld hinzugesellte. Wie schön es nun wäre, dachte er häufiger, wenn wir einander offensichtlich näher wären. Er machte nach der Arbeit lange Spaziergänge, blickte dabei manchmal, weil ihm nichts Besseres einfiel, in den Himmel. Er übte einen sanften Blick und einen weichen Gang. Insgeheim aber wollte er den Engel aus seinem Versteck klauben, wollte ihm abverlangen, sich nicht so zu haben, sich endlich zu zeigen.

Denn während er noch sein Glück feierte und geheimnisvoll tat, wenn ihn die Kollegen fragten, warum er derart lächele, bemerkte er bereits, dass das Wispern seltener und leiser wurde. Er hatte, um nichts zu verwechseln, die Geräusche seines Hauses genau untersucht. Er war langsam und schnell über Dielen gegangen, hatte sich jedes Knarren eingeprägt, mit dem Bettzeug geraschelt und schließlich eine Spitzfindigkeit ersonnen: dass die Eifersucht womöglich auch ein Problem der Engel sei.

Am nächsten Tag war er deshalb erneut zur Boutique gegangen, hatte den Engel eindringlich aufgefordert, mit ihm zu kommen, damit er erfahren könne, wie unangebracht die Eifersucht sei.

Er fand die Frau im Gespräch mit einem Kunden, sah sie, als sie ihn bemerkte, freundlich an. Aber nichts, flüsterte er zum Engel, das etwas bedeutete, nichts. Um nicht herumzustehen, setzte er sich in einen Ledersessel, blätterte, ohne sie aus den Augen zu lassen, in einem Modemagazin. Doch je länger er blätterte und je länger er sie beim Gespräch mit dem Kunden beobachtete, desto abgewetzter wähnte er sich. Er nahm sie noch fester in den Blick, zupfte Fussel von seinem Pullover, stand schließlich auf und verließ grußlos das Geschäft.

Siehst du, sagte er dem Engel, wie ich versprach, da ist nichts. Er ging weiter, lauerte auf eine Regung des Engels. Ja, sagte er, da waren sicher einige Frauen, aber die waren eben, und jetzt bist du. Es kommt doch, sagte er, niemand in meinem Alter wie bei einem ersten Mal daher. Genau genommen, dachte er, komme ich aber wie bei einem ersten Mal daher.

Leicht unwirsch begrüßte er an diesem Tag die Urlauber. Er hätte es vorgezogen, weiter mit dem Engel zu reden, dem Engel zuzusprechen, sich zu zeigen. Gut, sagte er leise, reden wir später weiter. Während der Führung erübrigte sich dieses Vorhaben jedoch mitten im Satz. Es schoss ihm durch den Kopf, dass der Engel bereits vor einigen Tagen gegangen sein könnte. Er stockte, ließ einige Sätze aus, weil er sie, wenngleich er sie nahezu täglich sagte, vergessen hatte. Er führte die Urlauber zu einem Souvenirladen und zog sich kurz auf die andere Straßenseite zurück. Zwischen parkenden Autos stürzte etwas in ihm, das merkte er und dachte, so ein Sturz hat immer Recht. Mit Mühe setzte er die Führung fort, ließ sich nichts anmerken, scherzte an den üblichen Stellen.

Später unterbrach er seinen Heimweg und machte sich auf zum Strand. Dort ging er in entgegengesetzter Richtung weiter. Die linke Hand hielt er dabei wie eine Sänfte. Bitteschön, sagte er, hier ist Platz für dich.

Wenngleich er auf der Höhe des Ortsausgangs bereits durchfroren und von der Wachsamkeit der letzten Tage müde war, widerstand er der Verlockung, in sein Stammlokal zu gehen. Er setzte seine Schritte dicht am Wasser, kümmerte sich wenig um die Wellen, die seine Schuhe erreichten und umspülten.

Er ging, das wusste er nun, als die nach oben gezogenen Schultern schmerzten, wie ein Verschmähter und wollte nicht glauben, dass er verschmäht sein könnte. Ein Anfang, sagte er, geschieht doch nicht aus Spaß. Er hielt Ausschau und fragte sich, ob der Engel nicht irgendwo in einer Ritze oder hinter Strandgut kauerte und es nicht wagte, sich zu melden, weil er sich wegen seines Rückzugs, seines Schweigens schämte. Unsinn wäre das, sagte er, großer Unsinn, sich so zu verlieren. Er ging, bis es dunkel wurde, bis er an drei Nachbarorten vorbeigekommen war, und schimpfte auf den bedeckten Himmel, der kein Licht zu ihm an den Strand ließ. Ja, sagte er, wie spärlich mir das Passende ins Leben gestreut ist. Das ist, sagte er, vielleicht ein Geiz des Himmels. Aber er hütete seine Zunge, denn er glaubte, es sei die Zuversicht zu wahren und auch die Geduld. Alles, dachte er, ist jetzt eventuell möglich. Also streckte er sich und war seit Stunden nicht so aufrecht gegangen und rieb die Hände, um sie zu wärmen.

Als er den nächsten Ort erreichte, stieg er die morsche und abendlich feuchte Treppe hinauf, fand sich vor einem Feld wieder. An dessen anderem Ende begann der Ort. Er drehte sich zum Wasser, blickte zurück in Richtung seines Hauses. Er war zu erschöpft vom langen Spaziergang, um den Heimweg in Angriff zu nehmen. Von hier aus, dachte er, nun einen Kundschafter losschicken, der rasend schnell mein Haus erreichte und lauschte, ob mein Engel sich dort befindet.

Heike Geißler (Foto ORF/Johannes Puch)

Normalerweise benötigte er sehr wenig Geld für ungeplante Ereignisse. Nun aber wollte er nicht sparsam sein, wollte den Engel mit etwas Luxus locken. Er ging vorbei an einigen Hotels, die ihm allzu teuer wirkten, sah Menschen in den Restaurants zu Abend essen, bis er in einer Seitenstraße ein Hotel fand, das ihm bezahlbar erschien. Jedoch, erfuhr er gleich mit einem Lächeln von der Empfangsdame, hatte es zu dem Preis, den er sich vorstellte, kein Doppelzimmer zu bieten. Gut, sagte er, nahm ein Einzelzimmer, doch kam, kaum dass er es aufgeschlossen und den Kopf hineingereckt hatte, eilig zurück zur Rezeption. Denn nur ein Einzelzimmer zu nehmen, wäre, dachte er, Betrug.

Im neuen Zimmer verharrte er eine Weile und hatte den Eindruck, es sei gerade noch jemand im Zimmer gewesen. Also bückte er sich, hob die Tagesdecke und blickte unter das Bett, öffnete den Schrank und die Badezimmertür. Da ist, stellte er fest, niemand. Da ist jetzt niemand im Zimmer außer mir. Es fiel ihm leicht, sich ein durch das Zimmer huschendes Lachen zu denken, das sich auf ihn würfe und widerlegend zu ihm sagte: Ich bin ja da, ich bin das ja.

Er setzte sich schließlich, streckte die Beine weit von sich. Er tat unbedarft und starrte, als ob ihn das wilde Muster des Vorhangs interessierte, bis es ihn schließlich erboste. Nach wie vor nicht wissend, ob der Engel nun noch oder wieder in seiner Nähe war oder nicht, ging er aus dem Hotel und betrat kurz darauf die erstbeste Kneipe.

Er bestellte sich einen Schnaps, ein Bier, blickte in den Spiegel hinter den Flaschen und sah sich beim Betrinken zu, beim Reden mit dem Wirt. Wie nötig nämlich so ein Engel ist, sagte er. Immerzu, verstehen Sie. Er ließ sich nicht aus den Augen, als er fragte und schon wusste, dass dies eine trunkene, nicht zu beantwortende Frage war, wo nun der beste Platz wäre, wo sich alle Angelegenheiten am besten fügen ließen. Im Spiegel sah er, wie der Wirt ihm einen zur Besänftigung bestimmten Abschiedsschnaps servierte. Er legte den Kopf auf den Tresen, um ihn zu kühlen und torkelte über einen Umweg zurück ins Hotel. Es wäre, sagte er zu dem Engel, einfach an der Zeit, dass du dich meldetest.

Am Morgen hatte er nur noch einige kleine Ideen, nannte sie Hoffnungen, wischte sich im nächsten Augenblick über die Stirn, um die Nachwirkungen der Nacht zu besänftigen. Jetzt nämlich schob ihn das Alleinsein aus dem Hotel, auf die Straße. Er wünschte sich gnädige Spiegelungen, die ihm den Engel mit irgendeinem Antlitz und in irgendeiner Größe zur Seite stellten. Als er die Bushaltestelle sah, erhöhte er das Tempo. Er entschied zurückzufahren. Schon gut, sagte er, zu viel Schnaps, zu wenig Schlaf. Alles, sagte er, wird sich finden, nur muss ich zum Anfang zurück. Den Anfang wiederholen und achtsam sein. Ihm schwindelte beim Gehen. Wie, dachte er, wäre es nun möglich, den Engel an meine Seite zu locken?

Im morgendlich dämmrigen Ort stand er neben etlichen Schulkindern an der Haltestelle, hatte sich von ihnen abgewendet. Der Bus hatte Verspätung, und die Kinder malten sich aus, dass er einen Zusammenstoß gehabt haben könnte. Sie fragten sich, wen aus dem Nachbarort es erwischen sollte, wen nicht. Ihm zitterte derweil das Kinn. Er fürchtete sich vor der Rückkehr in sein Haus. Das wird, dachte er, nicht wieder gut. Das ist nun schon zu schwer geworden. Das ist alles zu schnell zu schwer geworden.

Mit zusammengekniffenen Augen sah er den Bus in den Ort einfahren. Die Kinder drängten sich um ihn, stellten sich dicht an die Straße, drohten, einander unter den Bus zu werfen. Nicht doch, sagte er, senkte sofort den Kopf und fixierte die Wasserspuren, die sich während des langen Weges in seine Schuhe gesaugt hatten. Irgendwie, beschloss er, wird schon alles gelingen.

Er löste eine Fahrkarte, atmete den Geruch der Kinder aus leicht geronnener Milch, Weichspüler und Fruchtkaugummis und ging durch laute Rufe und Gekicher, bis er im vollen Bus weit hinten einen Platz entdeckte, auf dem nur ein Ranzen stand.

Widerwillig reagierte das Mädchen, das neben dem Ranzen saß, als er sich setzte und mit der Hüfte den Ranzen weiter zum Mädchen schob. Er ragte, wenngleich er nicht dick war, in den Gang. Zu gern wollte er das Kind samt Ranzen noch weiter in Richtung Fenster schieben oder über sich hinweg heben und in den Gang stellen, um dann links von sich einen abschirmbaren freien Platz zu haben, auf den er hätte weisen können. Sieh, hätte er gesagt, ich bin noch nicht bereit für ein Ende, also gibt es kein Ende. Denn wie sollte so schnell ein Ende entstehen, da doch der Anfang noch nicht richtig war.

Heike Geißler, Dieter Moor (Foto ORF/Johannes Puch)

Stattdessen aber griff das Mädchen über ihn hinweg, zerrte an der Jacke eines anderen Mädchens, das rechts vom Gang saß und rief etwas. Lass, sagte er, diesen Lärm. Kümmere dich da später drum, jetzt geht das nicht. Das Mädchen drehte sich weg, drückte ihre Hüfte gegen den Ranzen, den Platz verteidigend. Er drückte von seiner Seite. Er lauschte, ob der Engel nicht vielleicht schon da war, sich einen Platz suchte und dabei bedrängt wurde.

Ein Aufschub, dachte er, ist nötig. Eine Unterbrechung wenigstens. Diese langsame Busfahrt zurück ging ihm bedeutend zu schnell. Verkrampft saß er, bemerkte leichte Übelkeit, wie er zugleich sehr müde wurde. Er blickte über das Mädchen hinweg und malte sich ein Glück aus für die Ankunft: dass das Wispern ihn wieder erreichte, dass der Engel ihn für die Umstände schalt. Oder dass das Wispern ihn nicht erreichte, er aber aus der Traurigkeit darüber Stärke zu formen wüsste und dafür das Wispern als Belohnung erhielte. Er versuchte, durch sein gespiegeltes Gesicht die Landschaft zu sehen, bis das Mädchen ihn anstieß und aufforderte, sie aussteigen zu lassen.

Die Kinder strömten aus dem Bus, stauten sich an der Haltestelle vor der Schule, als wollten sie genau da stehen bis zum Nachmittag, bis es spät genug wäre, wieder nach Hause zu fahren. Was für ein Aufwand, dachte er und konzentrierte sich, die neue Ruhe, die unterlegt war mit Radiomusik und den Gesprächen einiger anreisender Urlauber, genau anzuhören.

Vom Bus aus sah er schließlich die Boutique der Frau, sah die Auslagen im Schaufenster beleuchtet. Bis zum Erreichen der Haltestelle überlegte er, ob ihm ein Irrtum unterlaufen sein könne: dass er sich womöglich den Engel nur erdacht und diesen Erdachten in aller Eile über Gebühr zu mögen begonnen habe. Er schloss die Augen und verbot sich, allzu plastisch an den Engel zu denken, aus Angst, ihm könne eine überzeugende Vorstellung gelingen.

Langsam ging er nach dem Aussteigen den mit ihren Gepäckstücken den Weg einnehmenden Touristen hinterher, nutzte aber die Gelegenheit, sich an der Ampel vor alle zu stellen. Von einem älteren Mann wurde er am Ärmel gezogen und darauf hingewiesen, dass er halb auf der Straße stehe. Er schüttelte die Hand von seinem Arm. Sagte, er wisse schon Bescheid, kenne sich aus, bestens sogar. Außerdem käme um diese Uhrzeit ohnehin nur selten ein Auto. Er blickte den Mann herausfordernd an, trat dennoch zurück, merkte fremde Füße unter seinen, entschuldigte sich leise. Als er sich auf der Höhe seines Hauses befand, überquerte er die Straße und spürte, wie alles, was in ihm zu leicht war, sich zu drehen begann.

 

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