Philipp Weiss, Wien (A)

Philipp Weiss wurde 1982 in Wien geboren, wo er auch lebt. Der Österreicher wurde von Karin Fleischanderl zur Teilnahme am Bewerb vorgeschlagen.

 

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Blätterliebe

Ich schreibe mit der linken Hand und streiche mit der rechten durch. Manchmal ist es anders. Ich schreibe dann mit der rechten Hand, die linke dient mir dazu durchzustreichen. An seltenen Tagen schreibe ich beidhändig, streiche beidhändig durch. Weshalb ich beinahe nur durchgestrichene Worte, Texte, Geschichten geschrieben habe, ich mir also eine ständig wachsende Sammlung ausgestellt unhaltbarer Sätze zugelegt habe. Nur in seltenen Fällen, wenn eine der Hände müde wird durch die Arbeit des ständigen Streichens, erschlafft, zuerst nachhinkt, zunehmend erlahmt, schließlich daliegt, auf dem Schreibtisch, und der Stift unberührt daneben, ungeöffnet, ebenso daliegt, sodass die andere, die schreibende Hand, in einer plötzlichen Freiheit, Improvisation, sich über das Papier zu bewegen beginnt, alle Vorsicht ablegt, sich überbietet in Unsinnigkeiten, Verrücktheiten, übermütig wird, immer weiter, wilder, so lange, bis die andere, die ihre Streicharbeit vernachlässigende Hand, sich notgedrungen wieder regt, widerständig wird und eingreift, diesem Spiel ein Ende zu machen versucht, den Füller ergreift, ihn zwischen Daumen und Zeigefinger öffnet und schließlich durchzustreichen beginnt, nur in diesen seltenen Fällen, diesem Fallen des Körpers also entstehen meine Texte. In dieser Nachlässigkeit, dieser Blöße des Körpers entstehen meine Texte. In dieser Reglosigkeit, Starre, nur in diesem Geschlampe des Körpers, in diesem Körpertheater entstehen meine Texte. Ein Missgriff des Körpers, ein Schachmatt des Körpers, und es entstehen meine Texte. Doch das ist nicht oft der Fall, vielmehr selten, kaum. Es geht dabei um Kleines. Eine Winzigkeit zuviel nur, eine Spur mehr Mattheit, Abgeschlagenheit, eine Prise mehr Trägheit des Körpers, ein Anflug mehr nur an Muskelschwäche, und auch die schreibende Hand erlahmt, sinkt nieder, weiß nichts mehr zu sagen, und kein Text entsteht, kein durchgestrichener, auch kein irgendwie anders gearteter Text, kein Satz, kein Wort mehr. Da sind nur die nebeneinander still liegenden Hände, auf dem Schreibtisch, in der Körperfalle, lustlos und abgeschlagen, weiter nichts.

 

Die Zeit gehörte zu den besten, um in die Notaufnahme zu gehen. Es war ein glücklicher Zufall, dass ich gerade um fünf Uhr Früh zur Notaufnahme musste. Es war gut so und weit besser als etwa um sechs oder gar um sieben. Um fünf Uhr Früh gingen die Nachtschichtärzte, die Tagschichtärzte kamen. Um fünf Uhr Früh waren die Tagschichtärzte zwar noch müde und schlecht gelaunt, doch weniger müde als die Nachtschichtärzte und auch weniger schlecht gelaunt. Um fünf Uhr Früh mischte sich selbst im Notaufnahmeraum der Geruch der Sterilität mit dem Geruch von Kaffee. Die ankommenden Tagschichtärzte ließen sich zu dieser Stunde Kaffee zubereiten von den aufbrechenden Nachtschicht­schwestern, der dann, mit einem Lächeln überreicht, ein bisschen von der Müdigkeit mit fortnahm und sogar ein gutes Stück von der schlechten Laune. Ich war zufrieden mit dem Zeitpunkt meiner Übelkeit. Ich ging langsam, denn so wie sich die Gerüche von Sterilität und Kaffee vermischten und die Gesichter der Nachtschichtschwestern mit dem Tagschichtärtzelächeln, so mischte sich meine Übelkeit mit meinen Unterleibs­krämpfen. Um fünf Uhr Früh saßen viele Menschen im grellen Licht der Notaufnahme.

 

Ich trug meinen Abendanzug mit abfallendem Revers, darunter die Weste, das Hemd, darauf die dunkle Krawatte, über allem den schwarzen Mantel und auf dem Kopf meinen Hut. Den nahm ich ab und führte ein Gespräch mit der Schwester am Notaufnahmeschalter. Ja? sagte sie und ich sagte, Krämpfe und Übelkeiten. Warum? fragte sie und ich sprach von der allgemeinen Undurchschaubarkeit. Wie? fragte sie und ich meinte, dass es eben so sei. Dann schwiegen wir beide und beide versuchten wir der allgemeinen Undurchschaubarkeit etwas entgegenzuhalten. Sie, indem sie mir ein Formular reichte, ich, indem ich es ausfüllte und ihr zurückgab. Wir waren beide beruhigt und ich setzte mich. Man versteht nie etwas. Man versteht nie etwas und eines Tages stirbt man daran, wollte ich der Schwester zurufen, doch ich tat es nicht und blieb sitzen.

 

Simone wachte auf im Dunkeln, tastete, tastete nach mir, doch ich war nicht hier, war nicht neben ihr, was sie erschreckte, was sie hochschrecken ließ und im Dunkeln weitertasten, was sie schließlich, da alles ohne Erfolg war, den Lichtschalter betätigen ließ, sodass sie auch sah, dass ich weg war. Simone stand auf, knickte ein, setzte sich wieder, flüsterte Oskar, räusperte sich, rief Oskar, und lauschte, stand wieder auf und taumelte vorwärts ins Nebenzimmer, machte wiederum Licht, blickte umher, sah ein Blatt Papier auf dem Boden, zerknüllt, hob es auf und las: Ich schreibe mit der linken Hand und streiche mit der rechten durch.

 

Der Arzt trug die Brille auf der Nasenspitze und die Nasenspitze gesenkt. Die Stimme des Arztes war hoch. Die Sprache war zerbrechlich und knarrte, ächzte leicht im fremden Akzent. Mein Magen stimmte ein und machte einige unverständliche Laute. Ich legte Hut und Mantel ab und setzte mich auf die Krankenhausliege. Der Arzt mir gegenüber. Die Blicke gingen aneinander vorbei in der Nähe der Nasenspitze. Ja? sagte er und ich sagte, Krämpfe und Übelkeiten. Warum? fragte er und ich sprach von der allgemeinen Undurchschaubarkeit. Aha, sagte er darauf und wir beide nickten. Beruf? fragte der Arzt und ich sagte, ich habe geschrieben. Worüber? fragte er und ich sprach von der allgemeinen Undurchschaubarkeit. Aha, sagte der Arzt darauf und wir beide nickten. Einer von uns erhob sich und drehte einen Kreis, sah dabei etwas gebückt und kränklich aus. Der andere blieb sitzen und sah dabei etwas gebückt und kränklich aus. Seit wann? fragte er und ich sagte, seit zwei Uhr morgens. Abendessen? Stuhlgang? fragte der Arzt und ich sagte, weder dies noch das. Aha, sagte er mit hoher Stimme und wir beide nickten. Nüchtern? die Frage, nüchtern, die Antwort.

Dann schwiegen wir beide, er im Stehen leicht gebeugt, ich leicht gebeugt im Sitzen. Wir schwiegen und genossen den Moment der Einigkeit. Das ging eine Weile so. Dann aber betrat die Nachtschichtschwester den Raum. Sie kam mit einem Lächeln auf dem Mund, Kaffee in der Hand und einem Trost in den Augen. Der hatte sich dort eingenistet und wollte nicht mehr fort. Der war dort steckengeblieben in den Augen und leuchtete dumpf neben Krankenhausbetten durch Krankenhausnächte. Die Nachtschicht­schwester überreichte dem Tagschichtarzt Kaffee und Lächeln, wandte sich um, wünschte gute Besserung, man weiß nicht ob an ihn gerichtet oder an mich. Sie schaute noch über die Schulter hinter sich und zwinkerte zu mir hin mit dem linken Auge, zwinkerte zu ihm hin mit dem rechten und verschwand. Der Arzt nippte an der Tasse und hierzu hob sich die Nasenspitze. Alter? fragte er dann mit hoher Stimme und ich sagte dreiunddreißig. Dreiunddreißig, sagte er und trat an mich heran. Er tastete, drückte und schüttelte dann den Kopf. Ich knöpfte das Sakko auf, knöpfte auch beinahe die Weste auf, doch der Arzt meinte, dass es so wohl gehe. Er tastete wieder, tastete an der Weste entlang, drückte in die Magengrube. Hier? fragte er und ich machte Laute. Aha, sagte der Arzt zufrieden und lächelte.

Sie können sich jetzt niederlegen, sagte er und ich legte mich auf die Krankenhausliege. Es werde wohl nichts allzu Bösartiges sein, ich könne also beruhigt sein, es werde eher kein Magengeschwür sein, ein Magendurch­bruch sei unwahrscheinlich, sagte der Arzt und ich lag reglos auf der Krankenhausliege. Ein Herzinfarkt sei ausgeschlossen, es werde wohl tatsächlich der Magen sein, doch wohl eher kein Geschwür, so sagte er, er habe schon alles erlebt, und ich machte kaum hörbare Laute. Ich sei wohl –  das sei das Wahrscheinlichste – sensibel, ich sei eben empfindlich, sagte der Arzt zu mir, ja, das müsse es wohl sein, ich sei sensibel, aber das sei gut, das müsse ich sein, das sei wichtig, wolle ich Künstler sein, das sei gut so und noch lange kein Magengeschwür. Der Arzt lachte. Ich solle also erst einmal beruhigt sein. Ich solle mich nicht weiter sorgen, auch wenn ich mich im Allgemeinen schnell sorge, wenn ich also eine sogenannte sensible Natur sei, was an sich ja gut sei, wolle ich Künstler sein, an dieser Stelle jedoch weniger, sagte der Arzt. In Fällen wie diesen müsse man eben eine gewisse Gelassenheit an den Tag legen, selbst an den beginnenden Tag müsse man sie legen, selbst um fünf Uhr Früh, so hörte ich die Stimme des Arztes, dessen Sprache leicht knarrte, ächzte im fremden Akzent. Entweder, sagte der Arzt mit einem Mal sehr laut, man gehe über den Jordan in Kürze oder eben nicht, das sei immer so, das sei bei jedem so und völlig normal. Er lachte laut und ich machte Laute.

 

Simone hasste mich. Das tat sie für einen Augenblick. Dann liebte sie mich und klopfte dabei alten Kaffee aus dem Sieb in den Mülleimer. Beim Auffüllen des Siebs mit frischem Kaffee hasste sie mich wieder. Als das Wasser in die Espressokanne lief, war sie unentschlossen und konnte nicht sagen, was genau sie fühlte. Da sie allein war, musste sie es auch nicht sagen. Es wäre sinnlos gewesen, es zu sagen, da niemand es hören konnte. Hätte sie es gesagt, so hätte es niemand wahrgenommen außer sie selbst und sie hätte sich nicht geglaubt. Es war ein glücklicher Zufall, dachte Simone, als sie die Espressokanne auf den Herd stellte, dass sie hier um fünf Uhr Früh alleine Kaffee zubereitete und niemandem Auskunft geben musste über ihre aktuelle Gefühlslage. Wenn es auch durchaus kein Zufall sein konnte, dass ich gerade heute und gerade um fünf Uhr Früh außer Haus war. Es konnte kein Zufall sein, dass jemand bereits um fünf Uhr Früh die Wohnung verlassen hatte ohne ein Wort, ohne sich zu verabschieden und ohne Hinweise zu hinterlassen, wo in aller Welt man sich hin begeben habe mitten in der Nacht. Es konnte kein Zufall sein, es musste sich vielmehr um eine Zumutung handeln. Simone fuhr mit der linken Hand unter die Locken an ihre linke Schläfe und massierte. Sie fuhr mit der rechten Hand unter die Locken an ihre rechte Schläfe und massierte. Dabei sah sie die Espressokanne an, die zischende Laute von sich gab, und hasste mich.

 

Ich lag reglos auf der Krankenhausliege und betrachtete die Ambulanzraumbeleuchtung. Es war gut hier zu liegen auf der Krankenhausliege. Es war gut so und weit besser, als etwa zu stehen oder auch nur zu sitzen. Denn im Liegen nahmen die Krämpfe ab und die Müdigkeit zu. Es war vorteilhaft hier zu liegen, da die Schmerzen weniger wurden und es im Liegen einfacher war, ans Schlafen zu denken, was man schließlich tat, war man erst einmal müde oder war man die Nacht zuvor wach gelegen. Man dachte schließlich auch ans Schlafen, fand man sich erst in einer Situation, in der man nicht auskam, sich die Geschichten des freundlichen Arztes anhören zu müssen oder sich stattdessen seinen eigenen Gedanken zu überlassen. Einzig das Neonlicht der Ambulanzraum­beleuchtung störte die Müdigkeit und weckte die Krämpfe. Ich war zufrieden mit der Krankenhausliege, unzufrieden jedoch mit dem Decken­neonlicht.

Legen Sie sich auf die linke Seite, sagte der Arzt und ich war einverstanden mit dem Vorschlag. Ich hielt den Vorschlag für eine ausgezeichnete Idee und setzte ihn sogleich um. Ich legte mich auf meine linke Seite und betrachtete nicht mehr die Ambulanzraumbeleuchtung, sondern stattdessen die medizinischen Apparate. Medizinische Apparate gab es viele. Die versprachen zwar schlechte Träume, sie verhinderten aber nicht von vornherein den Schlaf, so wie das Deckenneonlicht.

Spieglein, Spieglein, sagte der Arzt mit hoher Stimme, kicherte und beugte sich zu mir hinunter. Wir müssten nun eine klitzekleine Spiegelung vornehmen, wir müssten mir in aller Kürze ins Innerste blicken, sagte der Arzt und wedelte mit einem Schlauch vor meinem Gesicht. Der Schlauch, so sah ich, war verbunden mit einem der medizinischen Apparate. Der medizinische Apparat war dazu da, einem schlechte Träume zu machen und ins Innerste zu blicken. An seinem Ende hatte er dazu ein leuchtendes Auge. Das Innerste meines Innenlebens sollte beleuchtet werden mit dem Schlauch, der zwar ein Auge hatte, aber keinen steckengebliebenen Trost darin so wie die Nachschicht­schwesternaugen.

 

Simone liebte mich und nippte dabei an der Tasse mit dem frischen Kaffee, der ein bisschen von der Müdigkeit mit fortnahm und sogar ein gutes Stück von der schlechten Laune. Der Kaffee konnte zwar schlechte Laune und Müdigkeit mit fortnehmen, aber nicht die Kopfschmerzen und auch nicht die Sätze und Bilder. Die saßen fest in Simones Kopf, nicht so wie die Wut auf mich im Bauch. Die saß nämlich locker und war gleich wieder Liebe, dann war sie Sorge, dann Scham und dann war sie Verwirrung. Sie stellte die Tasse ab. Sie führte mit der linken Hand die Zigarette zum Mund und zündete sie mit der rechten an. Sie fuhr mit der linken Hand unter die Locken an ihre linke Schläfe und massierte. Mit der rechten fuhr sie unter die Locken an ihre rechte Schläfe und massierte. Auf Simones Haut stellten sich Härchen auf und sie zitterte. Es waren die Bilder und Sätze des Vorabends, die eine Wirkung auf Simones Härchen ausübten. Es waren die Bilder und Sätze, die in Simones Kopf festsaßen und selbst mit Zigarette im Mund und Fingern an den Schläfen nicht zu vertreiben waren. Eines der Bilder war Simones einsamer Tanz im schlecht beleuchteten Speisesaal.

 

Simone war am Vorabend erst spät von der Arbeit gekommen. Sie kam sogar deutlich später als sie sonst ohnehin spät von der Arbeit kam. Denn sie übernahm an diesem Tag nicht nur wie gewöhnlich zusätzlich zum Vormittagskindergarten noch den Nachmittagskindergarten. Eine weitere Stunde nach dem Vormittags- und dem Nachmittagskindergarten veranstaltete sie sogar noch einen speziellen Zusatzkindergarten. Sie passte auf die kleinen Zwillingsschwestern auf, die ebenso im Kindergarten festsaßen wie die Sätze und Bilder in Simones Kopf. Denn um fünf Uhr abends, nach dem Nachmittagskindergarten, waren die Eltern der kleinen Zwillingsschwestern nicht gekommen, um diese abzuholen, weshalb es also einen einstündigen Zusatzkindergarten geben musste. Simone musste die Eltern der kleinen Zwillingsschwestern anrufen und mit den kleinen Zwillingsschwestern warten. Sie musste nicht nur mit den kleinen Zwillingsschwestern warten, sie musste mit den kleinen schreienden Zwillingsschwestern warten. Simone musste für die schreienden Zwillingsschwestern ein singendes Kamel spielen, da das die einzige Technik war, die schreienden in lachende Zwillingsschwestern zu verwandeln. Sie musste also so lange ihre Zeit als singendes Kamel mit lachenden Zwillingsschwestern verbringen, bis deren Mutter endlich kam, um sie abzuholen. Woraufhin diese sich jedoch wieder in schreiende Zwillingsschwestern verwandelten, da sie von Simones Aufführung derart beeindruckt waren, dass sie nicht mehr gehen wollten. Simone begann dann im Stillen zu weinen und musste, nachdem alle gegangen waren, für einige Minuten zwischen den Sitzreihen des schlecht beleuchteten Speisesaals tanzen, um wieder ein wenig Ruhe zu finden.

 

Er selbst, sagte der Arzt, setzte sich und nahm die Brille von der Nasenspitze, er selbst sei auch empfindlich gewesen, er sei auch jung und empfindlich gewesen, er sei auch krank gewesen, sagte der Arzt, obwohl er kein Künstler habe sein wollen, bloß Arzt habe er sein wollen, aber er habe trotzdem alle Krankheiten gehabt, vor allem zu Beginn seines Studiums, er habe also etwa Leukämie gehabt, Lungenkarzinome, Bandwürmer, er habe Diabetes gehabt, Schwindelattacken, eine Herzschwäche und Hodenent­zündung, hörte ich die hohe Stimme des Arztes. Man sei jung, empfindlich, die Haut, die Umwelt, alles dringe ein, durchdringe einen, bewege einen, sagte er und ich lag auf der Krankenhausliege und versuchte ans Schlafen zu denken. Der Arzt stand auf. Ich lag da und betrachtete den medizinischen Apparat. Den Kopf zurück, den Mund aufmachen, sagte der Arzt und ich gehorchte. Den Kopf in den Nacken legen, denn wenn der Kopf dort liege, dann bekomme man Luft, liege er hingegen vorne, so bekomme man keine, es sei ganz einfach und ich habe die Wahl. Ich lag da mit offenem Mund und sagte nichts. Da steckte der Arzt einen weißen Plastikring hinein, damit er auch so bleibe, der Mund, und nicht etwa zu beißen beginne, in einer plötzlichen Wut, die vom Innersten kam. Ich versuchte ans Schlafen zu denken und machte Laute. Ob ich etwas sagen wolle, fragte der Arzt und ich schüttelte den Kopf. Gut, sagte der Arzt und setzte sich auf einen Stuhl mit Rollen, rollte damit in Richtung des medizinischen Apparates und betätigte Knöpfe. Ein Bildschirm ging an und das Auge begann noch heller zu leuchten. Der Arzt nahm einige saugfähige Papiertücher, rollte wieder hin zur Krankenhausliege, schob das Papier unter meinen mit Plastik offengehaltenen Mund und sagte, es sei wegen des Speichels.

 

Simone war am Vorabend erst spät von der Arbeit gekommen. Sie kam sogar deutlich später als sie sonst ohnehin spät von der Arbeit kam. Sie kam spät nach Hause und freute sich auf mich, doch ich war nicht zu Hause. Simone hatte sich auf mich gefreut und freute sich jetzt ebenso, dass ich nicht zu Hause war. Ich saß im Dunkeln an meinem Schreibtisch. Ich saß an meinem Schreibtisch, aber ich war an meinem Schreibtisch nicht zu sehen. Erst als sich Simones Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie mich erkennen. Ich war also doch zu Hause und Simone wusste nicht, ob sie sich freuen sollte oder nicht. Sie ging zu mir hin und bemerkte, dass ich nackt war. Sie strich mir über den Rücken und küsste mich auf die Schulter. Meine Arme hingen links und rechts am Körper herab.

Hm? sagte sie und ich sagte, dass ich nicht genau wisse. Wie? fragte sie und ich meinte, dass es eben so sei. Hm, sagte sie dann und wir beide nickten. Sag doch, sagte sie und ich fragte, was? Was los ist, sagte sie und ich sagte, nichts. Dann musste sie lachen und ich sagte nichts. Hm, sagte sie. Du bist undurchschaubar, sagte sie und ich wollte sagen, dass man nie etwas verstehe, doch ich sagte nichts. Dann schwiegen wir beide, ich nackt an meinem Schreibtisch sitzend, sie in Mantel und Stiefeln daneben.

Er ist fertig, sagte ich. Wer? fragte sie. Er ist fertig, sagte ich und deutete vor mich. Da lagen ein Stapel Papier und zwei Füller. Das sei wunderbar, sagte sie, das sei großartig, das müsse gefeiert werden, das rette ihr den Tag, das sei die beste Nachricht seit Langem, sagte Simone. Ich sagte nichts.

Wir könnten nun endlich wegfahren, sagte Simone, wir könnten nun endlich mehr Zeit miteinander verbringen, wir könnten nun etwa endlich wieder einen Tag zusammen im Bett verbringen. Wir könnten sogar eine kleine Reise machen, sagte Simone und ich sagte nichts. Hm, sagte sie dann und wir schwiegen.

Freu dich doch stattdessen, sagte sie, freu dich, dass dein Text fertig ist. Er ist fertig, sagte ich, verstehst Du nicht? Hm, sagte sie und ich sagte, ach, und dann sagte ich, dass ich bloß müde sei.

Und bei dir? fragte ich und sie sagte, sie habe ein singendes Kamel gespielt. Aha, sagte ich dann und wir schwiegen.

 

Ich lag reglos auf der Krankenhausliege und betrachtete die medizinischen Apparate. Ich lag da mit einem Plastikring im offenen Mund und Papiertüchern darunter wegen des Speichels. Ich lag da und folgte mit meinen Blicken dem leuchtenden Auge, das auf mein Innerstes aus war. Es war gut hier zu liegen auf der Krankenhausliege. Es war gut so und weit besser, als etwa zu Hause zu sein oder spazieren zu gehen. Denn auf der Krankenhausliege war ich nicht Oskar auf der Krankenhausliege. Auf der Krankenhausliege war ich etwas Schöneres und Freundlicheres. Ich lag da und es war nichts mehr zu tun. Es galt nur zu warten. Zu Hause würde ich mich langweilen und wäre selbst schuld daran. Beim Spazierengehen würde ich mir womöglich eine Verkühlung holen. Hier konnte ich liegen mit Plastik im offenen Mund, Papiertüchern darunter wegen des Speichels und in aller Ruhe die medizinischen Apparate betrachten. Es war vorteilhaft hier zu liegen, da der Arzt freundlich war und nette Dinge erzählte. Es war gut hier zu liegen, da ich nach dreiunddreißig Jahren nun endlich erfahren würde, wie es um mein Innerstes stand. Es war ein glücklicher Zufall, dass ich an jenem Tag in die Notaufnahme gekommen war, um endlich das Wesentliche ins leuchtende Auge zu fassen. Das Wesentlichste und Innerste würde an jenem Tag und Ort wenn auch nicht das Licht das Welt, so doch immerhin das Licht des leuchtenden Auges erblicken. Ich war zufrieden mit dem Zustand des Liegens. Der Mund stand mir offen und der Speichel begann langsam über den linken Mundwinkel zu rinnen.

 

Simone stellte die Tasse ab und lief aus der Küche heraus, durch das Vorzimmer, hinein in mein Schreibzimmer, hin zu meinem Schreibtisch, drehte die Lampe auf und blickte auf die Tischfläche. Dort waren am Vorabend ein Stapel Papier und zwei Füller gelegen. Dort lagen jetzt zwei Füller.

 

Ich saß am Vorabend nackt an meinem Schreibtisch. Dort lagen zwei Füller und ein Stapel Papier. Der Stapel Papier war jedoch kein Stapel Papier. Der Stapel Papier war vielmehr ein Blätterhaufen. Ich saß im Dunkeln am Schreibtisch und schaute abwechselnd den Blätterhaufen an und Simone. Zuerst schaute ich einige Zeit auf den Blätterhaufen, dann schaute ich einige Zeit auf Simone. Die stand da mit Mantel und Stiefeln und schwitze.

Ich saß nackt an meinem Schreibtisch und zitierte mich selbst. Ich begann mich selbst zu zitierten und schaute dabei schnell von Simone weg und hin auf den Blätterhaufen. Ich saß nackt da, schaute auf den Blätterhaufen und sagte: Ziehen wir uns einen Text über, damit wir nicht so entsetzlich nackt sind. Damit wir nicht so entsetzlich nackt sind, sagte ich und lächelte. Das habe ich einmal geschrieben, sagte ich und dann fragte ich, ob sie sich noch daran erinnere, doch wartete die Antwort nicht ab. Simone stand da mit Mantel und Stiefeln und schwitzte.

Ob sie lesen wolle, fragte ich. Sie müsse lesen, sagte ich. Bitte, sagte ich, sie müsse lesen, und ich zeigte ihr den Blätterhaufen, doch sie wollte nicht lesen. Sie nahm die Blätter aus ihrer rechten Hand in ihre linke, machte daraus einen Stapel Papier und legte ihn auf den Schreibtisch zurück. Bitte lies, sagte ich und reichte ihr den Text von Neuem. Simone las ein paar Stellen. Sie tat das, weil ich sie darum bat. Sie könne streichen, was ihr falsch erscheine, sagte ich. Doch sie konnte nichts streichen. Blätterliebe, sagte ich, so heiße der Text. Hm, sagte Simone, stand da in Mantel und Stiefeln und dachte an den Stoff, der ihr feucht am Rücken klebte.

Hm? sagte ich und sie sagte, dass sie nicht genau wisse. Wie? fragte ich und sie meinte, dass es eben so sei. Hm, sagte ich dann und wir beide nickten. Dann mussten wir beide lachen, für einen Moment, doch beide sagten wir nichts. Hm, sagte ich. Ich will keine Blätterliebe, sagte Simone, ich will eine fleischliche Liebe, ich will einen fleischlichen Oskar und keinen Blätteroskar.

 

Ich lag da auf der Krankenhausliege und es war nichts mehr zu tun. Es galt nur noch zu warten. Und dann galt es nicht einmal mehr das, denn das leuchtende Auge kam direkt auf mich zu, es kam näher und stand mir kurz gegenüber, hielt inne, starrte, setzte sich wieder in Bewegung, rückte weiter heran, blendete mich, sodass ich nur noch das Auge sah, dann nur noch weiß sah, ein Licht sah, das greller wurde. Und dann war es weg.

Und los geht’s, sagte der Arzt mit hoher Stimme und schob den Schlauch immer weiter in meinen Mund, immer weiter, so als würde es nicht in einen Magen gehen sondern in einen Abgrund. Die Geräusche, die aus meinem Mund heraus kamen, während der Schlauch in den Mund hinein fuhr, waren laut und tief und erinnerten an die Rufe gefährlicher Tiere in Märchenwäldern. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, immer weiter in den Nacken, noch ein Stück weiter, da ich in meinem Inneren etwas wandern fühlte, das auf mein Innerstes aus war. Ich merkte, dass ich weiter Luft bekam und war darüber sehr erfreut. Ich war darüber höchst erfreut und atmete durch meine Nase, die mir besonders wichtig war.

So, aufgepasst, hörte ich von oben, so aufgeblasen, sagte es sich vom weißen Kittel her, der neben mir stand und einen Knopf drückte. Die Tiere in meinem Märchenwald machten Geräusche. Die Luft fuhr hinein in mein Inneres und blähte es auf. Das machte einen besonderen Lärm. Die Luft fuhr in mein Inneres und machte es geräumig. Meine Augen tränten und ich sah nichts mehr.

Oho! hörte ich die Stimme des Arztes. Was haben wir denn da? sagte er und dann sagte er, dass er selbst auch empfindlich gewesen sei, dass er auch jung und empfindlich gewesen sei, dass er auch krank gewesen sei, obwohl er kein Künstler habe sein wollen, bloß Arzt habe er sein wollen, aber so etwas habe er noch nicht gesehen. So etwas habe er noch niemals in einem Menschen und schon gar nicht in sich selbst vorgefunden, hörte ich die hohe Stimme vom weißen Kittel her, auf so etwas sei er wirklich nie zuvor gestoßen. Das sei höchst bedenklich und gehöre in den Bereich des Krankhaften. 

 

Simone saß an meinem Schreibtisch und zog sich ihr Nachthemd aus. Sie warf es in weitem Bogen fort in Richtung der Bücherregale. Dann stand sie auf, nahm das Nachthemd, setzte sich auf den alten Holzstuhl vor meinen Schreibtisch und warf ihr Nachthemd in Richtung der Bücherregale. Dann ließ sie Nachthemd und Bücherregale sein und saß nur nackt an meinem Schreibtisch. Die Arme ließ sie links und rechts am Körper herabhängen. So saß sie einige Zeit da und begann zu frieren. Sie saß da und fror und starrte auf den Schreibtisch mit den zwei Füllern. Sie saß da und verzog ihr Gesicht. Es war eine leidende und längliche Grimasse. Es war die erbärmlichste Grimasse, die sie fertig brachte. Simone saß nackt an meinem Schreibtisch, fror, machte die erbärmlichste Grimasse, die sie fertig brachte und sagte einen Satz. Sie sagte ihn mit der tiefsten Stimme, die sie fertig brachte: Ziehen wir uns einen Text über, damit wir nicht so entsetzlich nackt sind. Damit wir nicht so entsetzlich nackt sind, sagte Simone, wackelte dabei mit dem Kopf hin und her und fühlte sich mir nah. Dann nahm sie mit der linken Hand den einen Füller, mit der rechten den anderen, entstellte ihr Gesicht zu der hässlichsten Fratze und sagte: Ich schreibe mit der linken Hand, und streiche mit der rechten durch. Der rechte Füller begann dann den linken zu attackieren, sodass er beinahe von der Tischkante fiel, worauf dieser aber zum Gegenangriff ansetzte, dem rechten Füller einen so harten Schlag versetzte, dass in dessen Innerstem die Tintenpatrone zitterte, er taumelte, zu kippen drohte, sich dann wieder erholte, und sie im gleichen Moment aufeinander los stürzten, sich ihre Kappenköpfe ineinander verfingen, die Hemdklipps ineinander verfingen, einmal der eine, dann der andere die Oberhand zu haben schien, bis sich die Kappenköpfe mit einem Mal gleichzeitig lösten und in weitem Bogen durch das Zimmer wirbelten, die Stahlfedern aneinander gerieten und sich eine kleine Tintenlacke auf dem Schreibtisch bildete, bis beide Füller dann ermattet niedersanken und sich, der Absurdität ihres Kampfes bewusst, ohne Kappenköpfe nebeneinander legten, um zusammen zu vertrocknen. Simone legte ihren Kopf auf den Schreibtisch und weinte.

 

Das gehöre in den Bereich des Krankhaften, hörte ich die hohe Stimme des Arztes, dessen Sprache nun lauter knarrte und zu brechen drohte im fremden Akzent. Das gehöre in den Bereich des außerordentlich Krankhaften, das habe er noch nicht erlebt und er sei darum höchst fasziniert. Er sei höchst fasziniert und beeindruckt, sagte der Arzt. Es sei ein glücklicher Zufall, dass er heute Tagschichtarzt sei und nicht etwa Nachtschichtarzt wie letzte Woche. Es sei ein glücklicher Zufall, dass er heute Frühschicht habe und nicht Spätschicht wie etwa morgen, sagte der Arzt, dessen weißer Kittel für mich kaum zu sehen war, da mir die Augen tränten. Wie haben Sie denn das nur gemacht? fragte er und ich lag da mit Plastikring und Schlauch im offenen Mund und machte Tier-Geräusche aus dunklen Märchenwäldern. Wie? fragte er und ich lag still auf der Krankenhausliege. Ach, sagte daraufhin er und begann den Schlauch aus meinem Mund zu ziehen. Ihr Innerstes, sagte der Arzt dann und lachte, Ihr Innerstes ist nichts anderes als ein Blätterhaufen. Und ich sank in einen plötzlichen tiefen Schlaf.

 

Oskar, so klang es und immer wieder, diese Laute, Oskar, und wieder Oskar, doch es war nichts zu verstehen, ein leises Vibrieren und das hatte eine Stimme, ich bin es, Oskar, der Klang stand da im Raum herum, doch wo fing er an und was wollte er und wovon, denn es sagte sich da etwas, sagte sich leicht dahin, das klang wie Oskar, doch es war weiter nichts, und mischte sich im Raum, der im Unklaren blieb, es mischte sich irgendwo und unergründlich mit einer Beruhigung, wach auf Oskar, und eine Berührung, und etwas Großes im Raum, es beugte sich, etwas Großes, das die Welt veränderte, beugte sich, ich bin es, mein Lieber, es drängte sich auf, erschien plötzlich klar, und blau darin, ein Gesicht, im Raum, neben dem leisen Vibrieren, das wie Oskar klang und eine Stimme hatte, bestimmt war, ein Vibrieren, diese Wörter und ein Gesicht in diesem Raum, und ein Wiegen, alles klar mit dir, so klang es, doch es war nichts zu verstehen, ein Gesicht, eine Nase, die großen Augen, leuchtende, blaue, die auf etwas schauten, das da war, und dunkle Locken darum, und Licht darüber, zu hell, ein Deckenneonlicht, und vor allem noch etwas, nicht denkbar, und flau, ein Getöse, ja, Angst, wäre da nicht die Beruhigung gewesen, das Wiegen, und links noch mehr Gesichter, was machst du nur, Oskar, was war das, Oskar, was konnte das sein, und die Gesichter schauten und saßen auf Körpern, und die Körper standen oder saßen auf Betten, aufgereiht, in diesem Raum, dem Krankenhauszimmer, und da waren auch Nachtschichtschwesternaugen, mit Trost darin, mit steckengebliebenem, der sich auf etwas legte, das hier war, nur hier, und fassbar wurde in einer Berührung, im Oskar, dem Stimmklang, ich bin es, Oskar, ich bin es, Simone, und es setzte etwas ein, endlich, kam von weit weg, mit dem Wiegen, den hellblauen Augen, den Locken darum, ein Gedanke, mit dem etwas begann, das hier war, in dieser Berührung, du Lieber du, Oskar, und es geschah, wie ein Zucken, und setzte sich zusammen, aus Buchstaben, Wörtern, aus Erzählungen von Küssen, Berührungen, Texten, von Gedanken und sammelte sich um ein Loch oder einen Knoten, und Euphorie, ja Euphorie, Oskar, Oskar, so hieß es, ein Ich.

 

Ich lag im Krankenhausbett und betrachtete Simone. Simone saß auf dem Krankenhausbett und betrachtete mich. Simone sagte mir, dass sie es sei, sie sagte, ich bin es, und ich sagte, dass ich mir das schon gedacht habe. Doch ich sah nicht aus, als hätte ich mir eben viel gedacht, schien Simone zu denken und ich sagte dann, dass auch ich es sei. Ich sagte, ich bin es, Oskar, und Simone sagte, ja.

Dann schwiegen wir beide, ich im Liegen leicht zerstreut, sie leicht zerstreut im Sitzen. Wir schwiegen und genossen den Moment der Einigkeit inmitten der Momente allgemeiner Undurchschaubarkeit. Das ging eine Weile so. Dann wollte ich es doch genauer wissen und fragte, was passiert sei. Simone nahm einen durchsichtigen Beutel vom Krankenhausnachttisch. Es war ein durchsichtiger Beutel, durch den hindurch man dessen Inhalt sehen konnte. Der sichtbare Inhalt des Beutels war jedoch nicht irgendein Inhalt. Der sichtbare Inhalt des Beutels war vielmehr mein Mageninhalt. Simone ließ meinen sichtbaren Mageninhalt vor meinem Gesicht baumeln. Er ist fertig, sagte Simone. Wer? fragte ich. Er ist fertig, sagte Simone und deutete auf meinen Mageninhalt. Dein Text, sagte Simone und ich sagte nichts.

 

Ich hasste Simone. Das tat ich für einen Augenblick. Dann liebte ich sie und klopfte dabei mit dem Finger gegen meinen Mageninhalt. Beim Öffnen des Beutels hasste ich sie wieder. Als ich das erste klein gerollte Blatt herausnahm und auseinander faltete, war ich unentschlossen und konnte nicht sagen, was genau ich fühlte. Um von der peinlichen Situation meiner Unentschlossenheit abzulenken, küsste ich Simone. Simone küsste auch mich und wir liebten uns. Der steckengebliebene Trost in den Nachtschichtschwesternaugen löste sich. Die anderen Liegenden setzten sich auf.

 

Ich liebe mit den Augen und entziehe mich mit dem Mund, der verschlossen bleibt. Manchmal ist es anders. Ich liebe dann mit dem Mund, die Augen dienen mir geschlossen dazu Abstand zu wahren. In seltenen Fällen liebe ich auch mit dem ganzen Gesicht, mit dem ganzen Körper vielleicht, er entzieht sich dabei, da er so offen ist, dass er durchsichtig wird. Weshalb ich beinahe nur Nächte, Begegnungen, Jahre mit diesem Sehnen gelebt habe, ich mir also eine ständig wachsende Sammlung unerfüllbarer Liebesmomente zugelegt habe, die ich aber nicht besitzen, verstecken, die ich nicht aufbewahren kann. Nur in seltenen Fällen, wenn etwa der geschlossene Mund müde wird durch den ständigen Widerstand, locker wird, leicht, zuerst in den Winkeln, dann zunehmend überall aufbricht, sodass eine fremde Zunge beginnt, in mich zu finden,  mich überrumpelt mit einer Liebe, die mich nicht auflöst, die vielmehr einen ganzen Körper macht, da es Lippen sind, an denen meine eigenen fühlbar werden, oder wenn etwa die Augen müde werden, der Neugierde nicht mehr widerstehen und sich mit dem Mund beginnen zu öffnen, und einen Blick finden, da jemand meine halb geschlossenen Lider sieht, und somit etwas geschieht – nur in diesen seltenen Fällen, diesem Fallen des Körpers also entstehen Liebesmomente. In dieser Nachlässigkeit, dieser Blöße des Körpers entstehen Liebesmomente. In diesem Geschlampe des Körpers, in diesem Körpertheater entstehen Liebesmomente. Texte entstehen dabei wie auch Liebesmomente.

    

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