Karsten Krampitz, Berlin (D)

Krampitz wurde 1969 in Rüdersdorf bei Berlin geboren und lebt in Berlin. Der deutsche Autor wurde von Hildegard Elisabeth Keller zur Teilnahme am Bewerb vorgeschlagen.

 

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Heimgehen

Eine Novelle

(Auszug)

 

 

Gegendarstellung

 

In der „Steinburger Allgemeinen“ vom 7. März 2006 schreiben Sie: „Vor und nach dem Tod des Benno Wuttke hat es viele Pharisäer gegeben, aber nur einen Judas – den IM „Nelke“ alias Ulrich Schwenke.“ – Dazu stelle ich fest: Ich bin zu keinem Zeitpunkt inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR gewesen.

 

Steinburg, den 14. März 2006

Rechtsanwalt Stefan Eisenmann für Ulrich Schwenke, Pfarrer i.R.

 

 

Blumen sind gefährlich. Wussten Sie das? Erst habe ich es gar nicht glauben wollen; der Küster erzählte davon, Tage nach der Tat:

„Pastor Schwenke“, sagte der, „jeden Morgen liegt dort immer so ein kleiner Strauß.“

An dieser einen Stelle war das; keine drei Schritte von der Kirchentreppe, neben der Telefonzelle, die damals noch stand. Das brennende Benzin hatte in der Pflasterung einen Kreis hinterlassen, dunkelblau, den die Männer der Stadtreinigung lange nicht wegbekamen – wie eine Narbe im Basalt.

Meist waren es Nelken, gegen die die Polizei eingreifen musste, so wie sie auch an jenem Tag eingegriffen hatte: Die Genossen der VP hatten sich doch sehr beeilt, das Schild wegzuräumen, das Bruder Wuttke aufs Wagendach gestellt hatte.

 

Die Sache mit den Blumen ließ dann mit der Zeit nach, hörte aber nie ganz auf. Wissen Sie, manchmal lagen sogar am Mittag Nelken dort. Ja, was will man machen? Ist doch nicht verboten, beim Vorbeigehen eine Blume fallen zu lassen. Und jedes Mal sprangen zwei Herren aus dem Lada, der dort einen Dauerparkplatz hatte; ein Mann, um das corpus delicti zu sichern, und der andere, um ihm dabei Rückendeckung zu geben.

 

*

 

Unsere Kirche am Marktplatz wird ja heute eher als Museum wahrgenommen, ein Zwischenstopp für Reisegruppen. „Seht her! Hier ist ES passiert!“

Aber die Leute, die hier leben, die sind nicht mal mehr abergläubisch. In dieser Stadt ist der Allmächtige ein Gerücht; die Menschen haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben. Gott gibt es nicht.

Gott ist der, der gibt.

Aber warum erzähle ich Ihnen das? Drucken Sie den Brief meines Anwalts. Und dann, mein Herr, sollten Sie es dabei belassen. Cui bono? Die ganze Geschichte hat so viel Unheil gebracht. Und außerdem: Ihr Artikel ist doch längst erschienen, Ihre Antworten kennen wir. Suchen Sie jetzt etwa nach der passenden Frage?

So ist das im Journalismus, was?

Eine halbe Seite hatten Sie im Lokalteil. Immerhin. Seinerzeit durften wir nicht mal die Sterbeanzeige aufgeben. – Und nicht nur das! Der Herr Reporter findet im Anschluss sogar noch Zeit und Muße, sich mit dem Gegenstand seiner vorgeblichen Recherche vertraut zu machen.

Ich hab schon zu meiner Frau gesagt: „Der Mann hat Schneid, hier aufzutauchen.“ Mann, mit wem hat er denn vorher geredet?! Mit andern Reportern? Immer das Gleiche: Zu den Jahrestagen schreibt einer vom anderen ab. Oder wie Sie, mein Bester, aus irgendwelchen Akten. Was wissen diese Akten über mich als Menschen?

Wer bin ich denn? Wirklich nicht mehr als die Summe aller registrierten Vorgänge zu meiner Person?!

Eine Ungeheuerlichkeit ist das. Beim Telefon haben wir den Stecker rausgezogen; die neue Nummer wird nicht mehr im Telefonbuch stehen. Nicht zu ertragen war das: All die fremden Leute, die einen zu jeder Tages- und Nachtzeit meinen, beschimpfen zu können. Meine Frau wurde beim Einkaufen behelligt – meinetwegen. Aber das wissen Sie alles.

 

Gar nichts wissen Sie.

Von wegen Judas, Sie sind mir ein Experte.

Ist das nicht der, zu dem Jesus gesagt haben soll: „Was du tun willst, tue bald!“ Sagen Sie, wie geht das: von einem das Versteck zu verraten, der ein öffentliches Leben führt? Einer, von dem alle Welt weiß, wo er sich aufhält.

Und was erwarten Sie von mir? Soll auch ich meine Würde mit dem Strick verteidigen?! Wer sind Sie? Wer gibt Ihnen das Recht, solche Dinge zu verbreiten?

Sie wissen nichts. Sie haben nichts. Keine Verpflichtungserklärung mit meiner Unterschrift.

Und dann erst dieser Kitsch. Ich bitte Sie, wenn ich diesen pathetischen Dreck schon lese. Ich darf doch zitieren? „Die Zeit heilt alle Wunden...“ – Das vergessen Sie mal; die Zeit selbst ist die Wunde. Eine Krankheit, die ich bald überstanden habe. In ein paar Wochen werde ich achtundsiebzig. Verstehen Sie? Ich werde also schon bald heimgehen, und ein anderer wird mich fragen.

Nein, mein Bester, vor Ihnen werde ich mich nicht rechtfertigen.

 

Im Übrigen unterliege ich noch immer der Schweigepflicht des Seelsorgers, auch im Ruhestand. Ich darf mit Ihnen also gar nicht über alles und jeden reden.

Das finden Sie komisch, was? Ein angeblicher Spitzel, der sich auf die Schweigepflicht beruft. – Also wenn das keine Story ist?! Kriegen Sie bei dieser Postille eigentlich so was wie eine Fangprämie? Ich meine ja nur. Ihre Mühe und auch Ihr Mut müssen doch belohnt werden! Den Löwen am Schwanz zu ziehen, wenn der Löwe tot ist, das traut sich nicht jeder.

Der Anwalt hat erzählt, Sie kämen ursprünglich aus Kassel. So, so. Ein vierzigjähriger Lokalredakteur aus Hessen? Mein Herr, da haben Sie es ja weit gebracht. Meine Frau meinte schon: „Wieso erklären wir eigentlich nicht den Menschen in Kassel, wie die gelebt haben?“ Ja, warum eigentlich nicht? Also ich würde gerne mal einen Blick in Ihre Akte werfen. Ginge das? 

Ach, ist das jetzt schon das Interview? Nehmen Sie das schon auf?

Was ist denn das für ein Lärm?! Lenchen! Ein Gekläffe heute wieder. HERR GOTT! Lene, was macht denn der Hund draußen? LENCHEN, DER HUND!!! Geh doch mal bitte schau’n, ja? Unser Hund ist doch fast blind. Jetzt bellt er immer aus Angst. Aber was will man machen? – Ich schließe mal das Fenster. Moment, bitte.

 

*

 

Wenn ich noch einmal mit ihm reden könnte? Ich würde ihn fragen: Bruder Wuttke, hast du nicht in der Bibel gelesen, dass Leiden und Trübsal zum Leben dazugehören? Dass die Zeugen mit Fröhlichkeit ertrugen, was ihnen auferlegt wurde? Es steht doch geschrieben von den Aposteln, „sie gingen vor des Rates Angesicht, weil sie würdig waren, für Christus zu leiden.“ Und der Apostel Paulus sagt: „Wir rühmen uns der Trübsale.“ Im Hebräerbrief steht: „Sie haben den Raub ihrer Güter mit Freuden erduldet.“ – Bruder Wuttke, hast du das nicht gelesen? Wie um alles in der Welt konntest du dich dann zu einem solchen Schritt durchringen?!

Ertragen wir es nicht, einen Gekreuzigten zum Herrn zu haben?! Einen wehrlos Liebenden, der nicht protestiert hat, der vom Kreuz herab für seine Henker und Schinder gebetet hat, der uns gesagt hat: „Segnet, die euch fluchen! Tut wohl denen, die euch hassen!“

 

*

 

Schaun Sie, ich will auch jetzt nicht schlecht über Benno Wuttke reden. Aber das war wirklich so ein Charakterzug an ihm: Die Kategorien Zeit und Raum waren für ihn immer schwer in Einklang zu bringen. Er kam nicht nur nie zur Verabredung – man traf auch noch zwei, drei andere, die er zur selben Zeit, am selben Ort versetzt hatte.

Dabei war doch die Zeit seine eigentliche Profession. Als Pastor war Bruder Wuttke ein, wie wir es nennen, Spätberufener, der im ersten Beruf Uhrmachermeister gewesen ist. Darüber haben sie im Konvent oft schmunzeln müssen: Ach was, ein Uhrmacher, der so gar kein Gefühl für die Zeit hat? Der immer zu spät kommt und dabei einer ist, der so gar nicht in die Zeit passt. Ich sehe ihn noch dastehen, in diesem abgetragenen Anzug und mit der kalten Pfeife in der Rechten über irgendwelche Nebensächlichkeiten sinnieren. Dabei verfiel er manchmal in diesen wunderbaren Singsang seiner Heimat. Dieses Ostpreußische: „Erbärrrmung!“ Oder: „Warrrum de Iihl? Kömmst nich hied, kömmst doch morje, övermorje janz bestemmt...“

 

Gleichzeitig ging von ihm aber auch so eine Unruhe aus... – wie soll ich die erklären? Einmal bin ich zu Bruder Wuttke ins Auto gestiegen. Ich weiß gar nicht mehr, wohin wir fahren wollten. Ich also wollte mich anschnallen, da fing der Mann an zu lachen, wollte wissen, ob ich denn nicht mehr an den „Herrjott“ glaube?

Nun ja. Kann ich mich dem Herrn allzeit und überall anvertrauen? Oder fordere ich ihn damit heraus? Stellt der Berufsverkehr nicht eine willkommene Gelegenheit dar zum Gottesbeweis? – Besser nicht. Und der Mann fuhr wirklich wie ein Verrückter.

Darf man das sagen, „verrückt“? Dieser Meinung, dass Benno Wuttke ein Irrer gewesen ist, hängen doch heute noch einige Leute an.

War denn Jeremia verrückt, als er einen Topf zerschlug und mit einem Joch am Hals durch die Stadt lief? Oder Hesekiel, als er ein Loch in die Wand eines Hauses brach, statt die Tür zu benutzen. Oder Jesus, als er sich vor aller Leute Augen mit lichtscheuem Gesindel einließ? – Wer oder was ist verrückt? Und was ist normal?

 

Auf jeden Fall hat Bruder Wuttke verrückte Sachen gemacht. Einmal ließ er zu Pfingsten in der Kirche eine Taube fliegen, um den Heiligen Geist bildhaft zu machen. Bei einem anderen Gottesdienst hatte er ein Telefon mitgebracht. Psalm 50, Vers 15: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich retten!“

Noch gut kann ich mich an eine andere Predigt erinnern: „Wenn ihr nicht glaubt wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich finden.“ – Die ganze Zeit hielt er ein Katzenjunges im Arm. Die Kinder, die da mit ihren Eltern in der Kirche saßen... – dieses Leuchten in den Augen, ach. Bruder Wuttke erzählte, dass er das Katerchen neulich auf den Ofen gesetzt hatte, ganz nach oben, und dann hatte er gerufen: „Spring Katerchen! Hab keine Angst!“ Und tatsächlich, das kleine Katerchen war ihm mit einem Satz in die Arme gesprungen. Diesen Versuch habe er dann sogleich wiederholt, noch am selben Tag, mit der Mutter vom Katerchen. „Nuscht nich. Is nich jehopst“, sagte Bruder Wuttke, „obwohl sie mir doch vertrauen hätt’ können.“ Macht aber nichts. Zu fressen kriege sie trotzdem.

Ideen hatte der Mann! Für eine Trauerfeier ließ er sich mal vom Schmied eine schwere Eisenkette geben, die warf er dann während der Predigt zu Boden. So werde es sein, sagte er, eines Tages, wenn wir unsere Ketten verlieren.

 

*

 

Er selbst hatte seine Fesseln lange schon von sich geworfen.

Bruder Wuttke sprach hin und wieder davon, nein, er schwärmte! Ach, er sei doch ein reuiger Sünder gewesen, ein Schnorrer und Tippelbruder und auch ein Dieb. Aber vor allem ein Säufer. Doch Jesus, unser Herr, sei ja gerade zu denen gekommen. Und sie zu ihm – all die Mühseligen und Beladenen.

Warum es gerade unsere Stadt war, konnte Bruder Wuttke nicht sagen. Ich denke, Steinburg wird einfach am Weg gelegen haben. Benno Wuttke war damals völlig am Ende. Seine erste Ehe und seine Uhrmacherwerkstatt waren gescheitert und das gleichzeitig. Und so zog er durchs Land, vom Osten in den Westen und umgekehrt. Die Grenze nach Westdeutschland war damals noch durchlässig. 

Benno Wuttke war kurz davor, sich tot zu saufen. Nicht, dass er keine Hilfe annehmen wollte – es gab keine. Einmal war er in einen Laden eingebrochen, und zwar unter der Woche, am helllichten Tag! Durchs Kellerfenster war er ins Lager gestiegen, hatte sich zwei Flaschen Korn gegriffen und einen derartigen Lärm gemacht – mit Absicht! – so dass der Mann von der Kasse nachschauen kam. Der Verkäufer sollte gefälligst die Polizei rufen und der Quälerei ein Ende bereiten. Was aber tat dieser Mann? Der hielt ihm sogar die Tür auf! Der zwinkerte Benno Wuttke noch zu! Von wegen: ‚Alles klar. Ich weiß, was du jetzt brauchst. Los, hau ab!’ Es war schließlich nicht sein Laden.

Als Bruder Wuttke viele Jahre später davon erzählte, sagte er noch:

„Nee, so eein Suffkopp wie mich hefft keeiner nie nich jesehn.“

 

*

 

Benno Wuttke war sozusagen auf der Walz – jedoch nicht als Uhrmacher. Geht das überhaupt, als Uhrmacher auf die Walz gehen? Kann man auf einer Baustelle fragen: „Guten Tag, haben Sie hier irgendwelche Uhren zu reparieren?“ Ist auch egal. Der Mann war auf Trebe, und in Steinburg wollte er einen guten „Stich“ machen, vor Kirchen und Friedhöfen warten, bis die Leute herauskommen. Man kennt das ja noch. Oder man bedrängt den Pastor vor dessen Wohnungstür: „Gott zum Gruß, Wanderer zu Fuß! Ein ehrbarer Tippelbruder bittet um eine kleine Wohltat.“

Und von dem Geld betrinkt man sich. Unser Benno Wuttke war aber noch relativ gut „versorgt“ für den Tag, um nicht zu sagen sturzbetrunken.

In diesem Zustand – eigentlich war er schon dabei, die Stadt wieder zu verlassen – klingelte er am alten Backsteinbau der Christusgemeinde. Später habe man ihm erzählt, er hätte den Küster mit schwerer Zunge gefragt, ob er sich bei den Herrschaften rasieren dürfe.

„Rasieren?“, habe der Küster gefragt. – Ja, er sehe doch sonst aus „wie eein Pennbruder.“

 

Ach Gott, die Armen! Ich will mich nicht drüber lustig machen: Sie stehen dem Herrn doch besonders nahe. Ganz sicher aber war Benno Wuttke nie arm an Phantasie, ein Komödiant war das, und zwar ein sehr talentierter: Solch ein Elend, so unverschuldet. Ein Menschenschicksal, von solch dramatischem Ausmaß, ein Jammer aber auch.

Den Rest können Sie sich denken. Früher schmückte Benno Wuttke seine Legenden noch selber aus: Er habe doch so viel Glück gehabt. Es sei gewesen, als hätten die Gerechten den König gefragt: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben? Wann hattest du Durst, und wir gaben dir zu trinken?

Unsinn, in der Christusgemeinde, das waren alles einfach unglaublich liebenswürdige Menschen. Aus der Rasur wurde ein Bett, ein heißes Bad, ein Mittagessen, ein neuer Mantel, und kurz darauf erlebte Benno Wuttke die erste Andacht.

 

An die Christusgemeinde erinnert sich heute kaum jemand, jedenfalls nicht in unserer Stadt. Eine Freikirche war das, aber keine große. Ein Stück weg von der Autobahnausfahrt stand deren Haus. Allenfalls zwanzig Leute kamen da am Sonntag zum Gottesdienst; als Theologiestudent war ich ein oder zweimal dort, aus Neugier.

Die ursprüngliche Gemeinschaft ist bei weitem größer gewesen, wenngleich sie doch die Abspaltung einer Abspaltung war: Lange vor dem Krieg hatten sich diese Leute von der traditionellen Pfingstbewegung, ihrer alten Freikirche, gelöst – jedoch nicht hier bei uns, sondern überwiegend in Ostpreußen. Diese kleine Gemeinde am Stadtrand war also, wenn Sie so wollen, eine Exilkirche en miniature. Offiziell hat es dergleichen ja nie gegeben, das hätte noch gefehlt: eine Vertriebenenkirche!

 

Wie auch immer, Bruder Wuttke, der wohl seit der Kindheit keine Kirche mehr betreten hatte, selbst in der schlimmsten Not nicht, dabei heißt es doch: Not lehrt beten – er hat seine Ankunft in der Christusgemeinde gerne verklärt, hat von einem Erweckungserlebnis gesprochen, so als wäre er an jenem Tag aus einem langen, fiebrigen Schlaf erwacht. 

Dabei haben ihn diese Menschen erst mal nur ins Krankenhaus gebracht; Tage später war das, sonst wäre der Mann noch ins Delirium gefallen.

 

*

 

Die meisten Krankenbesuche bekam er dann von der Ellen, seiner späteren Frau. Ihre Familie war es, die zuerst Benno Wuttke bei sich aufgenommen hatte. Ellen machte damals im Spital sauber und konnte sich so auch ein wenig um ihn kümmern. Sie besserte ihm die Kleidung auf, brachte Obst, wenn es solches zu kaufen gab, und überhaupt suchte sie gern das Gespräch mit ihm.

Benno Wuttke war schon immer ein guter Unterhalter, charmant und eloquent. Gott, Sie hätten ihn hören müssen! Das Schlimme ist: Nach und nach vergesse ich seine Stimme. Das ist so schade. Es leben nicht mehr viele Menschen, mit denen man darüber reden kann. Heute wollen ihn so viele gekannt haben – aber niemand von denen hat ihn gehört. Mit wenigen Worten hat er einem die Seele berührt. Es klang wie: ‚Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich drum. Alles wird gut.’

 

Ellen mochte es, wenn dieser Benno Wuttke von der Zukunft sprach und sich dabei in irgendwelchen Träumen verlor. Die alten Leute in der Christusgemeinde schmiedeten ja noch immer Pläne für die Vergangenheit. Man kennt das doch: „Ach, weißte noch? Früher wird alles besser!“

Der Christusgemeinde gehörten ja bis auf Ellen nur betagte Herrschaften an. Alte Leutchen, bei denen man sich wunderte, wie die es überhaupt noch über die Oder geschafft hatten. Es gab schon lange keine Taufen mehr, mit jedem Jahr aber mehr und mehr Beerdigungen.

Und Ellen? Die wollte leben. Leben jetzt. – Doch wann ist „jetzt“?

 

Aber das ist wohl überhaupt eine Schwäche der Christenheit, dass es nicht allzu viel zu lachen gibt. Die Bibel kennt für das Diesseits so wenig richtige Freude. Das Wort vom Glück taucht im Neuen Testament gar nicht erst auf. Merkwürdig, oder?

Dabei war doch das Glück gerade auf „Entzug“. Für Ellen lag es im Spital, in einem großen Acht-Bett-Zimmer, gleich vorn an der Tür. Das Glück konnte wieder aufrecht und ohne Hilfe gehen. Sogar spazieren wollte es. Das Glück hatte sich rasiert, die Haare gewaschen und gekämmt und war doch eigentlich recht nett anzuschauen. So jedenfalls hat es Ellen mal erzählt. Seinen Morgenmantel hatte Benno Wuttke an den Ärmeln hochgekrempelt. Und Ellen konnte gar nicht anders, als die krausen Locken an seinen Unterarmen glatt zu streichen.

 

Dabei war Ellen doch so gar nicht begeistert gewesen: Als der Vater ihr an jenem Abend gesagt hatte, dass dieser Mann da, dieser Fremde, fürs erste in der Kammer schlafen werde, war sie erschrocken, ja sogar ein wenig zornig gewesen. Wie wunderlich die Eltern doch geworden waren. Beide, der Vater wie die Mama, konnten kaum für sich selbst sorgen; ihr bisschen Rente reichte gerade für die Medikamente vom Schwarzmarkt, die Miete und das Brennholz. Es war doch Ellen, die das Geld und die meisten Marken mit nach Hause brachte. Es war Ellen, die kochte und die Wäsche erledigte. Und jetzt kam der Vater vom Gemeindeabend mit so einem! Einem, der sich in der Kirche hatte rasieren wollen! – Dass man sich im Gemeindehaus nicht rasiert, ist kein Grund, den Mann mit nach Hause zu bringen. Die Eltern waren doch wie Kinder, die vom Spielen irgendwelche streunenden Katzen mitbringen, ohne zu wissen, dass diese Viecher auch Arbeit machen und Mühe. Dieser Fremde da, das war ein Taugenichts, einer, der nur Scherereien machen würde, der nicht bei klarem Verstand und womöglich auch noch verlaust war. Und dann erst der herbe Geruch, der von ihm ausging... – Und genauso kam es: Schon am nächsten Tag musste seinetwegen der Arzt gerufen werden, der dann nur mit dem Kopf schüttelte.

 

Aber jetzt – nach einer Woche im Spital – war in ihm ein menschliches Wesen zu erkennen. Ein starker Kerl, so ganz anders als die Männer in Steinburg, die Alten und Invaliden oder die Halbwüchsigen mit der großen Klappe, die ihr auf der Straße immer hinterher riefen. Benno Wuttke war sein Name. Und Hände hatte er! So groß, die passten ja gar nicht zu seinem Beruf, den er vorgab, gelernt zu haben. Oder hatte er etwa immer die Uhren am Bahnhof oder auf Kirchtürmen repariert?

Am Nachmittag saßen sie jetzt beieinander auf der Bank draußen, und Benno Wuttke erzählte von der Welt, den Uhren – und dem Essen: Ach, sein größter Traum sei es, einmal im Leben ein ganzes gebratenes Hühnchen zu haben, nur für sich allein, eines, das er mit keinem teilen müsste. Ein richtiges Glück wäre das, etwas, woran er sich seinen Lebtag erinnern würde. Und wie dieser Benno Wuttke so redete, war es Ellen, als hätte da wer ein Fenster aufgemacht. Das kann man nicht erklären; Ellen verstand es ja selbst nicht. Dieser Wuttke hatte gar nichts Wichtiges gesagt. Doch ihn zu hören war wie... – wie atmen.

Aber ich erzähle schon zu viel.

Auf jeden Fall hat ihm Ellen doch tags darauf das gebratene Hühnchen gebracht. Benno Wuttkes Gebete waren also erhört worden. Wo sie das denn herhabe, wollte er wissen. So ganz ohne Marken?! Ach war das eine Freude! Beide saßen sie wieder auf der Bank draußen, fernab fremder Blicke, und Benno Wuttke bot ihr einen Flügel an, Ellen aber verneinte. Nicht doch, das Gebratene sei nur für ihn. Er solle es sich mal schmecken lassen.

 

*

 

Die Jahre in der Christusgemeinde haben Benno Wuttke geprägt. Die Menschen dieser Freikirche fühlten sich zum besonderen „Zeugendienst“ gerufen. Darüber will ich mich gar nicht weiter auslassen. Den alten Pastor hätten Sie mal erleben sollen! Am Sonntag beklagte dieser Mann nicht nur den Verfall von Sitte und Moral, er wetterte auch noch gegen Nikotin und Naschsucht – das waren nun wirklich die dringendsten Probleme. Den Kommunismus konnte er ja nicht ständig geißeln, das hätte Ärger gegeben. Außerdem sagt Paulus, jedermann sei der Obrigkeit untertan, und die Römer waren auch nicht besser als die Roten. Hätte man früher eben nicht braun wählen sollen. – Was da für den Gottesdienst als Thema übrig blieb, war alles Böse auf der Welt, immerhin, die Katastrophen, die vielen Unwetter und nicht zu vergessen: der Irrglaube aller Orten. Dies alles sollten Zeichen sein dafür, dass schon bald sein Reich anbrechen werde, die Herrschaft Jesu Christi! Ihm wollten sie Zeugen sein.

Was diese Gemeinde aber wirklich ausmachte, war ihre Gemeinschaft, der Zusammenhalt. Wissen Sie, Menschen, die einander brauchen, gehen anders miteinander um, nicht so wie wir es heute kennen und erleben: Kapitalismus ist die Freiheit voneinander; Jesus aber ist die Freiheit füreinander.

Freilich gab es in der Gemeinde auch eine gewisse Strenge im Umgang miteinander. Der Benno Wuttke hätte mal in einer „Nietenhose“ in die Kirche kommen sollen! „Erbärrrmung!“ Das hätte einen Aufstand gegeben. In der Christusgemeinde gab man eben sehr darauf Acht, dass die Rechtschaffenheit auch in der Kleidung zum Ausdruck kam – und freilich im Lebenswandel.

 

So ging Benno Wuttke schon bald einer geregelten Arbeit nach. Sie wissen doch, Zeit ist Geld. Und jede Zeit braucht ihre Uhren. In diesem Sinne war Benno Wuttke, der sonst immer unpünktlich war, gerade noch rechtzeitig gekommen, um sich als Uhrmacher in Steinburg selbständig zu machen.

Mit der Zeit brachte er es sogar zu bescheidenem Wohlstand: Unser Benno Wuttke betrieb doch nebenbei in seinem Werkstattladen einen recht schwunghaften Handel mit Gebrauchtwaren aller Art – Gürtel, Töpfe und sogar Scheren! In diesen Jahren hat es doch nirgends Scheren zu kaufen gegeben. Im Angebot hatte er aber vor allem Uhren, gebrauchte Armbanduhren. Unmengen. Sie ahnen ja gar nicht, wo die vielen Armbanduhren herkamen!

Seinen Laden betraten ab und zu russische Offiziere, solche, die seit Kriegsende in Deutschland stationiert waren. Diese Rotarmisten hatten das Zeug immer noch bei sich rumzuliegen. Armbanduhren waren bei denen lange Zeit eine Art Währung gewesen. Ein Zahlungsmittel, dessen Wert aber verfiel. Das kann man sich heute gar nicht vorstellen: Diese Männer hatten Uhren gespart!

Der Uhrmachermeister Wuttke half ihnen nun, die alte Währung in die neue umzutauschen. Das sprach sich herum, so dass Benno Wuttke im Stab der Steinburger Garnision einen recht guten Ruf genoss. Und so manche der Offiziere brachten ihren Dank zum Ausdruck mit einer Flasche Wodka. – Wodka!!! Benno Wuttke, der doch unendlich froh war, dem Moloch Alkohol entkommen zu sein, „keein Schlubberke“ hat er mehr getrunken; ihm blieb gar nichts weiter übrig, als dieses Geschenk an die Kundschaft weiterzureichen. Mit einem kleinen Aufschlag für seine Unkosten versteht sich. 

Benno Wuttke wollte doch nicht mit leeren Händen dastehen, wenn er schon um die Hand seiner Ellen bitten würde. Deren Eltern waren, so viel ich weiß, geradezu erleichtert, ob dieser Frage.

Die Heirat der beiden soll eine großartige Feier gewesen sein. Es war die letzte Trauung in der Steinburger Christusgemeinde. Eine Taufe hat es dann noch gegeben, die vom Karlchen. Ich höre Bruder Wuttke noch sagen: „Ons Oadebare wäre joa flietig.“ Der Storch brachte das Kind schon zwei Wochen nach der Hochzeit! „Eein Wunder, nich?“

*

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